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KAPITEL 2 Ultramarinblau

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Die Sonne schien an Sommermorgen zwischen den Giebeln unseres Umgebindefachwerkhofes auf den von Weinranken umwundenen Laubengang, während wir Kinder zusammen mit unseren Eltern beim Frühstück saßen. Ich habe einen jüngeren Bruder, mein »kleiner« Bruder, welcher mich mit seinen 21 Jahren schon um einen halben Kopf überholt hat. Ich habe mal gelesen, dass Zweitgeborene ihre älteren Geschwister statistisch häufig an Körpergröße übertrumpfen, aber für mich wird er immer mein kleiner Bruder sein. Ich bin froh, einen Bruder zu haben, denn dadurch hatte ich immer jemanden, der sich mit mir die Zeit auf dem Dorf vertrieb. Ich mochte das Dorfleben. Derzeit wohne ich zwar in Leipzig und kann dem städtischen Treiben durchaus auch etwas abgewinnen, aber die Abgeschiedenheit und das heimische Idyll eines beschaulichen Dorfes hat doch seinen ganz eigenen, fast schon archaischen Charme.

Aufgewachsen bin ich in Oberoppurg, einem kleinen Ort, ringsum von Feldern und Wäldern umgeben und weich gebettet in eine kleine Talsenke, durch die sich schlängelnd ein Bächlein zieht. Meine Eltern, seit jeher leidenschaftliche Denkmalpfleger und mit Herzblut dem Verkauf von Antiquitäten verschrieben, hatten sich hier in einem ruinösen, denkmalgeschützten Umgebindefachwerkhof niedergelassen und begonnen, diesen wieder zu neuer Blüte zu bringen, was ihnen auch tadellos gelang. Alles wurde liebevoll mit alten Baustoffen restauriert und ausgebessert. Mein Vater achtete mit fast schon pedantischer Akribie darauf, dass alles möglichst nach altem Vorbild und auch traditionell wiederaufgebaut wurde, was zum Beispiel bedeutete, dass zum Verankern von Fachwerkwänden nur Holznägel benutzt wurden oder dass Lehm statt Putz in der Wandgestaltung Verwendung fand. Was das angeht, sind meine Eltern ein wahres Dreamteam. Von wem sonst hätte ich besser all diese Erfahrung und das Gespür für Althergebrachtes mitnehmen können.

Mein Vater war bereits mit zwölf Jahren im Bund für Numismatik der DDR, der sich der Münzkunde verschrieben hatte, und Zeit meines Lebens Antiquitätenhändler. Den Geist des Antiken bekam ich also schon seit meiner Geburt mit, und ich genoss es schon früh, meinem Vater beim Ankaufen und Verhandeln mit Händlern und Privatleuten mit kindlicher Neugier über die Schulter zu schauen. Ein Funke, der sich langsam, aber stetig entfachte.

Unser Hof befand sich zentral in der Dorfmitte, direkt an einem schilfrohrbewachsenen Teich. Es gab unser Wohnhaus und zwei rund umliegende Gebäude sowie das Torhaus mit seinem steil aufsteigenden Giebel, das eine Brücke über eine kleine Gasse bildete. Zwischen Dorfteich und Wohnhaus lag auf einem gemauerten Plateau der liebevoll angelegte, von Wildblumen gesäumte Kräutergarten meiner Mutter, in dem sich im Sommer hunderte Insekten und Schmetterlinge tummelten. Die Sonnenblumen schossen in die Höhe und reckten ihre goldgelben Köpfe übermannshoch in die flirrend heiße, von Schnittlauch und Thymian appetitlich duftende Luft.

Eines Tages, ich war neun Jahre alt und grub gerade ein Loch in einer unbepflanzten Ecke des Gartens, um dort meiner kindlichen Leidenschaft zur Archäologie nachzugehen, rief meine Mutter aus dem geöffneten Küchenfenster: »Fabian? Ach, da bist du. Du gräbst an der falschen Stelle. Hier unterm Fenster musst du schauen. Früher haben die Leute alles direkt von der Küche in den Garten entsorgt. Ich bin mir sicher, du wirst da, neben den Johannisbeeren«, sie deutete, indem sie sich aus dem geöffneten Fenster beugte, mit dem Finger auf eine Vertiefung in der Erde, »auf jeden Fall etwas finden.«

Also machte ich mich an die Arbeit und buddelte an der von meiner Mutter besagten Stelle. Nachdem ich tatsächlich die erste beige-braun glasierte Tonscherbe aus der Erde barg, war ich gänzlich bei der Sache. Stück für Stück hob ich die Erde aus und räumte sie beiseite, um immer mehr verborgene Scherben und Bruchstücke eines Tontopfes zu entdecken. Für mich sahen die Scherben sehr alt aus, vielleicht mittelalterlich. Als ich die letzten Teile des antiken Puzzles gefunden hatte, packte ich alle Scherben aufgeregt in eine Plastikschüssel und wusch sie im Teich sauber. Ich legte sie zum Trocknen im Hof aus und eilte ins Haus, um sogleich mit einer Tube Sekundenkleber zurückzukehren. Stück für Stück setzte ich in dreistündiger Arbeit alle Teile des Tontopfes zusammen. Er war sehr breit und ähnelte in der Form einem Nachttopf mit einem Henkel. Die Außenseite war beigefarben, unglasiert und an der Lippe des Topfes mit drei mahagonifarbenen Streifen verziert. Im Inneren war er dunkelbraun glasiert, und man konnte anhand von ungleichmäßigen Ringen im Boden gut erkennen, dass er in Handarbeit gefertigt worden war. Ich strahlte, als ich die Kante der letzten Scherbe ringsumher mit Kleber bestrich und sie nach kurzem Warten in das gleichförmige Loch des Topfbodens einpasste. Noch nie hatte ich ein vollständiges Relikt aus vergangenen Tagen aus der Erde geborgen. Ich hatte schon so manches Loch in die Erde um unser Haus gegraben und bin dabei auf Scherben aus vergangenen Zeiten gestoßen, aber es waren immer nur Bruchstücke. Nun aber hatte ich wie ein richtiger Archäologe alle Teile zu einem Objekt gefunden und zusammengefügt und blickte mächtig stolz auf mein Tagwerk.

Meine Mutter brüstete sich lachend mit ihrem Spürsinn für antike Grabungsstätten, und mein Vater klärte mich über das Alter des Topfes auf. Er stammte aus der Zeit um 1890 und diente als Gefäß zur Aufbewahrung von Kartoffeln oder Zwiebeln. Er erklärte mir, dass ihn die ehemaligen Hausbesitzer damals achtlos in den Garten geworfen haben müssten und er die Zeit in der Erde vollständig überdauert habe. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass mein Vater selbst diesen Tontopf auf einer Haushaltsauflösung gekauft, zerschlagen und vergraben hat, um mir damit eine Freude zu machen. Noch heute erinnere ich mich an diesen Tag, als sei es gestern gewesen.

Ich hatte eine zauberhafte Kindheit. Wir wuchsen praktisch auf einer Dauerbaustelle auf, welche, sobald die eine Aufgabe erledigt war, bereits an anderer Stelle wieder zu rufen begann. Trotzdem fehlte es uns Kindern an nichts. Unsere Eltern waren zwar vielbeschäftigt und wenn ich heute zurückblicke, frage ich mich, wie sie all das damals zu zweit bewältigt haben, aber ich hatte nie das Gefühl, durch die Arbeit und den Hausbau vernachlässigt worden zu sein. Ganz im Gegenteil. Es war sogar sehr aufregend und abenteuerlich, und wir hatten oft Besuch von Nachbarskindern, die kamen, um zu spielen und um auf Entdeckertour zu gehen. Und wenn das nicht möglich war, weil Regentage die kleine Talsenke in verhüllendes Grau tauchten und das Wasser sich im Innenhof zu kleinen Seen aufspülte, welche fast schon eine Verbindung zum nah am Haus fließenden Bach aufnahmen, oder weil der Winter den Schnee vor der Türe einer weißglitzernden Wüste gleich hoch aufbäumte, fanden wir im Haus, besonders in der Stube, von mir auch »Schatzkammer« genannt, da mein Vater hier regelmäßig in reichlicher Zahl seine angekauften Objekte zur Sichtung und Wertschätzung ausbreitete, oder auf dem Dachboden allerhand spannendes und für Kinderaugen fast schon mystisches Gewerk vor, welches den Regen oder die Kälte draußen schnell vergessen machte. Hier sammelte ich, ohne es damals recht zu merken, einen großen Teil meines Erfahrungsschatzes, der mir später zum Kunsthandel verhelfen sollte.

Wenn man als wachsames und an alten Dingen interessiertes Kind in einem solchen Haushalt aufwächst, gibt es zur beruflichen Tendenz nur noch ein Wort zu sagen: Schicksal. Ich hatte schon von klein auf das Gefühl, genau zu wissen, wo es für mich hingeht. Oder anders gesagt, ich hatte nie arge Selbstfindungsängste und Zweifel. Die Richtung war klar vorgegeben. Nicht durch die stählerne Hand eines unliebsamen, seinen eigenen Misserfolg durch die Erfolge seiner Söhne zu kompensieren suchenden Vaters, der mich auf diesen Weg getrimmt hätte, sondern durch eigenes Interesse an der Materie des Kunsthandels und die wohlwollende Unterstützung und Förderung meiner Eltern. Es wird einem oft fast schon zum Vorwurf gemacht, wenn man die gleiche berufliche Richtung anstrebt wie das Elternhaus. Freunde, Verwandte und Bekannte sind der Meinung, immer wieder betonen zu müssen, dass ich eigenständig denken könnte und meinem Vater nicht alles nachplappern bräuchte. Dabei wird immer wieder vergessen, dass Charakterbildung aus Eigeninitiative resultiert, und diese kann man nicht kopieren. Mein Interesse an dem Thema schon von Kindheitstagen an war der Auslöser, mich überhaupt mit diesen Dingen beschäftigen zu wollen. Mein Bruder hingegen, der mit den gleichen Einflüssen in Berührung kam, ist heute mit Herzblut und Gewissenhaftigkeit in der Gastronomie tätig, wo er vollends aufblüht.

Man ist, wer man ist. Von Anfang an. Und ich war und bin schon immer ein antikbegeisterter Mensch. Ich las unheimlich viel, und auch damals schon keine Romane oder Kinderbücher. Diese ließ ich mir eher in Form von Hörbüchern durch den Kopf gehen. Fast ausschließlich vertiefte ich mich in Fachliteratur aus der Hausbibliothek, die mein Vater neben meinem Kinderzimmer eingerichtet hatte. Oft blieb ich stundenlang in dem kleinen, nach abertausenden Bücherseiten und Umschlägen riechenden Zimmer, welches durch seinen ultramarinblauen Anstrich mit in Gold an die Decke gemalten Sternen und einem sichelförmigen Mond eine unendliche Weite ausstrahlte. Hier fanden sich Buchrücken wie Die Wiener Werkstätte, Symbolismus in der Kunst, Kunst oder Fälschung, Ihre eigene Welt – Frauen in der Kunst, Möbel des Barock und Rokoko, Der Dresdner Zwinger und unzählige Ausgaben der Battenberg Antiquitätenkataloge, die gespickt waren mit Schwarz-weiß-Abbildungen zu Objekten jeglicher Bereiche und deren angenommene Marktwerte in D-Mark angegeben waren. Wie sich herausstellte, war nicht die Hälfte dieser Schätzungen annähernd realitätsnah, aber es verhalf mir schon damals zu einem groben Überblick bezüglich seltener und häufiger Antiquitäten.

Dieses Gespür zu entwickeln dauert seine Zeit. Um etwa auf einem Antikmarkt in einer Fülle von Gegenständen zu erkennen, welches Werk der Kunstgeschichte nun wirklich das Potenzial hat, ein »guter Fang« zu sein, um dann auch in der Verhandlung mit dem Verkäufer einen »guten Deal« aushandeln zu können, braucht es einiges an Übung und Erfahrung. Ich habe das selbst am eigenen Leib erfahren müssen, wenn ich mit meinem Vater über den Antikmarkt lief und er mich immer wieder vor die Aufgabe stellte, an einem bestimmten Stand die älteste oder die wertvollste Antiquität auszuwählen und ihm meine Wahl auch zu begründen. Oftmals wusste ich es nicht, aber auch das sind Erfahrungswerte, an welchen sich nach und nach eine Fachkenntnis herauskristallisiert, die mit einer Intuition und einem Bauchgefühl einhergeht, das unheimlich wichtig für den alltäglichen Handel mit antiken Dingen ist.

Ich kaufe gern auch mal Dinge, von denen ich noch keine genaue Ahnung habe und die daher im Grunde ein unsicheres Geschäft für mich darstellen. Durch diese Objekte werde ich angeregt, mich mit Themen auseinanderzusetzen, die mir vorher so nicht untergekommen wären. Und ehe man sichs versieht, hat man wieder einen Teilbereich des Händlerberufes ergründet und dabei vielleicht sogar einen kleinen Schatz entdeckt oder, wenn nicht das, dann zumindest etwas dazugelernt, auch wenn man dafür etwas Lehrgeld zahlen musste. Das gehört dazu. Ich bin aber froh, dass ich als Kind kein eigenes Geld zur Verfügung hatte. Mein Sparschwein hätte einen Ausflug auf den Trödelmarkt nicht heil überstanden.

Mein Vater unternahm mit uns Kindern auch einige Bildungsausflüge. Den Gedanken an Urlaub gab es bei Familie Kahl kaum. Wenn wir als Familie wegfuhren, dann an die Ostsee oder an die Nordseeküste. Hier sammelte ich von Wasser ausgehöhlte Feuersteine, sogenannte Hühnergötter und Donnerkeile, kleine Fossilien, oder vertrieb mir die Zeit mit Erkundungstouren durchs Watt. Ich hatte meine Hände immer irgendwo im Schlamm und durchkämmte ihn nach Muscheln, Krabben, Krebsen, Schnecken und Würmern, drehte jeden Stein um und suchte in jeder noch so kleinen Wasserlache nach verschiedenartigsten Fischen. Meine Eltern hatten in weiser Voraussicht aus unserer Bibliothek einige Handbücher zur Tier- und Pflanzenbestimmung mitgenommen, und so saß die ganze Familie am Strand oder an einer felsigen Steilküste und grübelte über der Bestimmung der Tierarten, die ich aus dem Wasser fischte. Manche wurden für die Zeit ihrer Bestimmung in Gläser mit Meerwasser gesetzt, damit wir sie durch das Glas beobachten und ihre Zeichnung und die Form ihrer Flossen und Gliedmaßen erkennen konnten. Andere, wie Muscheln oder kleine Krebse, ließen sich schnell bestimmen, und ich brachte sie sofort zurück an die Stelle ihrer Entnahme.

Wenn wir uns nicht am Strand tummelten, machten wir Schlösser und Burgen in der Region ausfindig. Es ist vor allem meinem Vater zu verdanken, dass ich bis zu meinem 15. Lebensjahr so ziemlich alle Burgen und Schlösser Deutschlands, mit ihren Schießscharten, Rüstkammern, Festsälen und Lustgärten besucht habe. An viele erinnere ich mich heute nicht mehr genau, da ich zum Teil noch im Kleinkindalter war. Aber auch diese Besuche bildeten und prägten mein Verständnis für Antiquitäten. In der häuslichen Bibliothek las ich alles über antike Gegenstände, und auf Ausflügen sah ich sie direkt vor mir und durfte, mit Erlaubnis des Museumspersonals, so manches Ausstellungsstück anfassen und es zusammen mit meinem Vater begutachten.

»Schau mal da, der Zinndeckel des Fayencekruges sitzt nicht ganz gerade auf der Lippe. Der Scherben ist leicht uneben und hat viele Einschlüsse. Die merkst du am besten, wenn du mit der Hand drüberfährst«, erklärte er mir und reichte mir den Krug. »Und auch die Glasur ist nicht ganz sauber ausgearbeitet. Das sind alles Indizien für einen originalen Fayencekrug aus der Mitte des Barocks, also aus der Zeit um …?«, fragte er mich ganz unverhofft.

»1720 bis 40«, antwortete ich belesen und selbstsicher und stellte das museale Objekt nach längerer Betrachtung zurück in die Vitrine.

Als Antikhändler hat man immer diesen Drang, alles zur Prüfung genau unter die Lupe zu nehmen und es dabei am besten direkt in den Händen zu halten. Das kann in Museen jedoch zu kleinen und auch großen Problemen führen. Im Bauhausmuseum in Weimar haben wir das hautnah zu spüren bekommen. Mein Vater hatte ein paar Stunden zuvor von einem Privatmann einen Armlehnstuhl zur Begutachtung bekommen, der behauptete, dieser Sessel stamme aus dem Haus Schulenburg in Gera, welches von keinem Geringeren designt, erbaut und eingerichtet wurde als dem herausragenden Jugendstilkünstler Henry van de Velde. Ich habe unheimlich viel über die Zeit des Jugendstils und die Goldenen Zwanziger gelesen und bin daher unweigerlich auf diesen namhaften Künstler gestoßen. Auch die Villa Schulenburg hatte ich bereits besucht und war von der Innenarchitektur und der Einrichtung begeistert. Der Sessel, der nun bei uns im Wohnzimmer stand und um den die ganze Familie aufgeregt mit allerhand Fachliteratur und Preisregistern umher tänzelte und recherchierte, sollte aus dem Musiksalon stammen und Teil der dort befindlichen Sitzgruppe sein.

»Wenn der original ist, kostet er einige tausend Euro und das Schulenburg Museum hat sicher großes Interesse«, meinte mein Vater aufgeregt. »Das wäre eine Sensation. Aber ich weiß, dass es viele Nachbauten gibt, die zu unterscheiden nicht ganz einfach ist.«

Im Internet fanden wir die besagten Möbel, denen der Stuhl wirklich sehr ähnlich sah, doch leider konnte man keine Details erkennen, was die Feststellung der Originalität unmöglich machte. Der Bezugsstoff des Sessels war geändert worden und statt des originalen hellbeigen und dezent gemusterten von van de Velde entworfenen Bezuges hatte man schändlicherweise einen dunkelbraunen, mit Blumen in Beige und Rot abgesetzten DDR-Bezug überspannt. Man hätte die Hoffnung hegen können, dass der Originalstoff noch unter dem unpassenden Bezug zu finden wäre, doch da dieser sich bereits an einer Seite nach oben zu wölben begann und man so einen Einblick ins Innenleben des Sessels bekam, schwand diese Hoffnung schnell dahin. Diesen Faktor musste man bei der Preisfindung definitiv stark mit einbinden, denn man könnte den Stoff nur noch rekonstruieren, was zum einen teuer wäre, zum anderen aber noch lange nicht vergleichbar ist mit dem Originalbezug. Das Gestell des Sessels war jedoch in einem einwandfrei gepflegten Zustand. Es wies die typische Formensprache van de Veldes auf, der zwar im stark floral geprägten Jugendstil seine einflussreichste Schaffensphase hatte, diese jedoch nie gänzlich nur an die Kopie der Natur anlehnte. Sein Hang zur Abstraktion, zu minimalisierten, naturgegebenen, fließenden Formensprachen machten ihn zu einem Vorreiter des modernen Designs. Bei solch großen Namen ist unbedingt auf die Details und Kleinigkeiten wie Schrauben, Nägel, Holzmaterial, Vernietungen und Zinkungen zu achten.

Leider wurde das Haus Schulenburg in dieser Zeit renoviert und war für die Öffentlichkeit unzugänglich, sodass wir uns die originalen Möbel nicht direkt vor Ort ansehen konnten.

»Hast du Lust auf eine Tour nach Weimar?«, fragte mein Vater, mit dem Oberkörper rücklings unter dem Stuhl verschwunden, um sich die Details anzuschauen und sie zu fotografieren. »Dort gibt es das Bauhausmuseum, und soweit ich weiß, haben die auch Exponate aus dem Jugendstil. Vielleicht ist da auch van de Velde dabei, denn er ist ja der Begründer der Kunstgewerbeschule, dem Vorläufer des Bauhaus.«

Noch ehe er meine Mutter fragen konnte, ob sie dort anrufen und nachfragen könnte, zog ich mir die Nummer aus dem Internet und hielt den Hörer des Telefons ans Ohr.

Eine Dame meldete sich. »Guten Tag, Klassikstiftung Weimar, was kann ich für Sie tun?«

»Ja, hallo, hier ist der Fabian. Ich wollte fragen, ob Sie auch Möbel von Henry van de Velde im Bauhausmuseum haben.«

Die Frau am anderen Ende hörte wohl, dass ich recht jung war, denn ihre Stimme wurde etwas schmeichelnder. »Wir haben einen Schreibtisch und einen Armlehnstuhl von van de Velde in der Ausstellung. Schön, dass du dich dafür interessierst. Wie alt bist du?«

»Ich werde vierzehn im Oktober«, krähte ich wahrheitsgemäß.

»Ach, na siehst du, dann ist der Eintritt für dich sogar frei«, erwiderte die Dame am Telefon erheitert. »Wir freuen uns auf dich.«

»Wiederhören«, sagte ich, legte das Telefon beiseite und klärte meine Eltern auf. »Sie haben einen Armlehnstuhl und einen Schreibtisch. Das sollten wir uns ansehen.«

Keine Stunde später standen mein Vater und ich auf dem sommerlich warmen, großzügigen Platz in Weimars Mitte vor dem pastosen Denkmal zu Schillers und Goethes Ehren, in dessen Hintergrund das Deutsche Nationaltheater mit seinem neoklassizistischen Dreiecksgiebel steil aufragte, in dem ich mir mit meiner Schulklasse, nachdem wir es wochenlang als Buch behandelt hatten, eine moderne Inszenierung von Kabale und Liebe angeschaut hatte. Ich habe dieses Werk des Sturm und Drang damals verschlungen und scheute mich nicht davor, mich im Anschluss daran in weitere Werke Schillers zu vertiefen. Ich las Die Räuber, Maria Stuart und Wilhelm Tell praktisch binnen einer Woche. Das »Klassische-Literatur-Fieber« hatte mich gepackt und so schrieb ich mit vierzehn Jahren in dem gleichen Stil ein Theaterstück über die Pest in Europa, welches jedoch bis heute unvollendet zusammen mit einigen lyrischen Texten im Stil Johannes Bobrowskis in irgendeiner Möbelschublade auf dem Dachboden unseres Schlosses liegt. Ich habe vieles angefangen, doch so richtig intensiv beschäftigt hat mich die Kunst selbst nie. Ich finde bis heute die Vielseitigkeit des Kunsthandels spannender als das eigentliche Schaffen der Kunst.

Zu meiner Rechten erstreckte sich das frisch sanierte Wittumspalais, an dessen linker Flanke sich, mit ein wenig Abstand durch einige hochgewachsene Bäume, der schmale und relativ flache Bau des ehemaligen Kulissenhauses zu Weimar erstreckte, in dem nun das Bauhausmuseum und die Ausstellung zur Kunstgewerbeschule Platz fanden. Ich konnte es kaum erwarten, die »heiligen Hallen« zu betreten, hatte ich doch so vieles über van de Velde und die Bauhausschule Dessau gelesen. Nun stand ich plötzlich vor den Originalen dieser Zeit. Hier betrachtete ich Mobiliar vom Bauhausgründer Walter Gropius, den berühmten »Barcelona Chair« von Mies van der Rohe, Marianne Brandts Tischgedecke und die Wandmalereien Oskar Schlemmers und Paul Klees. Ich untersuchte, so gut es in einem Museum möglich war, jedes Objekt auf seine Eigenheiten, betrachtete jede Verschraubung und jeden Lackfarbton, hielt Ausschau nach rostigen Stellen bei Marcel Breuers Stahlrohrmöbeln zur Altersbestimmung und merkte mir die Beschaffenheit der blätternden Farbe der Lampen Wilhelm Wagenfelds.

In einem Raum am Ende der Ausstellung wurde retrospektiv die Kunstgewerbeschule behandelt. Hier fanden sich einige Werke van de Veldes, darunter der besagte Armlehnstuhl. Mein Vater zückte sogleich seine Kamera und fotografierte den Sessel von allen Seiten.

»Ich werde jetzt mal unter den Stuhl kriechen und mir die Schrauben und das Gestell anschauen. Pass auf, dass niemand kommt.«

Ich zog ihn am Arm, als er sich gerade unter der Absperrung hindurch schlängeln wollte, und deutete auf die Museumsaufseherin an der Tür am anderen Ende des Raumes. Sie bemerkte uns nicht, denn ihr Blick war auf das Nebenzimmer gerichtet. Nach einer kleinen Weile verschwand sie im Raum nebenan und ließ uns einen Moment unbeaufsichtigt. Man rechnet ja auch nicht alle Tage damit, das waghalsige Antiquitätenhändler beim Museumsbesuch auf Tuchfühlung mit den Exponaten gehen wollen. Kaum war ihr Kopf in der Tür verschwunden, schlüpfte mein Vater im Eiltempo unter der Absperrung hindurch, ungeachtet eines eventuell ausgelösten Alarms, legte sich rücklings mit der Kamera im Anschlag unter den van-de-Velde-Stuhl und fotografierte wild drauflos. Ich stand in der Mitte des Raumes, von wo ich die beiden Eingangstüren im Blick hatte, und hielt angestrengt und ein wenig ängstlich Ausschau nach dem Museumspersonal. Die Sekunden schienen zu schleichen, und ich hatte das Gefühl, eine halbe Ewigkeit dort zu stehen, während mein Vater in aller Seelenruhe seine Bilder schoss. Er fotografierte den Stuhl von allen Seiten, Nägel, Schrauben, Zinkungen, Bezugsstoff, Nieten, Schnitzereien und Polsterung. Schließlich kroch er noch unter den Schreibtisch und fing an, diesen ebenfalls zu fotografieren. Mein Vater lag, die eine Hand mit der Kamera unter dem Schreibtisch verschwindend, bäuchlings auf dem Boden und fotografierte blind mit Blitz die Unterseite des Möbelbodens. Der ganze Raum blitzte und flackerte hell auf, und das Geräusch des Blitzes hallte durch die Museumsgänge. In diesem Moment trat die Museumsangestellte entgeisterten Blickes zu uns. Ich zuckte zusammen. In der Aufregung hatte ich sie nicht kommen sehen.

»Können Sie mir verraten, was Sie hier treiben? Treten Sie sofort hinter die Absperrung!«, schnaubte sie entrüstet.

Mein Vater versuchte, die junge Dame zu beschwichtigen, was sich in dieser Situation leider als sehr schwierig erwies, und so dauerte es keine zwei Minuten, bis der herbeigerufene Museumsdirektor ein einjähriges Hausverbot verhängte und uns des Gebäudes verwies.

»Puh, das ging ja ordentlich schief«, lachte mein Vater, als sich die schaulustige Menschenmenge hinter uns wieder ihrem Museumsrundgang widmete und wir uns unweit des Eingangs im schützenden Schatten weit ausladender Platanen auf einer Bank niederließen. »Aber auch das gehört zum Job. Jetzt haben wir die Bilder, die wir brauchen.«

Er schaltete die Kamera ein und sichtete im Schnelldurchlauf die Fotos. »Perfekt. Komm, wir holen uns ein Eis.« Und mit zwei cremigen Kugeln Stracciatella in einer dickwandigen, braungebrannten Waffel in der Hand saß ich zufrieden auf dem Beifahrersitz und genoss bei geöffnetem Fenster die Sommersonne, die durch die Windschutzscheibe auf mich einströmte.

Zuhause verglichen wir die Fotografien mit dem Sessel im Wohnzimmer und stellten schnell fest, dass einige Indizien dafürsprachen, dass es sich um eine Fälschung handelte. Die Schnitzereien waren nicht so ausgewogen komponiert und ausgearbeitet, wie man es sich bei einem so namhaften Künstler wünscht und erwartet. Auch die Polsterung und die Beschaffenheit der Federung im Stuhl waren von gröberer Art als bei dem Stuhl im Museum. Hinzu kam die unsauber ausgeführte Zinkung der Beine. Nach längerem Überlegen und Vergleichen mussten wir leider einsehen, dass es nicht der erhoffte »große Fang« war. Aber auch wenn das Endergebnis ernüchternd ausfiel, bringt einen Händler eine solche Erfahrung immer voran, denn es ist unheimlich wichtig zu erkennen, ob es sich bei einem antiken Objekt um einen Nachbau oder ein Original handelt. So etwas lehren einen nur die Erfahrung und die Zeit. Wichtig ist dabei, dass man keine voreiligen Zahlungen tätigt. Diese müssen wohlüberlegt sein, sonst zerrinnt das Geld schneller in den Händen, als man es verdient.

Um diesen Erfahrungsschatz zu erlangen, habe ich Jahre gebraucht. Das wird mir erst heute richtig bewusst, aber im Grunde war mein ganzes Leben, neben Schule, Freizeit und Spaß, auch in gewisser Weise ein intensives Studium der Kunstgeschichte und des Handels. Ich bin glücklicherweise damit aufgewachsen, und so ging es mir in Fleisch und Blut über. Heute lerne ich jeden Tag dazu und intensiviere mein Gespür für die Dinge der alten Zeit. Dass ich bereits in frühen Kindheitstagen die unterschiedlichsten antiken Objekte in den Händen gehalten habe und sie nicht nur durch die gläsernen Scheiben einer Museumslandschaft hindurch betrachten konnte, bildete mein Verständnis für diese Dinge. Nichtsdestotrotz kommt man um Museumsbesuche nicht herum. Diese sind sehr wichtig, denn sie bieten eine Vielzahl an Objekten innerhalb einer bestimmten Zeitepoche oder eines individuellen Themas.

Das Besuchen von Burgen und Schlössern bereitete mir immer schon sehr viel Freude. In Potsdam und Berlin gibt es besonders viel zu sehen, und so unternahmen wir regelmäßige Bildungsausflüge in diese Richtung, die so manches Mal in einer regelrechten Museumsjagd ausarteten. Einmal hatten wir uns vorgenommen, Schloss Sanssouci und den umliegenden Park anzusehen. Das in Potsdam gelegene Schlösschen ist neben Schloss Solitude in Stuttgart mein Lieblingsbau des Rokokos. Es hat schon etwas sehr Imposantes, wenn man vom Lustgarten Friedrich des Großen über die sechs weit geschwungenen Treppen mit anliegenden Sonnenterrassen die oberste Terrasse erreicht und sich vor einem der langgestreckte, mit einer Vielzahl von männlichen wie auch weiblichen Karyatiden aus der Werkstatt Friedrich Christian Glumes versehenen Parterreprachtbau des Rokokos erstreckt. Die große, mittig gelegene Kuppel aus türkisschimmerndem, sich von der gelben Farbgestaltung der Wände wie die karibische See an einem tropisch heißen Sommertag absetzenden oxidiertem Kupfer wölbt sich triumphal gen Himmel. Umflattert von unzähligen vielfältig bunten Schmetterlingen, die im Garten die reichlich in voller Blüte stehenden Rosen und Lilien nach Nektar absuchen, erstrahlt das Schloss des »Alten Fritz« bis heute prunkvoll in Potsdams Schlösserlandschaft. Mich zog es mit seinem Musikzimmer, der großen Bibliothek und der phänomenalen in weißem Carrara-Marmor und prunkvoller Vergoldung gestalteten Kuppelhalle in seinem Bann. Ich konnte mich nicht sattsehen an den unzähligen Statuen und Statuetten, die im ganzen Schloss untergebracht waren, und an der Vielzahl der schönsten Rauminterieurs, die Deutschland zu bieten hat. Auch einige Möbel aus der Werkstatt Abraham Roentgens, des berühmtesten Möbelbauers des Rokokos, fanden sich hier, und mir stockte bei dieser Qualität und Raffinesse der Atem. Bildschwanger und überladen mit Eindrücken trat ich wieder ins Freie.

Der Tag war noch jung, und so beschlossen wir, in die nebenan gelegene Bildergalerie zu gehen. Im Schnelldurchlauf durchkämmten wir den langgestreckten, reichlich verzierten Raum dieser eindrucksvollen Halle. Rahmen an Rahmen und Bild an Bild hingen hier zweireihig altmeisterliche Gemälde jeglicher Art, darunter ausgewählte Namen wie Caravaggio, van Dyck, Rubens und Jordaens, wobei sie angesichts der effektvollen und prächtigen Innenarchitektur fast unterzugehen schienen. In Nebenräumen drängten sich an den Wänden weitere Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts eng zusammen. Wo eine Nische blieb, duckten sich Figuren aus Marmor, Holz und Elfenbein hinein. Es ist ein imposantes Schauspiel, für meinen Geschmack jedoch viel zu überladen. Man wird förmlich erschlagen und ist schon bald nicht mehr in der Lage, alle Feinheiten der exquisiten Gemälde in sich aufzunehmen. Taumelnd traten wir über die Schwelle der großen Halle wieder in den zart duftenden Lustgarten. Ein Spaziergang in der wohligen Sonne tat Not. Wir liefen über die Schotterwege vorbei an der Neptungrotte, der Weinbergterrasse, den Neuen Kammern und der eigenartig platzierten Mühle hin zum bezaubernden Chinesischen Teehaus, das aufgrund von Bauarbeiten leider geschlossen war, und sprachen über die bisherigen Eindrücke.

Ich hielt kurz inne. »Riecht es hier verbrannt?«, fragte ich verdutzt. »Riecht irgendwie nach fackelndem Harz«, fuhr ich fort, während ich richtungsriechend um das Teehaus schlich. An einer Fichte unweit des Hauses stiegen dicke blaugraue Rauchschwaden vom Boden auf und verflogen in der brütenden Hitze der nun senkrecht stehenden Mittagssonne.

»Hier brennt was!«, rief ich meinem Vater aufgeregt zu. Beim Näherkommen konnte man große, kohlenschwarze, an den Rändern feurig rotglühende Löcher erkennen, die sich tief in die ringsum liegenden beige-braunen Fichtennadeln gefressen hatten. Stellenweise tänzelten kleine funkensprühende Feuerzungen auf und ab und entflammten knisternd neue Feuerherde. Wir zögerten nicht lang und traten die vereinzelten Feuer aus. Kaum auszumalen, was passiert wäre, wenn wir das nicht gesehen hätten. Ein Feuer so nah am Teehaus. Den Verursacher des Brandes konnten wir nicht ausfindig machen, aber sicher war es ein achtlos in den Park geworfener Glimmstängel einer Zigarette, so wie sie hier zuhauf lagen. Wir verblieben noch eine Viertelstunde an der Stelle, um sicherzugehen, dass nun auch der letzte noch so kleine Feuerherd erloschen war, und traten schließlich wieder auf den geschotterten Weg.

Am Neuen Palais hatte uns das Museumsfieber wieder gepackt, und wir schauten uns an diesem Tag nicht nur das Palais, sondern auch noch das Orangerieschloss, Schloss Charlottenburg, Schloss Oranienburg, die Spandauer Zitadelle, das Italienische Dorf, Schloss Glienicke, das Babelsberger Schloss, Schloss Köpenick und weitere in der Umgebung liegende Herrenhäuser an. Zum Bersten voll mit Eindrücken aus Kunst und Kultur und sterbensmüde kamen wir spät abends wieder in Oberoppurg an. Diese Ausflüge und das Lernen um den Umgang mit der Kunst im Jugendalter haben mein Verständnis für die Dinge der alten Zeit schon früh nachhaltig geprägt, und ich bekam mit zunehmendem Alter immer mehr Einblicke in die Welt des Kunsthandels.

Der Schatzsucher

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