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Staunen: die Welt zu uns sprechen lassen
ОглавлениеUm zu staunen, eine ehrfürchtige Haltung gegenüber etwas in der Wirklichkeit zu entwickeln, muss man zunächst da sein, im Hier und Jetzt. Franziskus schreibt:
»Wir sprechen von einer Haltung des Herzens, das alles mit gelassener Aufmerksamkeit erlebt; das versteht, jemandem gegenüber ganz da zu sein, ohne schon an das zu denken, was danach kommt; das sich jedem Moment widmet wie einem göttlichen Geschenk, das voll und ganz erlebt werden muss. Jesus lehrte uns diese Haltung, als er uns einlud, die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels zu betrachten, oder als er in der Gegenwart eines unruhigen Mannes diesen ansah und ihn liebte (vgl. Mk 10,21). Ja, er war jedem Menschen und jedem Geschöpf gegenüber ganz da, und so zeigte er uns einen Weg, die krankhafte Ängstlichkeit zu überwinden, die uns oberflächlich, aggressiv und zu hemmungslosen Konsumenten werden lässt« (LS 226).
Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Studienzeit in Erlangen: In meinem letzten Studienjahr verbrachte ich viele Tage in der Bibliothek und lernte für die Abschlussprüfungen. Doch mit der Zeit wuchs ein Gefühl von Panik, weil mir bewusst wurde, dass ich niemals alles lesen und behalten konnte, was zu lernen war. Je länger die Lernzeiten pro Tag wurden, desto verspannter wurde ich und desto größer wurde die Panik. Was mir sehr geholfen hat, war, jeden Tag kurze Spaziergänge durch den Botanischen Garten zu machen und einfach zu schauen und wahrzunehmen. Wie viel gibt es in einem Garten im Frühling zu bestaunen! Ich konnte spüren, wie sich dabei die Verspannungen lösten. Die Angst war dadurch nicht weg, aber entmachtet, und ich konnte danach wieder klarer sehen, was wesentlich war.
Ganz in der Gegenwart zu sein ist sehr einfach, aber nicht unbedingt leicht. Es beginnt damit, die Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit bewusst auf die eigenen Körperempfindungen und Wahrnehmungen zu richten – ohne gleich darüber nachzudenken oder etwas zu bewerten. Gefühle und Gedanken dürfen sein, man kann sie freundlich annehmen und wieder ins Wahrnehmen zurückkehren. Später ist wieder Zeit zum Nachdenken über die Probleme in unserem Leben und in der Welt.
Obwohl wir leibliche Wesen sind, werden wir in unserer Kultur häufig nicht ermutigt, ganz in der Gegenwart zu sein. Zum einen sollen wir uns dem Multitasking widmen und so unsere Aufmerksamkeit auf viele Dinge auf einmal verteilen. Eine gelassene Aufmerksamkeit auf eine einzelne Sache, eine einzelne Person, die uns jetzt gegenübersteht, ist selten der Fall, wir sind es schlicht nicht gewohnt. Zum anderen wissen wir, wenn wir einmal im Hier und Jetzt angekommen sind, häufig nicht, wie wir mit der Gedankenflut aus dem Gestern und dem Morgen umgehen können. Aus der Vergangenheit kommt oft ein Gefühl von Ärger (über andere, über uns selbst, über die Welt) oder ein Schwelgen in schönen Erinnerungen. Die Zukunft drängt mit Angstgefühlen oder mit Tagträumen in unser Bewusstsein.
Im Jetzt aber ist Fülle. Angst, Ärger, Erinnerungen und Träume treten in den Hintergrund. Im Hier und Jetzt habe ich Zugang zu Gott, und zwar über meinen Leib, der »Tempel des Heiligen Geistes« ist (1 Kor 6,19). Gott ist dann kein Resultat meines Nachdenkens, sondern er zeigt sich. So wie sich mir die Wirklichkeit öffnet, wenn ich wahrnehmend dabei verweile.
Vielen hilft es, regelmäßig Sport, Achtsamkeitsübungen, Yoga oder Qi Gong zu machen, zu tanzen, zu wandern, zu singen – oder irgendeine andere Form von körperlicher oder handwerklicher Übung zu pflegen, die ins Hier und Jetzt holt. Menschliche Beziehungen, zweckfreie gemeinsam verbrachte Zeit und tiefe Begegnung, in denen man das miteinander teilt, was einen bewegt, sind ein weiterer Zugang in die Gegenwart Gottes. Wenn ich solchen Dingen Raum gebe, merke ich, wie die Welt mehr und mehr zu sprechen beginnt, wie ihr Zauber erwacht. Die Haltung der Ehrfurcht bei Ignatius, das Staunen, ist die Fähigkeit, bei diesem Zauber zu verweilen. Wage ich es, in meinem Alltag Zeiten für ein solches Verweilen freizuhalten, für ein »qualifiziertes Nichtstun« (Simon Peng-Keller) jenseits der Alternative von zielgerichteter Aktivität oder Schlaf?