Читать книгу Ich töte wen ich will - Fabio Stassi - Страница 12
W Je vois qu’passer du brouillard sur mes yeux
ОглавлениеEr hatte sie gerade noch um die Ecke biegen sehen, doch als er bei der Ampel ankam, waren sie verschwunden. Unter den Passanten, die auf der Allee Richtung Bahnhof unterwegs waren, keine Spur von einem Blinden und seinem Hund. Er schritt schneller aus und folgte wieder den Straßenbahngleisen in der Via Carlo Felice. Zweimal meinte er, sie hundert Meter vor sich zu erspähen, doch beide Male verlor er sie wieder. Unter einer Treppe kamen die Klänge eines Xylophons und eines Schlagzeugs hervor, zwei ungewöhnliche Instrumente für einen Sommerabend wie diesen.
Als er auf der Piazza Vittorio ankam, war es, als hätten die Straßen sich mit Blinden gefüllt: eine Frau mit grauen, im Nacken zusammengebundenen Haaren und einem Metallschild um den Hals verkaufte getrocknete Blumen; ein anderer klopfte in regelmäßigen Abständen mit dem beschlagenen Knauf seines Stocks gegen die Mauern der Arkaden; ein Dritter mit einer Ledertasche vor der Brust stand im Eingang der Apotheke. Der Mann, den er verfolgte, saß an einem Tischchen des Kiosks auf der anderen Straßenseite, der schwarze Hund kauerte zu seinen Füßen. Corso schien, als lächelte er.
Er wartete nicht, bis die Ampel auf Grün umsprang und stürzte sich zwischen die rasselnden Straßenbahnen und die wenigen Autos. Doch jeder Schritt ohne Django war ein hinkender Schritt, das erfasste er jetzt voll und ganz. In den letzten Monaten hatte dieses Tier ihm als Kompass und Anker gedient und ihn am Boden gehalten, nicht die Arbeit, die er sich ausgedacht hatte, und auch seine gelegentlichen Liebschaften nicht, die ein paar kurze, leuchtende Nachmittage lang seine Einsamkeit gelindert hatten. Wenn Django die Nacht nicht überlebte, würde er von nun an mit diesem Schritt durch die Welt gehen müssen.
In dem Moment hupte einen Meter neben ihm ein wütender Autofahrer, weil Corso mitten auf der Kreuzung stehengeblieben war, unschlüssig, ob er weitergehen und umkehren sollte. Hätte der Mann ihn höflich darum gebeten, Corso hätte ihm Platz gemacht und sich entschuldigt. Doch der Mann hatte wie ein Irrer auf seine Hupe eingeschlagen, und wer weiß, was noch passiert wäre, wenn seine Frau ihm nicht gesagt hätte, er solle nachgeben, sah er denn nicht, dass er den König der Idioten vor sich hatte? Das Auto schaltete in einen hektischen Rückwärtsgang, umfuhr das Hindernis mit ein paar Manövern und raste unter Beschimpfungen davon. Erst als der Wagen am Ende der Straße verschwand, kam Corso wieder zu sich und beschloss, endlich die Straße zu überqueren.
Er ging an der langen Gitterschranke an der Straßenbahnhaltestelle entlang, doch als er beim Kiosk ankam, waren alle Tischchen leer. Er drehte sich um. Auch die Bettlerin mit den Blumen war verschwunden, die anderen Blinden in den Arkaden waren ebenfalls nicht mehr zu sehen. Er legte das Buch auf einen Tisch in seiner Nähe und ließ sich auf einen Metallstuhl fallen, von einer Art Seekrankheit überwältigt.
Das Erste, was bei ihm ankam, war das Kreischen der Räder. Dann die Schreie zweier Frauen auf dem Gehweg und schließlich die Schreie der Menschen in der Straßenbahn 19: ein Mann war auf den Gleisen ausgerutscht und gestürzt. Vielleicht war es ein aufblitzender Strahl der untergehenden Sonne in einem Fenster, vielleicht ein Steinchen unter dem Schuh, vielleicht das Öl, das eine vom Markt kommende Frau vergossen hatte. Die Frau am Steuer der Straßenbahn hatte entsetzt die Bremse gezogen und der Wagen hatte etwas wie das Trompeten eines Elefanten von sich gegeben, doch die Tram war bereits in die Kurve gefahren und rollte nun dank des Trägheitsmoments weiter. Einige Passagiere waren hingefallen, andere hatten sich mit aller Kraft an die Eisenstangen geklammert, einer hatte sich die Tasche vors Gesicht gehalten, war aber hart gegen das Fenster geprallt. Ein Knall, wie etwas, was zerplatzt. Glassplitter, die der Fahrerin entgegen spritzen, andere, die nach draußen auf die Gleise fliegen, die Straßenbahn, die abrupt zum Stehen kommt. Als der Lärm des Unfalls einer eisigen Stille wich, rollte auf den dunklen Pflastersteinen Roms eine rote, unförmige Kugel über die leichte Neigung an dieser Stelle der Straße. Corso sprang auf, wollte instinktiv zum Unfallort eilen … Mit Grauen sah er, dass der abgetrennte Kopf eines Passanten langsam auf ihn zu rutschte. Ekel lähmte seine Glieder und verschleierte ihm den Blick.
Wenige Minuten später war der Platz voller Krankenwagen und Streifenwagen der Polizei. Viele Frauen hatten einen Schock erlitten und wurden weggebracht, die von den Glassplittern verletzte Straßenbahnfahrerin erhielt erste Hilfe. Es ist nicht meine Schuld, sagte sie unaufhörlich, es ist nicht meine Schuld. Der Leichnam des Opfers wurde mit einem glänzenden Tuch bedeckt, doch man konnte ihn erst fortschaffen, als alle Untersuchungen, die ein solcher Fall erforderte, abgeschlossen waren.
In der Via Carlo Felice und den anderen Verkehrsadern des Viertels bildete sich eine Schlange aus Autos, Touristenbussen und Straßenbahnen, die eine hinter der anderen stillstanden wie eine geordnete Reihe Ameisen, während unter den Arkaden die Schar der Neugierigen stetig wuchs. Es dauerte über eine Stunde, bis der Platz wieder geräumt war. Einige chinesische Barbetreiber, die an der Ecke arbeiteten, kümmerten sich darum, die Blutlache, die sich noch immer auf den Gleisen ausbreitete, mit Sägemehl zu bestreuen.
Corso beobachtete das traurige Durcheinander. Seine Augen konnten sich nicht von der runden Masse am Boden lösen, die mitleidige Hände mit einem Laken vor der morbiden Neugier der Menschen geschützt hatten. Das hätte ihm selbst passieren können. Wenn er noch später dran gewesen wäre, wenn er nicht diesem Blinden gefolgt wäre, wenn er es geschafft hätte, ihm das Buch wiederzugeben, das er noch immer bei sich trug … Ein Polizist, der die Aussagen der Augenzeugen aufnahm, kam, um ihm einige Fragen zu stellen. Der Tote war noch keine vierzig Jahre alt, und dem Anschein nach ein holländischer Tourist.
Er brauchte eine weitere halbe Stunde, bevor er Kraft genug hatte, um den Nachhauseweg anzutreten. Die Tür seiner Dachwohnung ließ sich mühelos öffnen, aber die Unordnung traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er wusste, in welchem Zustand er die Wohnung verlassen hatte, und war dennoch überrascht, als hätte sich das Chaos inzwischen noch vergrößert. Recht bedacht, schien es unmöglich, dass sie alles derart durcheinandergebracht hatten und das innerhalb so kurzer Zeit. Außer den Hängeschränken in der Küche und dem Waschbecken war nichts mehr an seinem Platz, selbst der Kühlschrank war von der Wand abgerückt worden.
Er schob die Bücher mit den Füßen beiseite und kniete nieder, um sie zu kleinen Stapeln aufzuhäufen. Die zerbrochenen Platten fegte er weg. Léo Ferré, Cheb Bami, Charles Aznavour, Juliette Gréco, Georges Moustaki … Er zerrte den Lederstuhl dorthin, wo er immer gestanden hatte, hob die Schreibtischschubladen vom Boden auf und sammelte die herausgerissenen Buchseiten und andere, auf dem Parkett verstreute Papiere ein. Zuletzt stieg er auf den Hängeboden und legte alle aufs Bett geworfenen Kleidungsstücke zusammen. Nachdem er sie wieder im Schrank verstaut hatte, öffnete er in der Küche die Kaffeedose auf dem Fensterbrett, füllte die Espressokanne und stellte sie auf den Herd.
In dieser Nacht zündete Corso sich eine der Gitanes aus seinem Vorrat an, nach der er sich den ganzen Tag lang gesehnt hatte und begann, einen Brief an seinen Vater zu schreiben. Auch dies war im Grunde eine abgebrochene Beziehung ja, die Mutter aller Beziehungen, die er in seinem Leben abgebrochen hatte. Er setzte sich in die Mitte des Zimmers, das monatelang sein Refugium gewesen war, wie in die Mitte eines geschändeten Hauptquartiers und schlug ein Notizbuch mit rotem Einband auf, das wer weiß woher aufgetaucht war. Solche Notizbücher besaß er zu Dutzenden, zwischen den Büchern verstreut, denn er war überzeugt, dass der Moment kommen würde, da er sie brauchte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er dieses auf einer Reise durch Nordspanien gekauft. Er glättete den Falz mit einem Finger, leckte an der gerundeten Ecke der Seiten und begann:
Lieber Vater,
bis jetzt habe ich dir nur Ansichtskarten geschrieben, jahrelang, jeden Tag, an die Adresse des Hotels, wo du mich gezeugt hast, die einzige Verbundenheit, die das Leben uns gewährt hat, unsere vereinbarte, schicksalhafte Adresse. Eine Unzahl fragmentarischer Sätze, nichts als das, denn du und ich, wir haben keine gemeinsamen Erinnerungen, also auch nicht Liebe noch Hass, keine Anhäufung von Vorwürfen und Ressentiments, keine Anschuldigung, kein Tadel, diese stillschweigende Verschwörung der Spiegel, wie sie immer zwischen einem Vater und einem Sohn herrscht und sich manchmal in einen tödlichen Kampf verwandelt, manchmal in die verheerendste Zuneigung zu dem, der uns vorausgeht oder uns folgt, das hängt von der Rolle ab, die uns bei dieser unvermeidlichen, und ja, geradezu klassischen Komödie zugewiesen wurde.
Die Worte ergaben sich von selbst, ohne dass er sie suchen musste, ja ein paar Sätze erwiesen sich als überflüssig, waren folglich zu streichen.
Heute Abend will ich dir aber einen abschließenden Brief schreiben. Einen unmöglichen Brief an einen inexistenten Adressaten. Du hast mich vom »Spiegeln« befreit und vom Wettkampf, mithin sowohl von der Rivalität als auch vom Nacheifern. Dennoch bist auch du, wie K. an einen sehr viel dominanteren Vater schrieb, für mich das Maß aller Dinge gewesen. Dein Sohn zu sein, bedeutet, ein Sohn der Abwesenheit zu sein, aufgrund von Genetik und Schicksal einer Familie von Gespenstern anzugehören, Blutsbande mit den Schatten geschlossen zu haben.
Er hob den Stift vom Blatt. Ging einen Lappen mit Wasser tränken und fuhr damit über die Stelle, wo er Django gefunden hatte. Das Blut aus seiner Nase war auf dem Parkett zu kleinen dunklen Flecken geronnen. Sie wirkten wie eine natürliche Verfärbung des Holzes, doch er brauchte nur kräftig zu reiben, um sie zu entfernen. Er wrang den Lappen mehrmals aus, und das Wasser im Eimer wurde erst trübe, dann dunkel. Als er ihn im Bad ausgoss, spürte er, wie ihn die ganze Müdigkeit der letzten Stunden überfiel. Die restlichen Dinge würde er morgen aufräumen.
Zurück am Schreibtisch, klappte er das Notizbuch zu und ließ es auf dem Tisch liegen, auch den Brief verschob er auf einen späteren Zeitpunkt. Er zog sein schmutziges Hemd aus und warf sich aufs Bett, breitete die Arme aus und öffnete die Handflächen zur Decke. Gijón, dieses Notizbuch hatte er in Gijón in Asturien gekauft. Er war dort hingefahren, weil er eine Skulptur an der Küste vor dem Ozean sehen wollte. Das waren seine Obsessionen aus früheren Zeiten: die Grenzen der Welt sehen, sie fotografieren, daraus eine Karte zusammenstellen. Bis jetzt hatte er nur die näheren Grenzen besucht und alle in einem Notizbuch verzeichnet, das er Stationen genannt hatte. Das Tor zu Europa in Lampedusa, die Klippen von Cabo da Roca, das »Lob des Horizonts« in Gijón. Dieser Name hatte ihn fasziniert, seit er ihn kannte. Es war eine der nördlichsten Grenzen der iberischen Halbinsel, also von Kontinentaleuropa, eine Grenze des Festlands, obwohl diese Bezeichnung eigentlich dumm ist, dachte er, denn auch Inseln sind Festland. Er war dort angekommen, nachdem er einen grünen Hügel hinaufgestiegen war, den Cerro de Santa Catalina, auf dessen Gipfel sich dieses Monument aus Stahlbeton abzeichnete, ein offener Ring wie ein Magnet oder ein Hufeisen, gestützt von zwei enormen Pfeilern am Rand eines Kaps.
Emiliano, sein Buchhändlerfreund, behauptete, der Horizont gehöre inzwischen einer vergangenen Menschheitsepoche an, als er noch eine magnetische Verlockung oder ein Glücksversprechen war. Als man auf Sicht und mit den Sternen segelte. Doch für den Brief, den zu schreiben er nie den Mut gehabt hatte, konnte es kein geeigneteres Heft geben. Er wollte einschlafen und träumen, dass er zu den Azoren oder zum Ural oder nach Island aufbrach, doch erst schob er das Mobiltelefon auf dem Nachttisch näher zu sich. Nachdem er den Versuch gemacht hatte, einige Wochen lang ohne auszukommen, hatte er vor kurzem wieder eines gekauft, ein einfaches Modell mit wenigen Funktionen. Er hoffte, es würde in dieser Nacht nicht läuten, denn danach hätte er das Geräusch für alle Zeiten gehasst und hätte das Telefon loswerden müssen, diesmal für immer, den Koffer packen, alles zurücklassen und wirklich zum Nordkap oder an irgendeinen anderen abgelegenen Ort auf dem Planeten Erde aufbrechen.
Wieder verfluchte er sich, weil er sich nicht an den Wortlaut des kleinsten Gebets erinnerte. Er stieß das Laken mit den Füßen von sich, die Hitze in dieser Dachwohnung war unerträglich. Das Dach schien Wärme auszustrahlen, und kein Lufthauch drang durch die Fenster. Er stand auf, von einer Unruhe gepackt, gegen die es kein Mittel gab, und beschloss, nach draußen zu gehen.