Читать книгу Die verhängnisvolle Phryne - F. C. Phillips - Страница 3

Erstes Kapitel.

Оглавление

Das Haus stand zwar in einem vornehmen Stadtviertel von Paris, machte aber selbst einen sehr wenig vornehmen Eindruck. Der Baumeister hatte seiner Phantasie in einem riesenhaften, reichgegliederten Einfahrtsthor freien Spielraum gelassen. Im übrigen war das Haus gross, hässlich und verwickelt genug, um das eines Herzogs oder eines eben mit einem Orden geschmückten Fabrikanten sein zu können. Aber der Künstler schien mit dieser stolzen Einfahrt, dieser Himmelspforte, seine Schaffenskraft erschöpft zu haben, und war zum Alltäglichen herabgesunken. Der Rest des Hauses war nichts mehr und nichts weniger, als die Verkörperung des Ideals der Verehrer des Nützlichkeitsprinzips, alles entsprach diesem Prinzip, mit Ausnahme des grossen Ateliers, welches der Eigentümer wohl sarkastisch „das Narren-Paradies“ nannte. Das war eine Härte gegen den Narren, welcher es mit seinem sauer verdienten Geld erbaut und Doktor Tholozan, dem gegenwärtigen Besitzer, seinem Bruder und einzigen lebenden Verwandten, hinterlassen hatte.

Doktor Tholozan war genötigt, in dem Haus zu wohnen, denn das war eine der Bedingungen, an welche das Vermächtnis geknüpft war, und der Doktor hatte einen Mieter in der Person des jungen Mr. Leigh, eines vielversprechenden Malers der romantischen Schule angenommen. Der junge Leigh bildete einen grossen Gegensatz zu den meisten seiner Kunstgenossen. Aehnlich wie vor einiger Zeit die ästhetischen Leute durch ihre auffallende und phantastische Kleidung unsre Aufmerksamkeit auf sich zogen, versucht neuerdings auch die romantische Schule der Hauptstadt der Welt ihre Gesinnungen durch ihren Anzug zum Ausdruck zu bringen. Der Schriftsteller, dessen Werke kein Mensch liest, trägt sein Haar ungeheuer lang oder er lässt es so kurz schneiden, dass er wie ein durchgegangener Tollhäusler aussieht. Ein schwarzer oder brauner Samtrock ist bei diesen Leuten de rigueur, und ihre Hüte werden auf besondere Bestellung gefertigt. Sonderbar, dass die Schüler so von ihrem Meister, einem kleinen, starken, alten Herrn mit einer Brille, abweichen.

Die Maler gehen noch einen Schritt weiter. Auch sie haben eine entschiedene Vorliebe für Samtröcke und finden, wie eben entlassene Sträflinge, eine ganz besondre Freude daran, ihr Haar lang wachsen zu lassen, so dass es, wie die Mähne eines Löwen, in wirrer Masse über ihre Schultern herabhängt. Einige kräuseln und salben es, während andre in Bezug auf die Länge ihres Bartes sogar Aaron in den Schatten stellen. Manche staffieren sich als Van Dycks des neunzehnten Jahrhunderts oder moderne Raphaels heraus, indes die, welche von der Natur eine gedrungene Gestalt empfangen haben, sich Rubens zum Muster nehmen. Die Mehrzahl derjenigen Künstler, welche hauptsächlich Scenen aus dem Soldatenleben oder Schlachten und Gefechte zum Vorwurf ihrer Bilder wählen, schwelgen in ungeheuren Schnurrbärten oder gewichsten Knebelbärten, und alle sind mehr in den Cafés und auf den Boulevards zu finden, als vor ihren Staffeleien oder Modellierstühlen.

Der junge Leigh that nichts von alledem, zum Teil vielleicht weil er ein Engländer war, jedenfalls war er stets nett und sauber, und er arbeitete so angestrengt, dass ihm keine Zeit übrig blieb, Studien über die vorteilhafteste Ausschmückung seiner Person zu machen. Er kleidete sich also lediglich sauber, nahm jeden Morgen sein Bad und zeichnete sich durch keine Absonderlichkeiten aus. Wenn man ihn ansah, machte er den Eindruck eines hübschen jungen Gesellen, der sich gut anzuziehen verstand und sich des Lebens freute. Er war nicht grösser als fünf Fuss zehn Zoll, also keineswegs eine Heldengestalt, aber er war fest wie Stahl, hatte ein offnes, ehrliches Auge und eine klare, reine Hautfarbe, trotzdem er täglich wohlgemessene acht Stunden in dem grossen Atelier arbeitete, welches einst das Paradies des verstorbenen Narren, Doktor Tholozans Bruder, gewesen war.

Obgleich sechsundzwanzig Jahre alt, hatte der junge Leigh noch nie geliebt. Auch dazu hatte er keine Zeit gehabt, wenn es ihm auch an Gelegenheit nicht gefehlt hatte. Seine Modelle hatten ihn oft genug, in süsse Träumereien verloren, angesehen, allein vergeblich; einige der gefühlvollern seiner Gönnerinnen, die ihm gesessen hatten, — denn Leigh hatte seine ersten Erfolge als Porträtmaler zu verzeichnen gehabt — hatten ihn angeseufzt und ihm verliebt zugelächelt und hatten ihn sogar mit ziemlich unverhüllten Absichten auf sein Herz zum Diner eingeladen, aber die Seufzer waren ebenso verschwendet gewesen, wie das Lächeln, und die Einladungen hatte Leigh klugerweise abgelehnt. Von der Porträtmalerei hatte sich Leigh ganz allmählich mehr romantischen und klassischen Vorwürfen zugewandt. Dabei waren seine Bilder auch immer grösser geworden, und das war es hauptsächlich, was ihn veranlasst hatte, Doktor Tholozans Mieter und Besitzer des geräumigen Ateliers in dem alltäglichen Haus mit der grossartigen Einfahrt zu werden.

Des Doktors verstorbener Bruder hatte buchstäblich Meilen von Leinwand bemalt. Die Hälfte der modernen Kirchen Frankreichs und die meisten öffentlichen Gebäude besassen eins seiner riesigen Meisterwerke. Er hatte ein sehr ansehnliches Einkommen gehabt, und da er für sich fast nichts verbraucht hatte, so war er im stande gewesen, die Ersparnisse seines Lebens auf die Erbauung des grossen Hauses mit dem grossen Atelier zu verwenden.

Als Doktor Tholozan seines Bruders Besitztum erbte, gab er sich die grösste Mühe, einen Mieter dafür zu finden. Als Atelier war es vollkommen, aber die zahlreichen Maler, welche es infolge der vom Doktor erlassenen Anzeige besichtigten, wurden von der ungeheuren Grösse erschreckt. Allein just diese war es, welche den jungen Leigh veranlasste, sofort einen Mietsvertrag mit dem Doktor abzuschliessen; es war gerade das, was er suchte. Natürlich empfing das Atelier sein Licht durch ein entsprechend grosses Fenster. An einem Ende führte eine, durch einen grossen goldgestickten Vorhang von rosa Samt verdeckte Thüre in ein halbrundes, mit tropischen Pflanzen gefülltes Gewächshaus. Dieser Thür gegenüber, am andern Ende des Ateliers, befand sich in einer tiefen Nische ein ungeheurer Kamin, der aber mehr als zur Erwärmung zum Schmuck und dazu diente, durch sein helles Feuer den mächtigen Raum behaglich zu machen, denn die wirkliche Heizung wurde durch geschickt verborgene Heisswasserröhren bewirkt. Ausser dem Atelier gehörten noch ein Vorzimmer und ein mit spartanischer Einfachheit ausgestattetes Schlafzimmer zur Wohnung. Leigh und der Doktor verständigten sich rasch und ohne Schwierigkeit. Doktor Tholozan, gleichfalls unverheiratet, war Lehrer an der Ecole de Médecine. Er hatte ausserdem eine grosse Praxis und eine einträgliche Stelle an einem Hospital, und da er sehr viel Neigung für wissenschaftliche Streitfragen hatte, so war er auch ein fleissiger Mitarbeiter verschiedener medicinischer Zeitschriften. Die beiden Männer fühlten sich gegenseitig zu einander hingezogen. Dem jungen Künstler war nach seiner langen Tagesarbeit eine Plauderei oder ein Spiel Ecarté oder Trictrac mit seinem Hauswirt eine angenehme Erholung, und dem Doktor machte es Freude, die alte Gewohnheit aus der Zeit, wo sein Bruder noch lebte, — die gemütliche Plauderstunde am Kamin — wieder aufzunehmen.

Vier Jahre lang hatten Leigh und der Doktor das grosse Haus zusammen bewohnt. Der Bequemlichkeit halber nahmen sie ihr Diner gemeinsam ein und zogen sich nachher gewöhnlich in das Atelier zurück. Auch heute war es so gewesen. Sie hatten ihre Partie Trictrac beendet und sassen nun in ihren bequemen Armstühlen zu beiden Seiten des Feuers.

„Ich werde heute einundsechzig,“ begann der Doktor mit einem Seufzer. „Ich beneide Sie, mein Freund. Die Welt steht Ihnen noch offen, wie einstmals mir. Der Ball liegt vor Ihren Füssen, Leigh, Sie brauchen weiter nichts zu thun, als ihn fortzustossen.“

„Sie können sich doch auch nicht beklagen, Herr Doktor. Jedermann hat von Doktor Tholozan gehört, alle Welt spricht von ihm, während ich ausserhalb des kleinen Kreises von Künstlern, Kunstfreunden, Schriftstellern und Kunsthändlern unbekannt bin.“

„Aber Sie haben Ihre Freunde, Leigh.“

„Nun, das ist auch nur so-so. Ich habe eine grosse Menge von Bekannten, wenn Sie die meine Freunde nennen —“

„Und Bewunderer, Leigh, — Sie Glücklicher — Bewunderer beiderlei Geschlechts.“

Ein ehrliches, tiefes Erröten erschien im Angesicht des jungen Mannes.

„Weit gefehlt, Herr Doktor. Es gibt allerdings eine grosse Anzahl fein gekleideter Leute, welche nachmittags nichts bessres anzufangen wissen, als hierherzukommen und dem lieben Gott und mir die Zeit zu stehlen. Sie kommen aber nur, um die Bilder anzusehen.“

„Und den Maler, lieber Freund. Der Maler ist durchaus nicht Nebensache.“

„O ja, natürlich. Ich gehöre mit zum Schauspiel, wie die Affen im Jardin des Plantes.“

Der Doktor lachte. „Und ihr Interesse an Ihnen, mein junger Freund, bethätigen sie dadurch, dass sie Ihnen getrüffelte Puter, Blumen und solche Kleinigkeiten, wie diese hier schicken,“ und dabei klopfte der Doktor lachend auf einen neben ihm stehenden prachtvollen Bouletisch. „Ihre Freunde, Leigh, müssen aufrichtige Bewunderung für Sie als Künstler, wie als Mensch empfinden.“ Die schmalen Kinnbacken des Doktors öffneten sich einem hyänenartigen Lächeln und er blies eine grosse Rauchwolke in die Luft.

Wieder stieg das beredte Erröten in des jungen Engländers Wangen.

„Bah, Firlefanz, an dem es Ihnen gefällt Ihren Witz zu üben, lieber Doktor; das sind nur die Nüsse, womit sie den Affen füttern.“

„Eine kostspielige Nuss, diese hier, die Madame Pichon ihrem Lieblingsaffen zugeworfen hat.“ Und wieder trommelte der Doktor auf dem Tisch und grinste wie ein Satan. „Es wäre übrigens das dümmste nicht, was Sie thun könnten, Leigh, Madame Pichon ist noch ein sehr stattliches Tierchen und reich à faire peur. Ja, ja,“ fuhr er fort, während er sich die Hände rieb und seine Fingergelenke auszog, bis sie knackten, „es wäre wirklich noch lange nicht das dümmste, mein junger Freund. Der Reichtum der Witwe ist über allen Zweifel erhaben; der selige Pichon ist als Millionär gestorben.“

„Lieber will ich Steine klopfen, als mich an ein Weib verkaufen, das mir gleichgültig ist. Steineklopfen ist wenigstens eine ehrliche Beschäftigung, Doktor, und es liegt eine eigenartige, wenn auch nicht gerade sehr erhabene Poesie darin. Ein Künstler, lieber Freund, bedarf keiner Frau; seine Kunst ist schon an sich eine sehr anspruchsvolle Herrin, und Sie selbst, Doktor, sind ja ganz gut ohne Frau fertig geworden.“

„Wenn Sie erst einundsechzig sind, wie ich jetzt, lieber Leigh, dann werden Sie wohl auch ernstlich ans Heiraten zu denken anfangen. Ich stimme Bacon zu. Ich brauche eine Haushälterin und werde sehr bald auch eine Pflegerin nötig haben. Warum soll ich nicht beides vereinigen und die Einrichtung durch das heilige Band der Ehe weihen lassen?“

Leigh zuckte die Achseln. Er meinte, der Doktor sähe wie ein rechter Kobold aus, als er diesen wenig romantischen Gedanken Worte lieh.

„Ganz recht, warum nicht?“ erwiderte er. „Es ist vielleicht etwas prosaisch, aber wenn das Ihrem Ideal einer Frau entspricht, warum nicht?“

„Sie meinen also, dass es in meinem Alter ein ganz verständiger Schritt wäre?“

„Sie sind viel zu weise, Herr Doktor, als dass ein so unerfahrener Mensch wie ich auch nur andeuten dürfte, ein von Ihnen in Erwägung gezogener Schritt könne unverständig sein.“

„Sie geben mir verzuckerte Pillen zu schlucken, mein Freund. Madame Pichon und die übrigen machen einen vollkommenen Mann von Welt aus Ihnen. Aber wenn ich mich vierzig Jahre nach einem Ideal umgeschaut habe, warum sollte ich es nicht endlich in einer Frau von angenehmem Aeussern und, sagen wir einmal, fünfunddreissig Jahren gefunden haben, die für meine Bedürfnisse sorgen, meine kleinen Eigenheiten liebevoll übersehen und bei den grässlich langweiligen Diners, die ich einmal wöchentlich zu geben gewohnt bin, meinen Gästen die Ehren des Hauses erweisen wird — in einer Dame, die sich damit begnügt, mir meine letzten Lebensjahre freundlicher zu gestalten und mich dann durch ihr Ideal zu ersetzen, das sie vielleicht schon im Auge hat.“

„Jedermann nach seinem Geschmack, Doktor. Sie nennen jedenfalls die Dinge bei ihrem rechten Namen.“

„Vielleicht hat in meinem Falle das Alter Anspruchslosigkeit mit sich gebracht, Leigh. Ihre Anschauung über die Ehe ist ohne Zweifel eine idealere. Mein lieber Abelard, beschreiben Sie mir die Heloïse Ihrer Träume. Aber tönen Sie ihre Schilderung etwas ab, legen Sie Ihrer Phantasie Zügel an und nehmen Sie Rücksicht auf meine beschränktere und mehr prosaische Natur.“ Der Doktor zündete sich eine frische Cigarre an, und der junge Mann erhob sich und begann mit unruhigen Schritten auf dem dicken türkischen Teppich auf und ab zu gehen.

„Sie ist bis jetzt nur ein Bild meiner Träume. Ich sehe sie nur unklar, immer in andrer Gestalt, wie die Bilder eines Kaleidoskops, und wenn ich versuche, sie auf die Leinwand zu bannen, so befriedigt mich mein Werk niemals. Die Gemälde, die von meiner Staffelei kommen, sind schliesslich nur Träume von schönen Weibern, unbestimmte Erinnerungen, Unmöglichkeiten und Uebertreibungen, — Ungeheuer, die ich aus einzelnen Stücken zusammengesetzt habe, künstliche Geschöpfe, die mir widerwärtig sind, sobald ich sie vollendet habe. Ich betrachte sie mit einer Art von Entsetzen. Sehen Sie sich dieses letzte an,“ sagte er mit einem geringschätzigen Lachen. „Ich habe es für viertausend Franken verkauft, das ist aber auch das beste, was ich darüber sagen kann. Israels, der Kunsthändler, wird es zum doppelten Preis verkaufen. Und wenn ich es anschaue, könnte ich mich hassen. Was ist es anders, als eine halb bekleidete, einfältig lächelnde Unmöglichkeit, eine erbärmliche Täuschung? Die untern Gliedmassen sind die der Julie Pasdeloup, die Arme sind für fünf Franken pro Stunde von einem hässlichen bretonischen Mädchen mit roten Haaren gekauft, und das Gesicht ist eine geschickte Zusammensetzung —“

„Während das Haar eine wirklich herrliche Wiedergabe von Madame Pichons chevelure ist, he, mein junger Freund? Madame Pichon muss ein ganz ausserordentliches Interesse für die Kunst haben und ganz besonders für die Werke eines gewissen Mr. Leigh, dass sie sich hat bereit finden lassen, ihre wunderbaren Flechten zu lösen. Sie hat gewiss aus Liebe Modell gesessen.“

„Oder aus Eitelkeit, wie Sie es nennen wollen, Doktor,“ antwortete der Maler lachend. „Das Ungeheuer ist jedenfalls fertig,“ fuhr er fort. „Es ist eine Abart der siamesischen Zwillinge, und morgen wird Israels kommen, es mit vergnügtem Grinsen betrachten, sich die Hände reiben und ein neues, ähnliches bestellen, und ich werde die Geschichte von den Ziegelsteinen ohne Stroh wiederholen. Es wird eine frische Leinwand aufgespannt und ein neues Ungetüm für so und so viel pro Quadratfuss produziert.“

„Und Mr. Leigh ist seinem Ideal nicht um einen Schritt näher gekommen, he? Sie sollten hinaus in die Welt gehen, mein Freund. Die Gesellschaft würde Sie mit offenen Armen aufnehmen. Dort würden Sie Gelegenheit finden, das Wesen und die Gewohnheiten der Jungen, der Geistreichen und der Unschuldigen des andern Geschlechts zu beobachten; weshalb wollen Sie nicht dort Ihr Ideal suchen?“ und dabei kicherte der Doktor. „Oder haben die Stunden, die Sie in der Gesellschaft der Mademoiselle Pasdeloup und der jungen Dame mit den schönen Armen und dem roten Haar verlebt haben, Sie sür die herkömmliche ingénue des täglichen Lebens verdorben?“

„Sie sind ungerecht, alter Freund. Die Pasdeloup ist für mich weiter nichts, als ein Paar wohlgeformter Beine; gesellschaftlich interessiert sie mich ebensowenig, als die Scheusslichkeiten, die Sie mir neulich im Museum Orfila in Spiritus gezeigt haben. Sie sind zwar menschlich, aber, wie die Pasdeloup, sind es nur anatomische Präparate. — Könnte ich es nur finden, dieses Ideal, von dem wir alle träumen und nach dem wir ausschauen, wie die alten Spanier, die immer getäuscht, und doch immer voll Hoffnung, mit unermüdlicher Energie nach dem erträumten El Dorado suchten, — wenn ich es nur finden könnte. Ich würde es sofort für das grosse Bild verwenden, das ich im diesjährigen ‚Salon‘ auszustellen beabsichtige. Der Entwurf ist heute fertig geworden.“

„Und was für einen Gegenstand wird dies Bild behandeln, mein junger Freund? Sie haben mir Ihren Vorwurf noch nicht genannt.“

„O, der Gegenstand ist schon ziemlich abgenutzt: ‚Phryne, vor ihren Richtern.‘ Allein es soll ein Protest gegen die Scheusslichkeiten sein, die heutzutage Erfolg haben. Die Realisten verderben den Geschmack des neunzehnten Jahrhunderts. Ist es nicht eine himmelschreiende Schande,“ rief der junge Mann entrüstet und mit blitzenden Augen, „dass die Menschen fünf Reihen tief und ausser sich vor Entzücken vor ‚la Dame au Perroquet‘ stehen, einer schamlosen Nacktheit, die sich auf einem Haufen Kissen rekelt, der Triumph des Rohen, Sinnlichen und Realen? In meiner Phryne wird nichts Rohes sein, und doch soll sie schön sein, ihre Gestalt soll den Gegenstand veredeln, ihn aus dem Schmutz des Alltäglichen zum Erhabenen und Poetischen erheben.“

„Ah, auch mein armer Bruder hat stets nach dem Erhabenen gestrebt. Er hat es nie erreicht, aber das Riesenhafte, das ist ihm gelungen, dem armen Kerl! Manchmal habe ich die Besorgnis, dass ihr Künstler beim Suchen nach dem Ideal nur das Lächerliche entdeckt.“

Eine Pause trat ein, die endlich von Doktor Tholozan unterbrochen wurde.

„Sie waren in den letzten Jahren hier gut aufgehoben, denke ich, Leigh?“

Der Maler sah ihn fragend an. „Gewiss, Doktor, weshalb fragen Sie?“

„Weil ich im Begriff stehe, einen Schritt zu thun, der für uns beide Unbequemlichkeiten im Gefolge haben kann, mein junger Freund. Es darf Sie nicht überraschen, und ich hoffe, es wird Ihnen auch nicht unangenehm sein, vor allem aber machen Sie keine Einwendungen: binnen einer Woche werde ich mich wahrscheinlich verheiraten.“

„Aha! Die Dame von angenehmem Aeussern und fünfunddreissig Jahren, von der Sie vorhin gesprochen haben, Doktor; die freundliche Frau, die Ihre letzten Lebensjahre verschönen soll?“

„Es wäre vielleicht besser, wenn es so wäre. Mein Antrag ist übrigens noch nicht angenommen. Es ist immerhin möglich, dass die Dame Armut in Ehren und die Möglichkeiten, welche die Zukunft hübschen Mädchen immer offen hält, vorzieht.“

„Sie ist also hübsch?“

„Mehr als das, sie ist, was Sie, wie ich glaube, schön nennen würden. Hier, sehen Sie, ob sie Ihrem Ideal nahe kommt, Leigh,“ und Doktor Tholozan überreichte seinem Freunde eine Photographie.

Als der Maler das Bild erblickte, fuhr er erstaunt empor.

„Hat es Ihren Beifall, junger Freund? Billigen Sie meine Wahl?“

„Sie ist reizend, Doktor.“

„Nun, Leigh, Sie werden wahrscheinlich Gelegenheit haben, ihr selbst das sagen zu können,“ und dabei stiess der Heiratskandidat ein leises, spöttisches, sardonisches Lachen aus.

Der junge Mann antwortete nicht, er studierte das Bild noch immer mit dem gespanntesten Interesse, und je länger er es betrachtete, um so mehr wuchs sein Erstaunen.

„Sie haben mich noch nicht beglückwünscht, Leigh. O, entschuldigen Sie sich nicht,“ sagte der Doktor, als der Maler anfing eine Entschuldigung zu stammeln. „Gestehen Sie es nur offen ein, Sie sind überrascht über mein Glück, nicht wahr?“

„Ich bin versunken in Bewunderung der Schönheit der Dame, Doktor.“

„Nehmen Sie sich Zeit und behalten Sie die Photographie; sie kann Ihnen vielleicht von künstlerischem Standpunkt aus nützlich werden,“ fügte der abscheuliche Mensch hinzu.

Leigh starrte den Doktor ungläubig an und murmelte einige unverständliche Dankesworte. Dann wurden seine Augen wieder unwiderstehlich, wie mit magnetischer Kraft, auf die Photographie gezogen.

„Sie sind der Ansicht, dass ich mich zum Narren mache?“ fuhr der ältere Mann fort. „Hören Sie zu, ich will Ihnen die Geschichte der Dame erzählen. Ich habe das Original dieses Bildes von ihrer Kindheit an erziehen lassen. Sie ist jetzt erwachsen, und morgen werde ich ihr einen einfachen Vorschlag machen. Wenn sie will, bin ich bereit, sie zu heiraten; gefällt ihr das nicht, so kann sie als Lehrerin an der Schule, en der sie erzogen worden ist, verbleiben, und ich werde ihren magern Gehalt aus eignen Mitteln verbessern. Das Kind hat keine wirklichen Ansprüche an mich, und ich wäre der letzte, ein falsches Gefühl der Dankbarkeit auszubeuten, um mich ihr aufzudrängen. Sie wird schwerlich ihr Ideal in mir finden, Leigh, aber trotzdem wird sie einwilligen, meine Frau zu werden. Werft einem hungrigen Hund einen Knochen hin — das Vieh wird sofort danach schnappen. Ich bin der Knochen — ein trockner, hässlicher Knochen.“ Der Doktor blickte ins Leere und wartete auf eine Antwort seines Gefährten.

Der Maler schwieg, er schien noch immer in Betrachtung des Bildes versunken. Weiche, traurige, träumerische Augen blickten ihn daraus an, als ob sie bei ihm Teilnahme suchen wollten. Die Stellung war natürlich und in ihrer ungekünstelten Einfachheit anmutig. In dem ausdrucksvollen Mund lag eine Weichheit, die an Schwäche grenzte, und während er das Bild betrachtete, verging die Zeit in Schweigen, das nur durch das Ticken der grossen Uhr à la Louis Quinze und das noch lautere Schlagen seines eignen Herzens unterbrochen wurde, ein Ton, der, wie der junge Mann fürchtete, beinahe an das Ohr seines Gefährten dringen musste.

„Es scheint mir jedenfalls gelungen zu sein, Sie in Erstaunen zu setzen,“ hob Doktor Tholozan endlich an. „Ich werde Sie einige Wochen nicht sehen und dann meiner jungen Frau vorstellen, oder ich komme als abgewiesener Freier zurück, um mich von Ihrer Freundschaft trösten zu lassen. Sie wünschen mir kein Glück auf den Weg — das ist ein böses Omen, obgleich Spieler das Gegenteil behaupten. Nun ja, die Ehe ist eine Lotterie, vielleicht bringt mir also Ihr Schweigen Glück. Wer weiss? Gute Nacht, mein Freund, ich muss mich zurückziehen und versuchen vor der widerwärtigen Reise morgen, eine Nacht ruhigen Schlafs zu erlangen. Morgen mittag bin ich in Banquerouteville-sur-Mer. Ich werde Ihnen brieflich Mitteilen, welchen Entschluss die Dame gefasst hat. O, behalten Sie nur die Photographie, gute Nacht.“

Sie schüttelten sich die Hände, und dann verliess der Doktor das Atelier, wobei er ein Liedchen pfiff, dessen Text lautete:

„Marlbrouck s’en va-t-en guerre.“

Die verhängnisvolle Phryne

Подняться наверх