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Kapitel 5

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Pedro hing über der Reling. „Ich verstehs nicht!“ Er keuchte und übergab sich ein ums andere Mal. „Mein Leben lang war ich Fischer gewesen.“ Sein müder Blick erreichte Sue, die ihm zu Hilfe kommen wollte und ihm eine Packung Taschentücher reichte. „Ich danke dir, Kleiner Kuckuck, aber das hier solltest du nicht sehen.“ Sue lächelte mitfühlend. „Ganz ehrlich, Pedro, das Geschaukel macht mich auch ganz schön fertig. Ich verstehe dein Unwohlsein. Also nichts für ungut. Du kannst hundertmal Fischer gewesen sein, der Wellengang ist wirklich ziemlich heftig und ich glaube, soweit ich Stean und Kasai miteinander reden gehört habe, dass wir an der Insel da vorne ankern werden.“ Sie zeigte mit dem Finger auf einen kleinen Punkt auf offener See. Pedro nickte wissend und beugte sich erneut nach vor, um sich zu erleichtern. „Sagte ich dir schon, dass ich mein Leben lang Fischer war? Fischer und Boxer!“ Sue grinste. „Ja Pedro, das sagtest du bereits, aber das mit dem Boxen ist mir neu.“ „Ich hatte das Glück einige Jahre in den Staaten zu verbringen, ich verdiente mein Geld dort als Boxer. Ich wurde zwar nie Schwergewichtsweltmeister, aber ich habe mich immer gut und respektvoll geschlagen, bis an die US-Spitze. So konnte ich Natashias Studium in Boston bezahlen.“ „Deine Tochter studierte? Oh, das wusste ich nicht.“ Aus Pedros Gesicht verflog die Anspannung, „Ja, der Ältestenrat wollte es so. Natashia sollte beide Welten kennenlernen, verstehst du? Daher studierte sie Politikwissenschaft und Psychologie.“ „Hm“, machte Sue und kam ins Grübeln. Beide Welten sollte sie kennenlernen, das wäre wohl die westliche, also ihre Welt und die, in der Natashia selbst groß geworden war, das Matriarchat. „Wie hat sie sich geschlagen, im Patriarchat?“ wollte Sue nun sanft lächelnd von Pedro wissen. „Na ja, die Fülle in ihr aufrecht zu erhalten gelang ihr nicht immer so gut. Deshalb schickten sie mich, um ihr beizustehen, als Halt und Unterstützung. Aber schlussendlich hat Shia diese Prüfung wunderbar gemeistert. Sie ist für unsere Lebensweise, mit all ihrem angeeigneten westlichen Wissen, eine unschätzbare Bereicherung. Auch, wenn wir mit vielem nichts anfangen können, das wir die westliche Schizophrenie nennen. Es herrscht in westlichen Lebensweisen eine tiefe Gespaltenheit.“ Pedro wurde nachdenklich und Sue hörte seinen Ausführungen aufmerksam zu. „Viele glauben, dass unsere matriarchale Lebensweise primitiv ist, aber wir erlebten diese jahrhundertelange Prägung, die sich in patriarchalen Strukturen herausgebildet hatte, nicht. Die Zivilisation, die Kulturen und die Religionen haben die Menschen zur Masse gemacht. Abgetrennt, gespalten und widersprüchlich. Diese Spaltung ist gegen die Natur des Menschen und eben weil sie das ist, kann tief im Innersten die Einheit überleben. Daraus erwächst der gespaltene, schizophrene Mensch, der seine Seele nicht mehr hört. Er hat sie verloren, tief in sich drin. Auf diese Weise lebt er weiter, der gespaltene Mensch, aber sein Leben ist zur Hölle geworden. Verstehst du?“ Pedros Worte wurden sehr ernst. „Du, Kleiner Kuckuck, du hast diesen Wahnsinn erlebt. Und mit deinem Mann, dem Vater deines Kindes, hast du direkt miterlebt, was seine gespaltene Persönlichkeit, seine Abgetrenntheit aus ihm gemacht, wohin sie ihn getrieben hat.“ Sue wurde nachdenklich. Ja, Pedro hatte Recht. Aber gleichzeitig fragte sie sich, woher Pedro so viel über Aaron wusste. „Ich werde später Stean danach fragen, sicher hat er Pedro über mich und meine Vergangenheit mit Aaron aufgeklärt“, überlegte sie etwas aufgebracht. Sie mochte es nicht so gerne, wenn Stean ohne zu fragen Geheimnisse ihrer Vergangenheit ausplauderte. Ihr Blick richtete sich auf den Horizont aus. Weit war die Sicht, die sie einnehmen konnte, und dunkelblau und klar war der Himmel, der sich wie eine Decke auf sie niederbreitete. Nur eine dicke Unwetterwolke ließ es sich nicht mehmen, einen gewichtigen Platz mitten im Blau in Anspruch zu nehmen.

„Es muss schwer für euch beide in den Staaten gewesen sein, Pedro. Gut, dass du deine Tochter begleitet hast. Alleine in dieser Wildnis da draußen kann man gerne vergessen, wer man in Wahrheit ist. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich weiß schon lange nicht mehr wer ich wirklich bin.“ In Sues Augen blitzten leise Tränen.

Pedro ließ die Reling los, schritt auf Sue zu und umfing sie mit seinen starken Armen. Die Wellen wurden zu mittelgroßen Brechern und der Sturm, der in Windeseile aufzog, veranlasste Kasai und Stean so schnell wie möglich einen geeigneten Ankerplatz in einer geschützten Bucht zu finden.

„Wir hatten uns, das genügte bereits, um nicht ebenso in diese schreckliche Spaltung zu geraten, Kleiner Kuckuck. Denn weißt du, die westliche Welt beherbergt Massen an Menschen, die nicht sagen können wer sie sind, sie haben kein Sein. Sie sind wie ein Marktplatz voller Stimmen. Wenn sie Ja sagen wollen, ist sogleich auch das Nein da. Dieses einfache Wort Ja, aus tiefstem Herzen gesprochen, wird zur Farce, es kann nicht gesagt werden. So ist es unmöglich glücklich zu sein. Eine ganz natürliche Folge einer gespaltenen Persönlichkeit, unglücklich zu sein. Daher muss man schauen, diese Schizophrenie zu überwinden, diese gespaltene Persönlichkeit aufzugeben, das abgetrennte Denken aufzugeben. Der Mensch muss wieder lernen in seiner Mitte und kristallisiert zu leben.“ Pedros Stimme verstummte, als er Sue aus seinen Armen wieder entließ. Dann schritt er ein wenig zurück und blickte sie tief an. „Wirst du uns in Mikronesien besuchen? Denn weißt du, die Alten erwarten dich bereits mit großer Freude.“ Sues Gedankengänge flitzten blitzartig zu Kasai und Stean zurück. Sie würde sich sehr bald entscheiden müssen, denn Stean hatte vor, Pedro und Natashia nach Mikronesien zurück zu begleiten. Obwohl es ursprünglich so ausgemacht gewesen war, das sie gemeinsam nach Mikronesien reisen, so war diese Tatsache nun viel mehr ein großes Fragezeichen für Sue geworden. Sie musste sich entscheiden, was sie wollte. Und ob sie sich vorstellen konnte mit Stean zu gehen. „Wann wollt ihr denn die Heimreise antreten?“ fragte Sue etwas schüchtern. Pedros Antwort kam prompt. „Sobald du dich entschieden hast!“ Sue hatte noch eine Frage, also drückte sie etwas herum. Sie wollte nicht wie dumm dastehen, wenn sie danach fragte, also nahm sie sich ein Herz und bat Pedro um Aufklärung. „Pedro“, begann Sue. Ihre Stimme zitterte. „Was hast du am Herzen? Kleiner Kuckuck.“ Zärtlich nahm er ihre Hand in die seine. „Dir machen die Alten Sorgen, nicht wahr? Woher wir so viel von dir wissen, warum Natashia dich so verwirrt? Ja, ich sehe es in deinen Augen, dass du viele Fragen hast.“ Das hatte gesessen. Sue nickte stumm. „Ja, Pedro, woher wisst ihr das alles? Hat euch Stean von alledem erzählt?“ Pedros Lächeln verhieß ihr eine tiefe Vertrautheit, ein Wissen, das scheinbar noch nicht ganz verloren gegangen war in der Welt. „Ich könnte dir die Antworten auf deine Fragen geben, Kleiner Kuckuck, aber dann wären es nur Worte, willst du wahrhaft verstehen, wirst du nicht umhin kommen, deine Antworten selbst über das reale Erleben zu finden. Aber, um dich ein wenig zu beruhigen, unsere Älteste weiß schon lange von dir, sie hat das Ahnenwissen, verstehst du? Lange bevor Stean und ich uns kennengelernt haben, wusste sie von dir, von deiner Geburt, deinem schweren Lebenskampf, den du immer wieder gewinnen konntest, aufgrund deiner Fähigkeiten, die dir noch zu unbewusst sind. Und was Natashia und dich angeht, nun ja.“ Er räusperte sich. „Es gibt ein Band zwischen euch, immerwährend, nie sterbend, es zieht euch magisch zueinander hin, aber es kann euch auch voneinander abstoßen. Ihr seit Magnete, die einander bedingen, um voneinander zu lernen. Mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen. Zudem darf ich es auch nicht. Die Göttin in dir wird sich richtig entscheiden.“

Natashia kam an Deck und lächelte smart. „Kommt ihr beiden? Die Skipper wollen die Lage besprechen.“ Dabei zwinkerte sie Sue aufmunternd zu, die scheinbar ein wenig an Stabilität verloren hatte, weil sie sich schwankend der Reling zuwandte und diese mit ihren Händen umklammerte. „Danke, Pedro“, flüsterte sie mit gebeugtem Kopf. „Danke für diese Erklärung.“ Pedro nickte ihr zustimmend zu und gemeinsam folgten sie Natashia unter Deck.

„Es ist so“, Kasai erhob seine Stimme als erstes. „Es gibt Sturmwarnung. Wir könnten hier in der Bucht ankern, müssten aber alle am Boot übernachten. Oder aber, wir schippern etwa vier Kilometer der Küste entlang, bis wir eines meiner Anwesen auf Sky Island erreichen. Wenn wir Glück haben, erreichen wir es noch, bevor uns der Sturm in seiner vollen Größe erwischt.“ „Die Jacht ist zwar ausgerichtet für raue See“, erklärte Stean weiter, „aber ich befürchte, dass wir alle ein derartiges Unwetter nicht ganz ohne Blessuren überstehen werden. Zudem ...“ Er lockte Lee auf seinem Arm. „Zudem, wir haben ja auch noch unseren Spitzenkapitän hier an Bord, und zu unserer aller Sicherheit würde ich vorschlagen, wir geben Gas und schauen, dass wir schleunigst Kasais Anwesen erreichen. Was meint ihr?“

Geschlossen entschieden sie sich für ein schnelles Vorwärtskommen und einer Übernachtung in Kasais Haus. „Sorry, Sue.“ Kasai lächelte müde. „Ich wünschte, du könntest diese Bootstour auf andere Weise genießen, aber für Morgen sieht es mit dem Wetter besser aus, die Rückfahrt wird weniger ...“ Er überlegte und zog seine Brauen hoch, „übel.“

Sue empfand die bisherige Reise als überaus anregend, nicht zuletzt, weil auch Natashia mit an Bord war. Für sie war es ein Abenteuer, dies alles erleben zu dürfen, und zudem freute sie sich, dank des aufziehenden Sturms, noch etwas mehr Zeit mit Natashia verbringen zu können. „Kein Sorry, Kasai“, beschwichtigte Sue und legte ihre Hand vertraut auf Kasais Arm. „Du hast mir ein Abenteuer versprochen und Wort gehalten. Mir fehlt es hier an nichts. Und ihr zwei, Stean und du, nein, ihr drei“, verbesserte sie sich und gluckste. „Mit Lee an eurer Seite kommen wir sicher gut und wohlbehalten auf Sky Island an. Nicht wahr?“

Gerade noch rechtzeitig, kurz vor Sky Island, traf sie der Sturm mit voller Wucht. Alle Schotten waren dicht. Kasai navigierte die Jacht gekonnt an den Anleger und vertaute diese im Teamwork gemeinsam mit Pedro und Stean. Die Sonne war bereits untergegangen. Üppige Vegetation breitete sich vor ihnen aus, als sie den Bootssteg überquerten. Palmen, Farne und Gräser bogen sich im Sturm, während der Wind das Meer hinter ihnen wild aufpeitschte. Klatschnass, aber sicher, kamen sie bei Kasais Haus an, das unweit des Anlegers auf einer leichten Anhöhe erbaut war. Ein wilder Garten umfasste das Anwesen, das langsam im Dunkel der Nacht verschwand. Das Innere des Hauses war zweckmäßig eingerichtet. Es beherbergte drei Schlafzimmer und ein Bad mit Dusche und Toilette. Die Zimmer wurden sogleich an Sue und Lee, Natashia und Stean aufgeteilt. Kasai und Pedro waren es gewohnt am Boden zu schlafen. Der Sturm rüttelte an den Fensterscheiben und hie und da hörte man ein lautes Ächzen und Stöhnen, das aus dem umliegenden Regenwald kam. Sue hüllte Lee in frische trockene Kleidung und sich selbst in eine Decke ein, nachdem sie sich ihrer nassen Kleidung entledigt und duschen gegangen war. Sie war unheimlich müde. Der Tag auf offener See war aufregend gewesen. Mit Lee auf dem Arm kam sie die Treppe nach unten und hörte Natashia mit Stean im Wohnraum sprechen. Kurz blieb sie stehen. Sie wollte nicht lauschen, aber ihr war, als ginge es in diesem Gespräch um sie selbst.

„Du hast also noch nicht mit ihr geschlafen?“ „Nein, leider.“ Sie hörte Steans beruhigende und tiefe männliche Stimme. „Wir schlafen seit jeher in getrennten Zimmern, so auch heute. Ich werde sie zu nichts drängen, auch wenn ich sie für mein Leben gerne endlich spüren würde.“ „Gut! Das beweist deine Anständigkeit und dein wahres Interesse an ihr. Es finden sich nur wenige westliche Männer, die Sues Reinheit bewahren wollen, und dir ist bewusst, welche Verantwortung ihr Männer trägt, wenn ihr um eine Frau werbt.“ „Ja“, sagte Stean kleinlaut. „Auch wir müssen ganze Männer sein, keine kleinen Jungs, die mit ihrer Gier eine Frau kontrollieren und besitzen wollen, den Schoß der Frau beflecken und verunreinigen. So zumindest hab ich es verstanden.“ „Genau, Stean“, kam es zufrieden zurück. „Das hast du ganz richtig verstanden. Sie ist ein Gefäß, aus dem stets genommen wurde. Was in ihr zurückblieb von all dem Wahnsinn, den sie erlitten hat, verbrauchte bis heute ihre ganze Kraft, um diese negativen Energien wieder aus sich zu lösen. Sue transformiert permanent unreine Energien und weiß es nicht mal, dass sie dadurch ganze Ahnenreihen von ihrer Last befreit.“ „Ich weiß, das habt ihr mir schon mal erklärt. Nicht ich wähle, sondern sie muss wählen. Sie soll wieder überlaufen, gefüllt sein mit sich, und nur ein Mensch, der überläuft mit sich, kann wahrhaftigen Austausch von Liebe durchtränkter Fülle garantieren. So und nicht anders sollte Sex geschehen. Das habe ich verstanden. Aber ich bin soweit, Shia.“ „Das mag schon sein, Stean. Auch Kasai wäre soweit. Aber sie muss sich erst ganz wiederfinden. Sie ist verlorengegangen im patriarchalen Vergehen an ihr. Das weißt du. Wie soll sie sich im Mann finden, wenn sie noch nicht mal weiß, wer sie als Frau ist?“ „Wirst du es ihr zeigen?“

Steans Timbre in der Stimme wurde tiefer und in seiner Frage klang tiefes Verständnis und Zärtlichkeit. „Ich meine, wirst du sie mit deiner Fülle und Unversehrtheit auffüllen?“ Sue glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, worüber die beiden sprachen. Vorsichtig näherte sie sich dem Wohnzimmer, in dem die beiden auf dem Boden einander gegenüber hockten. „Ich kann sie nicht mit mir auffüllen, Stean, das weißt du. Aber ich kann ihr zeigen, wie es sich anfühlt, Frau zu sein, ganz und nicht nur halb und zerstört.“

„Wie wird sie sich wohl entscheiden, Shia, was meinst du?“

„Nun, das obliegt ganz allein Sue selbst, das können wir beide nicht beeinflussen. Was wir aber tun können ist, sie darin zu unterstützen, sich zu erkennen als Frau, als Göttin, die sie und alle Frauen dieser Welt sind.“ „Ich weiß“, antwortete Stean ruhig. „Ihr seht das so, mit der Göttin.“ „Wir sehen es nicht nur so, sondern wir leben auch danach. Auch die Männer unseres Volkes tun dies, Stean, vergiss das nie, wie es sich anfühlt, auch als Mann in einer solchen Unversehrtheit leben zu dürfen, welche Freiheit es in sich birgt, zu sein wer man in Wahrheit wirklich ist und immer schon war.“

„Oh, hallo Sue.“ Stean erhob sich grinsend vom Fußboden und kam ihr langsam entgegen. „Na, hast du dich etwas frisch machen können? Dich und den kleinen Racker hier?“ Stean stupste Lee sanft in den Bauch und nahm ihn dann auf seinen Arm, um ihn so richtig zu knuddeln, bis er zu lachen begann. Sues Blick durchdrang wissend den von Natashia. „Wir haben gerade von dir gesprochen, Kleiner Kuckuck.“ „Ja, das habe ich bemerkt. Ihr beiden schmiedet hier ein Komplott gegen mich, wenn ich mich recht entsinne!“ In Sues Augen funkelte es wild auf und in ihrer Stimme lag ein Hauch Ironie. „Ach Sue.“ Natashia lächelte und ihr Lächeln entwaffnete Sue auf der Stelle. „Kein Komplott, und schon gar nicht gegen dich. Und wenn schon ein Komplott, dann mit dir!“ Oh Mann, die Frau konnte einem wirklich zusetzen, wie neckisch sie soeben antwortete, und diese Verführungskunst ihrer hauchenden Worte.

„Es ist wohl besser, wenn wir beide ins Bett gehen. Ähm, Lee und ich, meine ich. Es ist spät und wir sind beide schon sehr müde. Ich wollte mich eigentlich nur von euch für die Nacht verabschieden.“ Natashia erhob sich und nahm Sue in den Arm. „Natürlich“, hauchte sie in Sues Ohr. „Ich wünsche euch eine wundervolle Nacht, wir sehen uns!“ „Ja“, hauchte Sue zurück. Ihr Herz raste. Dann fing sie noch einmal Natashias strahlendes Lächeln ein, verabschiedete sich von Stean mit einem Kuss auf die Backe, nahm Lee mit sich und wünschte auch Pedro und Kasai, die soeben die Stufen herab schritten, eine gute Nacht.

In ihrem Zimmer angekommen musste Sue erstmals tief durchatmen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Was geschah hier und was sollte all das Gerede von ihr, ihrer Geschichte, die Sache mit den Ahnen und ihrer scheinbar verloren gegangenen Weiblichkeit. Im Matriarchat schien man wirklich mächtig viel auf diese Unversehrtheit des Menschen zu achten. Und das war ja auch wirklich ein wundervoller Gedanke. Aber war er auch real umsetzbar? Wohl nicht. Kein Mensch, egal wo auch immer er lebte, unter welchen Umständen er aufwuchs, konnte unversehrt bleiben. Immer und überall gab es Konditionierungen, alles hatte ein System inne. Ob patriarchal oder matriarchal geführt. System war System. Und dieses war immer schon manipulativ. Freiheit. Worin? Sie hatten schon recht die beiden, wenn sie meinten, sie wäre nicht ganz, noch zerstört. Sue wusste, dass sie vor allem in ihrer sexuellen Orientierung durcheinander war. Das war schon immer so gewesen. Ja, sie hatte sich, als sie noch sehr jung gewesen war, höllisch in eine viel ältere Frau verliebt, aber dennoch hatte sie sich immer für den Mann entschieden, aus moralischen und aus Sicherheitsgründen, wie sie meinte. Aber Sicherheit konnte sie leider gerade eben bei den Männern niemals finden, ganz im Gegenteil, sie waren ihr zu oft gefährlich nahe gekommen.

Langsam schritt sie auf das große Doppelbett zu und bereitete mit einer Hand voll Decken am Fußboden ein kuscheliges Nest für Lee. Es wäre zu gefährlich den Kleinen ohne Schutzgitter im Bett schlafen zu lassen. Dazu bewegte er sich viel zu sehr. Er könnte fallen und sich schlimm verletzen. Das musste verhindert werden. Einige Male noch wälzte sie sich mal rechts, mal links, bis sie endlich eingeschlafen war.

Die Ahnenfrau

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