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KAPITEL 3 Metropole Brandenstein
ОглавлениеAuch die schönste Kindheit muss man irgendwann hinter sich lassen. Ich ging zur Schule, machte einige Praktika in der Möbelrestauration, bei denen ich jedoch schnell merkte, dass mir das Handwerk nicht so sehr lag wie erhofft, absolvierte meinen Realschulabschluss in der zehnten Klasse mit gutem Ergebnis und begann ein Fachabitur im Bereich Gestaltung und Design.
Zu dieser Zeit wollte ich selbst freischaffend künstlerisch tätig sein. Schon früh begeisterte ich mich für die Malerei eines William Turners, die Bildhauerei eines Tilman Riemenschneiders oder auch die literarische Raffinesse eines Johannes Bobrowskis. Prägend für mich war van Gogh. Ihn verehre ich nach wie vor. Im Van Gogh Museum in Amsterdam stand ich regungslos vor Ehrfurcht vor seinen Werken, welche mit emotionsgeladenem Pinselstrich den von ihm empfundenen Weltschmerz in einem Meer aus bildgewordener, pastoser Farbe einfangen, fast schon fesseln und in das Antlitz dessen zu schauen versucht sind, was die Realität uns nicht näherbringen kann. Seine Bilder sind Ausdruck ehrlicher und unverblümter Empfindung.
Die Auseinandersetzung mit den künstlerischen Zeitzeugnissen der Vergangenheit hatte für mich oberste Priorität. Viele Museumsaufenthalte, genaues Betrachten antiker Exponate und das Blättern in Bergen von Fachliteratur zu jedem Thema der Literatur-, Kunst- und Antiquitätenhistorie prägten mein Verständnis für Kunst und Design. Letztendlich resultierte daraus für mich der Schluss, dass das Handeln mit Kunst mir mehr Freude bereitet als das eigene Schaffen. Ich brach das Fachabitur nach einem Jahr ab und begab mich zurück zu meinen Wurzeln, zu meinen Eltern und ihrem Antikhandel und zu den ersten eigenen Tätigkeiten als Händler für Antiquitäten.
Ein paar Jahre zuvor hatten meine Eltern die Arbeit am Fachwerkhof nach zwölf Jahren Bautätigkeit vollendet, verkauften ihn fast im selben Atemzug und nahmen sich eines weiteren denkmalgeschützten Objekts in der Orlasenke nahe Saalfeld an, dem ehemaligen Sitz der Familie von Breitenbuch, später Breitenbauch, Barockschloss Brandenstein, in welchem meine Familie bis heute lebt. Im Zentrum des europäischen Naturschutzparks gelegen und auf einem massiven Zechsteinfelsen thronend, erheben sich die von schlichter Eleganz gezeichneten Mauern des um 1490 erbauten Hauses. Ringsumher verlaufende Fensterachsen zeichnen seine drei Etagen schon von außen erkenntlich ab. Der Mittelrisalit wird bekrönt durch einen achteckigen Turm, welcher sich nahtlos an die schiefergedeckte Dachlandschaft anschließt. In den Jahren von 1698 bis 1705 ließ Christoph Adam von Breitenbauch das Schloss auf den Überresten der Burg Brandenstein, die im Dreißigjährigen Krieg stark beschädigt wurde, errichten und schaffte damit sich und seiner Familie ein die Jahrhunderte überdauerndes Heim. Erst mit der Bodenreform 1945 änderte sich die Nutzung. Ein Arbeiterwohnheim und die Parteischule für das Stahlwerk Maxhütte und die Keramischen Werke Hermsdorf hielten Einzug. Von 1955 bis 1988 diente das Schloss als Jugendherberge. Die Gemäuer dieses schlichten, aber anmutigen Höhenschlosses waren über die Jahrhunderte und gerade durch die Zeit der DDR sehr stark heruntergekommen. Durch die Hände meiner Eltern flossen auch hier wieder viel Mut, Liebe und Geduld – im Übrigen unser Familienleitspruch, den wir sogar über dem Türstock in Stein hauen ließen. Wir Kinder waren mit unseren elf und sechzehn Jahren nun alt genug, um die Sanierungsarbeiten an schulfreien Tagen tatkräftig zu unterstützen.
Als ich nach meinem einjährigen Abstecher ins Fachabitur und dem damit verbundenen Internatsaufenthalt ins Schloss zurückkam, merkte ich schnell, dass mein Vater die ganze Sache etwas anders verstand, als es mein Anliegen war. Ich wollte nun endlich mit Antiquitäten handeln und meine ersten eigenen Geschäfte machen. Doch stattdessen rief an allen Ecken und Kanten die mir nun unvertraut erscheinende Baustelle. In mir wurde schnell der Wunsch nach etwas Eigenem laut. Da ergab es sich, dass auf dem Kurfürstendamm in Berlin ein kleiner Laden frei wurde. Als wir davon erfuhren, schwelgte mein Vater sogleich in heller Euphorie, dort ein neues Geschäft auf die Beine zu stellen, und erwog, mir die Leitung dieser Filiale zu übertragen. Ich war begeistert von der Idee und von dem Vertrauen, das mein Vater in mich setzte, und stürzte mich voller Enthusiasmus und jugendlichem Elan in das Großstadtabenteuer. Kein Platz für Bedenken oder Zweifel, ich wollte meinem Vater und mir selbst beweisen, dass ich dieser Aufgabe gewachsen war, und endlich mein erstes eigenes Antikgeschäft führen.
Keinen Monat später saß ich mit gerade mal siebzehn Jahren im großen Berlin am Kurfürstendamm und wartete auf kaufkräftige Kundschaft. Ich konnte eine dreißig Quadratmeter kleine Einraumwohnung im Haus direkt über meinem Geschäft anmieten. Sie war trostlos anzusehen, und ich fühlte mich hier nicht eine einzige Minute wirklich angekommen und zuhause. Der ausgelatschte graublaue Teppichboden begrüßte mich jeden Morgen mit seinem über die Jahre muffig gewordenen Geruch, und die winzige Küche bot nicht einmal ausreichend Platz für einen Kühlschrank, sodass mich dieser geräuschvoll surrend und gurgelnd neben meinem Bett um den Schlaf brachte. Die Fensterfront der kleinen Wohnung war großzügig geschnitten und das Einzige, was ich in dieser Zeit als erholsam empfunden habe. Sie bot einen weiträumigen Ausblick ins tiefe Grün des Grunewalds, der jedoch dadurch getrübt wurde, dass direkt unterhalb des Fensters das saftige Grün in einem riesigen sechsspurigen Verkehrskreisel endete, auf dem sich Tag und Nacht hupend und lärmend unzählige Autos quetschten.
Berlin ist eine Hure. Arm, aber sexy. Das sollte sich auch bei meinem Geschäftsvorhaben bewahrheiten. Punkt zehn Uhr stand ich morgens auf der Straße vor meinem Laden. Die vorbeifahrenden Autos wirkten zur Geschäftszeit sehr wohlwollend, da sie die Hoffnung weckten, erste Kundschaft in meinen Laden zu bringen.
Das sind schon ein wenig mehr Autofahrer als in Brandenstein, dachte ich bei mir und kam durch einminütiges Nachzählen darauf, dass sich inklusive meiner Familie ca. 65 Einwohner diesen Ort teilten, wovon zwanzig ein Auto besaßen und zehn es regelmäßig fuhren. Das Großstadtfeeling war für mich also etwas befremdlich, aber ich scheute die Herausforderung nicht und freute mich auf meine ersten Kunden.
Mein Laden war nicht groß. Zuvor hatte hier ein Schuhgeschäft seinen Standort gehabt, und es roch immer noch nach gegerbten Leder, was aber ausgesprochen gut zum Antikflair passte. Die Wände waren hell- bis dunkelblau meliert und so gearbeitet, dass sie an manchen Stellen künstliche Risse hervorbrachten, hinter denen die ursprüngliche Klinkerbacksteinwand hervorlugte. Davor hingen nun unsere schönsten Gemälde vom pastosen Altmeister über den lichtdurchfluteten Impressionisten bis hin zur statisch gegenständlichen Malerei der Neuen Sachlichkeit. In den Glasvitrinen und auf den antiken Möbeln standen hunderte Kunstobjekte unterschiedlicher Form und Herkunft. Da waren Meißen-Service zum Speisen bei edlem Gelage, silberne Kerzenleuchter aus dem englischen Königshaus, fein bemalte Porzellanplatten mit Kopien altertümlicher Gemälde von Rubens bis Raffael, filigrane Porzellanfiguren standen auf kleinen Deckchen, damit sie beim versehentlich unachtsamen Absetzen keinen Schaden erleiden würden, hier und da fanden sich militärische Gegenstände aus dem Ersten Weltkrieg und sogar ein paar nicht mehr schussfähige Radschlosspistolen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
Die Schaufenster hatte ich aufwendig dekoriert und den Untergrund mit dunkelrotem Samt bespannt. Ich malte mir aus, wie ich die Schaufensterdekoration den jeweiligen saisonalen Bedingungen anpassen würde. Wenn es Herbst wurde, würde ich bunte Blätter und ein paar getrocknete Insekten drapieren. Schneite es im Winter, so könnte ich Kunstschnee besorgen und diesen behutsam verteilen, dazu Kerzen anzünden und unsere große erzgebirgische Weihnachtspyramide aus Brandenstein holen, welche sich schon seit Kindheitstagen jeden Weihnachtsabend in unserer Bohlenstube befand und ohne die ein besinnliches Weihnachtsfest undenkbar wäre. Im Frühjahr würde ich frische Tulpenbuketts herrichten und in antiken Vasen vor der großen Glasfläche drapieren, und im Sommer, so wie wir ihn nun hatten, standen nur die Antiquitäten im Vordergrund und verzückten mit ihrer Anmut und Schönheit die Menschen, die gebannt am Schaufenster ihre Nasen plattdrückten.
»Guten Tag«, sagte der braungebrannte Herr, nickte mit dem Kopf, was seine, auf einem dunkelgrünen Filzhut mit braunem Hutband befestigten Fasanenfeder zum Wippen brachte, und trat durch die weit geöffnete Glastür (es war schließlich Sommer) ins Innere.
»Den wünsche ich ihnen auch«, erwiderte ich dem Herrn, der sich nun ein wenig im Geschäft umsah. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, immer darauf bedacht, nichts umzuwerfen, ließ er seinen Blick zwischen meinen Objekten hin und her gleiten, schaute da und dort etwas genauer hin, nahm das ein oder andere Objekt in die Hand, um es zu prüfen, stellte es dann jedoch wieder an seinen Platz und lief auf diese Weise die kleinen schmalen Gänge auf und ab.
»Wenn ich Ihnen die Vitrinen öffnen soll, dann sagen Sie es bitte«, bot ich an, als ich bemerkte, dass der Herr sich abmühte, etwas in einer Vitrine Befindliches von allen Seiten zu begutachten. Er freute sich sichtlich über das Angebot und ließ sich die Vitrine öffnen. Zielstrebig griff er nach einem kleinen gemalten Bild mit der Darstellung eines Bürstenbildnisses des »Alten Fritz«, also Friedrich des Großen von Preußen, den gerade mit Berlin sehr vieles verband. Ich wähnte mich bereits verkaufssicher. Wo würde ein solches Gemälde mehr Anklang finden können als hier? Gerade wollte ich dazu ansetzen, dem potenziellen Käufer das Gemälde schmackhaft zu reden, da traten ein weiterer Herr und eine Dame durch die Ladentür und verteilten sich mit gemurmelten »Tag« und »Wir wollen uns nur einmal umschauen« im Geschäft. Nun hieß es für mich, ein wachsames Auge auf alle Kunden zu haben. Wie schnell könnten sonst kleine Kunstobjekte in den Taschen verschwinden, und gerade da es nicht meine eigene Ware war, achtete ich auf jede kleine Regung der Besucher. Geklaut wird überall. Auch im Antikhandel. Das habe ich auch auf den Märkten und Messen erleben müssen. Oft durch Erzählungen von betroffenen Händlern, ab und an aber auch am eigenen Stand. Doch hier im Geschäft war es einfacher, alles zu überblicken. Ein kleiner Laden ist da absolut von Vorteil, und die Menschen, die ihn betraten, verhielten sich meist sehr vornehm und ehrfurchtsvoll gegenüber den ausgestellten Altertümern, weshalb ich nie das Gefühl hatte, ernsthaft einen Diebstahl verhindern zu müssen.
»Das Gemälde vom Alten Fritz ist vorderseitig signiert. Der Künstler ist leider unbekannt. Ich denke, es war ein Berliner Maler. Man sieht die filigrane Signatur unten rechts am Gewand. Wenn Sie mal schauen wollen, habe ich hier auch eine Lupe für Sie«, sagte ich und reichte dem Herrn meine Lupe. Er ergriff sie, schaute kurz auf die Signatur, dann fuhr er mit der Lupe weiter über das Bild, betrachtete das filigran gemalte Gesicht, den Dreispitz und natürlich die vielen Orden, welche auf keinem Bildnis Friedrich des Großen fehlen dürfen. Er gab mir die Lupe zurück.
»Das gefällt mir sehr gut. Was soll es denn kosten? Wissen Sie, ich sammle Miniaturgemälde und Berliner Ansichten, und da würde er ganz gut dazwischen passen.«
»Das ist ein tolles Sammelgebiet. Ich habe noch eine Ansicht von Schloss Charlottenburg, vom Park aus betrachtet. Es sollte so in den 1890er-Jahren gemalt worden sein. Der Alte Fritz kostet 450 Euro«, erklärte ich dem Interessenten.
»Vom Schloss Charlottenburg habe ich bereits einige Ansichten. Sie können sie mir gern zeigen, aber ich denke der Alte Fritz passt eher noch in meine Sammlung.«
Ich zeigte dem Herrn das Gemälde, welches mit einem stattlichen Prunkrahmen an der Wand hing. Er lobte es, winkte jedoch dankend ab und widmete sich wieder dem Studieren des Miniaturgemäldes.
Die beiden anderen Antikinteressierten hatten sich unterdessen im Laden umgesehen und waren im Begriff zu gehen.
»Wir kommen später noch einmal wieder. Heute fehlt uns ein wenig die Zeit«, sagte die Dame, während sie mit ihrem Mann händchenhaltend meinen Laden verließ. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, und schauen Sie bald wieder einmal vorbei.«
Der Miniaturbildsammler stellte das Gemälde wieder vorsichtig in die Vitrine zurück, bedankte sich für die nette Beratung und meinte, es sich noch einmal zu überlegen zu müssen. Er wünschte mir einen schönen Tag und viel Erfolg weiterhin mit meinem Geschäft und verschwand sodann im Getümmel des menschenvollen, unter der Hitze der Sommersonne flirrenden Kurfürstendamms.
So sollte es noch einige Zeit weitergehen. Tatsächlich kamen viele neugierige Antiquitätenbewunderer in meinen Laden, fragten begeistert nach diesem und jenem Stück, das wohl sehr gut in ihre Wohnung passen würde, stürzten sich auf meinen angebotenen frisch aufgesetzten Tee, kauften jedoch leider nichts. Nach drei Monaten hatte ich nicht einen einzigen Cent Umsatz zu verzeichnen.
Die Schließung des Ladens war die logische Konsequenz und tat mir in der Seele weh. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie ich das Geschäft nach und nach in Eigenregie führen würde und wie ein florierender Laden in der Hauptstadt auch zur Unterstützung der Baumaßnahmen am Familienschloss beigetragen hätte. Aber Imagination und Realität sind oftmals nicht zu vereinen. Im Nachhinein betrachtet bin ich jedoch kein Stück traurig darüber. Berlin ist in meinen Augen eine nervtötende, alles erstickende und exzessiv gestresste Stadt, in der ich mein Lebtag nicht glücklich geworden wäre.
So zog ich wieder in die 65 Einwohner starke Metropole Brandenstein zurück und genoss nun in noch volleren Zügen, wenngleich auch etwas wehmütig, das Gezwitscher der Vögel, das Rauschen des Windes in den Baumkronen des Schlosswaldes und das nächtliche Rufen des Uhus. Nichts deutete darauf hin, dass es mich schon bald wieder in eine Großstadt ziehen würde.