Читать книгу Ich töte wen ich will - Fabio Stassi - Страница 11
X Tous ces pantins que je vois, ce sont eux
ОглавлениеCorso rührte sich den ganzen Nachmittag lang nicht aus dem Wartezimmer der Tierarztpraxis. Gerne hätte er Feng angerufen, um sie zu bitten, so schnell wie möglich zu ihm zu kommen. Aber Feng war seit fast einem Monat in China. Erst hatten sie geplant, gemeinsam zu fahren, doch Corso hatte im letzten Moment einen Rückzieher gemacht. Er wollte nicht wieder die gleichen Fehler begehen wie bei Serena und hatte sich in ein peinliches Knäul aus Entschuldigungen und Zaudern verwickelt, aus dem er sich nicht einmal dann befreien konnte, als Feng ihm vorgeschlagen hatte, woanders hinzufahren, er solle sagen, wohin. Seit drei Wochen hatten sie weder schriftlich noch telefonisch voneinander gehört.
Das Plakat an der Wand zeigte die häufigsten Hunderassen, vom deutschen Schäferhund über den Labrador bis zum Jack Russell, mit Ausnahme des Weimaraners, und auch das erschien ihm als ein böses Omen. In einer Ecke erkannte er nur die schwarze, etwas plumpe Silhouette des Cane Corso.
Wer mochte ein Interesse daran gehabt haben, in seine Wohnung einzudringen? Was wollten sie? Und – wäre er früher zurückgekommen, wäre er ihnen dann im Treppenhaus begegnet?
Instinktiv suchte er nach seinen Zigaretten, aber er hatte sie zuhause gelassen. Diese Entdeckung löste ein Gefühl der Panik aus, wie er es noch nie in seinem Leben verspürt hatte. Sogar als seine Mutter gestorben war, war er ungerührt sitzengeblieben, wie angesichts eines beliebigen Ereignisses. Erst beim Verlassen des Krankenhauses hatte ihn am Fuß der Treppe ein Weinkrampf überfallen, er hatte sich an eine Wand lehnen und sein Gesicht mit den Händen bedecken müssen, um vor den Leuten, die hinaufgingen, nicht wie ein Kind zu schluchzen. Es hatte jedoch nur wenige Sekunden gedauert, kaum war er draußen, hatte er seine gewohnte Selbstbeherrschung zurückgewonnen. Jetzt aber wurde er von Kälteschauern und Herzrasen geschüttelt und verspürte wahnsinnige Lust zu rauchen. Das Bild von Django auf dem Boden mit dem Blut, das ihm aus der Nase rann, ging ihm nicht aus dem Kopf.
Er griff nach einer Zeitschrift auf der Bank an der Wand. Es war eines dieser Magazine über Haustiere mit langen Fotoreportagen, in denen die Sommerferien gefeiert und die besten haustierfreundlichen Hotels Italiens vorgestellt werden. Hastig blätterte er es durch, ohne Interesse. Dann bemerkte er eine zwei Tage alte Ausgabe des Messaggero, die auf einem Stuhl liegengeblieben war. Es bereitete ihm immer großes Vergnügen, die Nachrichten zu überfliegen, wenn sie für andere schon alt oder überholt waren; ihm schien das eine Art Protest: Das Leben hat kein Ablaufdatum. Gabriel legte ihm oft die Morgenzeitungen oder die vom Vortag ans Fenster der Hausmeisterloge, und Corso nahm sie mit aufs Dach. Nach dem Abendessen suchte er sich eine alte Platte aus, legte sich aufs Sofa und schlug die bereits veralteten Zeitungen auf. Er las allerdings nur die Nachrufe, die Kino- und Theaterseiten und die Sportnachrichten. Bei den Horoskopen verdoppelte sich das Vergnügen, denn es war, als betrachtete man ein Kreuzworträtsel, dessen Lösungen man schon kannte. Doch jetzt war er nicht in seiner Wohnung, und Django lag nicht schwanzwedelnd zu seinen Füßen. Die Ausgabe, die er in Händen hielt, beschäftigte sich vor allem mit den riskanten Auswirkungen des Brexit in Spanien, die abgewendet werden konnten, und mit Fußball: Conte bereitete Italien auf die nächste Runde der Europameisterschaft vor. Für das Sternzeichen Stier würde es wegen der bevorstehenden Nähe des Mondes zur Erde eine Woche mit einem Knaller werden.
Er blätterte um. Nachrichten aus Rom.
Alle Teilnehmer der Beerdigung, die vor einigen Monaten in der Kirche Santa Bibiana stattgefunden hatte, waren von der Anklage der Verherrlichung des Faschismus freigesprochen worden. Eine Wache hatte dem Bankier Giovanni Antonio De Stefani, der tot am Rand der Via Appia aufgefunden worden war, mit Fahnen und römischem Gruß die letzte Ehre erwiesen, während sie den Sarg vom Wasserturm bis zur Eisenbahnunterführung eskortierte. Der Rest des Lokalteils war einem anderen kriminellen Vorfall gewidmet, der sich an der Küste abgespielt hatte.
»AUSLÄNDER AN DER STRANDPROMENADE VON TARQUINIA ERSCHOSSEN«
Das Verbrechen hatte sich am frühen Sonntagnachmittag ereignet, und die Schilderungen der Gluthitze an jenem Tag überschlugen sich förmlich vor Emphase. Das leuchtende Rot der Sonne bedeckte den Horizont, das Licht fiel auf den Sand wie ein Säbelhieb, und manchmal glitzerten ein Glassplitter oder eine Muschel am Meeressaum. In diesem blendenden Licht, schrieben die Zeitungen, war vor dem Strand von Tarquinia die Leiche eines dreißig bis vierzig Jahre alten Mannes nordafrikanischer Abstammung gefunden worden. Er hatte fünf Schusswunden und lag mit dem Gesicht nach unten im Sand. Unter seinem Oberkörper strömte Blut hervor wie aus einem Flaschenbauch mit Loch. Das Geräusch der Schüsse war über viele hundert Meter entlang der Küste zu hören gewesen, und alle Zeugenaussagen stimmten darin überein, dass man erst einen, dann nach wenigen Sekunden weitere vier Schüsse gehört hatte. Die Badegäste nah am Tatort hatten, im Wasser stehend, mit Blicken die Küste abgesucht, um zu verstehen, von wo die Schüsse abgefeuert wurden. Ein altes Ehepaar hatte schließlich die Leiche entdeckt und Alarm geschlagen. Auf ihrem Spaziergang am Ufer der kleinen Sandbucht war ihnen ein dunkler Umriss von etwas am Boden Liegendem aufgefallen. Niemand war in der Nähe. Der Killer konnte sich ins Landesinnere geflüchtet, das heißt sich im Gebüsch hinter dem Strand versteckt haben, vielleicht war er sogar ins Meer gesprungen und hatte sich mit wenigen Schwimmstößen vom Tatort entfernt. Die alte Dame war verängstigt und hatte ihren Mann zurückhalten wollen, doch der, ein pensionierter Hauptmann der Carabinieri, hatte Erfahrungen mit dergleichen Vorkommnissen. Es genügte ihm, den Puls des Unglücklichen zu fühlen. Die Untersuchungen sollten später bestätigen, dass der erste Schuss die rechte Herzkammer getroffen hatte, die anderen vier Kugeln, deren Eintrittslöcher der Hauptmann auf dem nackten Rücken des Mannes sah, waren nur ein sinnloses Wüten gegen einen hilflosen Körper gewesen. Unweit des Toten hatte die Polizei auf dem rotgetränkten Sand einen kleinen Rucksack auf einem bunten Badetuch mit dem Gesicht von Bob Marley und der Aufschrift Africa United gefunden. Den ersten, aus der polizeilichen Ermittlungsarbeit durchgesickerten Informationen zufolge, war die wahrscheinlichste Spur eine Abrechnung zwischen einzelnen Gruppen, die den Drogenhandel an der Küste von Ostia bis Tarquinia kontrollierten. Würde sich das bestätigen, dann wäre es der Beweis, dass zwischen den arabischen Handlangern des internationalen Drogenhandels, der nigerianischen Mafia und den lokalen Mafiaclans ein Krieg im Gange war. Einige Artikel betonten, wie gefährlich dieser Abschnitt der tyrrhenischen Küste war, da die Ausländer sich organisierten und die Einwanderung aus Marokko und Tunesien für zahlreiche Nachwuchskräfte sorgte. Nur wenige Kommentatoren vermuteten ein anderes Motiv und sahen einen Zusammenhang zwischen der Tat und den zunehmenden Vorfällen von Rassismus in Touristenorten, ein Phänomen, das in den vergangenen Wochen großes Thema in den nationalen Tageszeitungen gewesen war.
Corso faltete die Zeitung zusammen. Am vergangenen Sonntag hatte er sich Gabriels Auto geliehen, und nach dem Mittagessen war er genau an diesem Küstenabschnitt mit Django spazieren gegangen. Aber er hatte nichts bemerkt. Er musste aufstehen, konnte nicht länger stillsitzen. Er versuchte, zwischen dem Fenster und dem engen Flur zum Eingang hin und her zu gehen. Die Sekretärin hob die Augen von einem Papier und streifte ihn mit einem raschen, aber nicht zerstreuten Blick. Wusste sie etwas, was ihm verschwiegen wurde? Es war sicher nicht leicht für sie, jeden Tag mit kranken Tieren zu tun zu haben, Dutzende Anrufe entgegenzunehmen und im Computer all die Hilferufe festzuhalten, die von der Klinik abgewiesen werden mussten. Corso erschien das als eine Last, die sogar schwerer zu ertragen war als die der Tierärzte, und er verspürte eine überraschende Verbundenheit mit der jungen Frau. Er wusste, dass Register diejenigen, die sie erstellen müssen, nie unversehrt lassen. Wer weiß, was die Frau nachts träumte, von welchen Karteikarten sie verfolgt wurde. Auch schien ihm, dass sie einen versehrten Arm hatte, den linken.
Er kehrte zurück und setzte sich wieder, es gab nichts anderes zu tun. Wie viel Zeit würde vergehen, bevor er eine Antwort bekäme? Hätte er beten können, wäre jetzt der richtige Moment gewesen, doch er erinnerte sich nicht einmal an den Wortlaut des Ave Maria oder des Vaterunser. Wieder stand er auf und fragte die Sekretärin, ob er die Toilette benutzen dürfe. Seine Hemdsärmel waren noch blutbefleckt, etwas Blut war auf die Hose und die Arme gespritzt. Die Frau sah ihn schweigend an, bevor sie sagte: »Die Toilette ist rechts«.
Was er in den folgenden Stunden tat und worüber er nachdachte, wusste Corso nicht mehr. Er konnte nur bestätigen, dass er die ganze Zeit dort gewartet hatte. Gegen halb fünf nachmittags war ein Mann hereingekommen, dessen unförmiger Bauch aus dem Hemd quoll. Er hatte einen Beagle bei sich, der Corso unablässig anbellte, bis sein Herrchen ihn mit einem Tritt gegen die Hüfte zum Schweigen brachte und das Tier winselte wie ein verletztes Eichhörnchen. Später hatte sich eine Frau mit starkem toskanischem Akzent ihm gegenüber hingesetzt, die einen Chihuahua in der Tasche trug, und danach ein Mann, dessen Schnurrbart ebenso aschgrau war wie das Fell seines Siberian Husky.
Als das Wartezimmer sich wieder geleert hatte, hatte Corso als letzten Besucher einen Blinden ankommen sehen. Er bewegte einen Klappstock, eine Hälfte rot, die andere weiß; ein schwarzer Labrador führte ihn. Der Hund war auf Corso zugekommen und hatte seine Hosen beschnüffelt, während sein Herrchen einen Platz suchte. Als er saß, hatte der Blinde den Kopf an die Wand gelehnt und sich dann, fast zerstreut, die Brille abgenommen, um sich die Stirn abzuwischen. Corso hatte den Eindruck, dass in der grauen Iris seiner Augen auch die Pupillen fehlten, doch er konnte das nicht überprüfen, weil der Blinde sie sofort wieder hinter den Brillengläsern versteckte. Dann zog er ein Buch mit einem weißen, glänzenden Umschlag aus seiner Jackentasche und begann, mit den Fingern darin zu lesen.
Kurz darauf trat die Ärztin mit den roten Haaren auf den Flur hinaus, endlich. Corso ging auf sie zu, ohne seine Besorgnis zu zügeln, doch sie musste ihn bremsen. Auch wenn er die Nacht überstehen würde, könne man keine Prognose wagen: Ihr Hund kämpft jetzt zwischen Leben und Tod, sagte sie, genau so, zwischen Leben und Tod, der Ausgang hinge allein davon ab, wie er auf die Behandlung reagiere und wie tief das Gift in ihn eingedrungen sei. Vorerst habe sie ihn sediert und in ein künstliches Koma versetzt, doch sie wisse nicht, wie lange sich dieser Zustand aufrechterhalten ließe.
»Ich habe alles getan, was möglich ist, glauben Sie mir, gehen Sie und ruhen Sie sich aus.«
Corso bat darum, ihn einen Moment lang sehen zu dürfen. Wortlos führte die Ärztin ihn zum letzten Zimmer auf dem Flur.
Django lag auf dem Boden, abgeschirmt, zwischen Plastikwänden, ein Infusionsschlauch war mit einem blauen Pflaster an seinem Hinterlauf, ein anderer am Vorderlauf befestigt. Aus dem Infusionsbeutel floss eine durchsichtige Flüssigkeit im konstanten Rhythmus von einem Tropfen alle drei, vier Sekunden. Von Zeit zu Zeit durchzuckte ein Zittern Djangos Körper, was auch nachts häufig geschah, wenn er schlief, und die Maske des Beatmungsgeräts beschlug bei jedem Atemzug.
Als Corso ins Wartezimmer zurückkehrte, war niemand mehr da, nur ein weißes Buch lag auf dem Stuhl neben seinem. Der Titel war in Brailleschrift auf das Cover geprägt.
»Er ist soeben gegangen«, sagte die Sekretärin, während auch sie sich anschickte, die Klinik zu verlassen. »Wenn Sie sich beeilen, holen Sie ihn bestimmt noch ein.«
Corso nahm das Buch an sich und ging hinaus. Draußen hielt eine endlos lange sommerliche Abenddämmerung die Stadt noch immer umhüllt, doch die Hitze schien sich abgeschwächt zu haben, man spürte den Hauch eines leichten Seewinds von Westen.