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Ehrgeiz
ОглавлениеProvinz Vynnland – Das Moor, heute
Erstickende Hitze füllte das Innere des Wagens wie zäher Brei. Die Welt schien nur noch aus einem endlosen Schaukeln zu bestehen. Er hätte sich gern erbrochen, aber sein Magen war leer. Zurück blieb nur noch die Übelkeit. Schmerzen in seinen Eingeweiden. Als ob sich eine stachelbewehrte Faust in seinen Magen wühlte.
Ob seine Augen geschlossen oder geöffnet waren, erkannte er nur durch den schwachen Lichtschimmer, der durch winzige Lüftungsschlitze fiel. Von draußen drang das Klappern und Knirschen der Räder an sein Ohr, mal ein Lachen, das Schnauben der Ochsen. Er sehnte sich zurück in die geborgene Finsternis des Verlieses, nach dem Brüllen und Gekreische aus den anderen Zellen. Dort schaukelte nichts und er bekam etwas zu essen. Der Sud war immer derselbe und schmeckte widerlich, doch er füllte den Bauch. Und es gab genug Wasser, mit dem er das Zeug hinunterwürgen konnte.
Selbst der Schmerz, wenn sie ihm heiße Flüssigkeiten in die Adern pumpten, die Fesseln, mit denen sie ihn fixierten, erschienen ihm verlockender als dieser elende Karren.
Wieder hörte er Lachen. Wie lange war es her, dass er einen Himmel gesehen hatte? Die warmen Strahlen der Sonne auf der Haut, das helle Licht in seinen Augen? Er wusste es nicht, hielt die Augen schon seit langem geschlossen, weil sie nichts zu sehen fanden. All dies erschien ihm wie fremde Erinnerungen, die aus seinem Verstand krochen wie Würmer aus alter Rinde. Würmer, die seinen eigenen Verstand auffraßen und nur Zorn zurückließen. Zorn auf die Ketten um seine Füßen und Arme. Auf das Schaukeln des Wagens und auf die da draußen.
Zorn.
Eine fremdartige Hitze stieg in ihm auf, verdrängte alle Geräusche, breitete sich aus, durchzuckte jedes einzelne Körperteil. Wieder ertönte ein raues Lachen. Rote Schleier tanzten vor seinen Augen. Und er nahm die kochende Wut auf wie einen alten Freund, umarmte sie, wurde eins mit ihr.
Er spürte den Schlag am ganzen Körper, als der Wagen hart über einen Stein rumpelte, schlug mit dem Hinterkopf an die Seitenwand, die Wut schoss in ihm hoch wie eine wilde Welle an der letzten Klippe.
Er wollte sie töten. Jetzt.
Sie alle.
* * *
Der junge Alchemist genoss das Laufen, denn nach den Tagen auf dem schlingernden Schiff war er froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben – auch wenn es nur dieser uralte, brüchige Damm von Thamhaven nach Albastairn war. Missmutig dachte er an diesen beschissenen Felsbrocken namens Casthil Rhygidor, auf dem er seit Jahren festsaß und als Adlatus des Großalchemisten diente. Die Seefahrten zwischen der Insel und dem Festland hasste er fast so sehr wie Großalchemist Fullen, dieses eingebildete, alte Klappergestell. Jedes Mal, wenn die Alchemisten einen vielversprechenden neuen Körper für das Große Experiment vorbereitet hatten, war er derjenige, der auf Geheiß Fullens auf das unruhig stampfende Schiff steigen musste, um Seine Gnaden, den Fürsten, auf dem Laufenden zu halten. Nur diesmal war es anders. Diesmal hatte ihn niemand geschickt. Denn dieser Körper war sein Werk.
„Götterversengte Hitze, ich brauch einen Schluck Wasser“, knurrte jemand hinter ihm.
Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter. Die brennende Sonne ließ kaum Schatten zwischen den knorrigen Sumpfbäumen zu, die Luft flirrte vor Hitze und unzähligen Fliegen, die die schwitzende Wachmannschaft umschwärmten. Ihre runden Helme glichen sicherlich kleinen Glutöfen. Zwischen den Wachen zerrten zwei Ochsen einen eisernen Karren, in den winzige Luftlöcher gestanzt waren, über den Damm. Die Hitze dieses Frühlings musste den Wagen mittlerweile ebenfalls unerträglich aufgeheizt haben, dachte der Alchemist. Kein angenehmer Ort, aber er musste sichergehen, dass seinem Passagier nichts geschah. Die Klinken der Türen waren mit einer Siegel-Paste bestrichen, damit niemand anderer als der Alchemist sie öffnen konnte.
„Nur noch ein paar Stunden, Männer“, sagte der Alchemist und tastete nach seiner Wasserflasche. Er nahm einen kräftigen Schluck und prostete dem Soldaten aufmunternd zu. „Dann gibt’s kühles Bier.“
„Kühles Bad wär mir lieber“, ließ sich ein anderer vernehmen.
„Aye, mir auch“, antwortete sein Nebenmann lakonisch und rümpfte demonstrativ die Nase. Einige lachten.
Der Alchemist wusste, dass es ihnen nicht gefiel, das Ziel seiner Reise nicht zu kennen. Aber er hielt es für sicherer. Sie glaubten, sie transportierten eine Ladung Solarit irgendwohin in Albastairn. In gewisser Weise stimmte das ja auch.
Rasch wandte er sich wieder um, damit die Wachen sein versonnenes Lächeln nicht sahen. Seine Gnaden, der Grandugh, würde sprachlos sein, sobald er einen Blick in das Innere des Wagens warf und ihm der Alchemist erklärte, was er in den letzten Monden auf Casthil Rhygidor tagein, tagaus heimlich vorbereitet hatte. Oder besser, wen.
Ein schreckhafter Vogel flog auf und verschwand, ärgerlich keckernd, in einer nahen Hecke aus Moorrosen. Nachdenklich blickte er dem zerbrechlichen Tier hinterher. Das wichtigste Problem des Experiments schien lange Zeit nicht gelöst: Jede menschliche Hülle war viel zu schwach. Sobald der Geistsplitter ihr innewohnte, war es, als habe jemand eine viel zu große Flamme in einer Papierlaterne entzündet, denn der Splitter war mächtiger als sie alle zu hoffen gewagt hatten.
Der Alchemist allein kannte den Grund für das Dilemma seiner Kollegen: Die Forscher auf der Insel legten zu großen Wert darauf, ihre eigene Haut zu retten, anstatt die Formeln weiterzuentwickeln. Ihr einziger Gedanke galt dem unberechenbaren Zorn des Grandugh von Albastairn. Das einzige, was sie mit Bestimmtheit wussten, war, dass sie die Formel wohl niemals vollständig zu entwickeln vermochten. Denn daran, dass seine seit Jahren mühsam entwickelten Formeln fehlerhaft waren, verschwendete Großalchemist Fullen keinen Gedanken – was, wenn das Leben so unergründlich wäre, dass es sich selbst durch die geschickte Manipulation von Alchemie und Technik nicht dazu zwingen ließe, den Wünschen des Menschen zu folgen?
Die Tatsache, dass die Hüllen nach der langjährigen Vorbereitung auf das Experiment bar jeder Menschlichkeit waren, löste das Problem nicht, im Gegenteil – noch immer wurden alle, die den Splitter in sich aufnehmen konnten, schon nach wenigen Stunden verrückt. Oder starben. Oder beides.
Ein vielstimmiges Lachen ertönte hinter dem Alchemisten und schreckte ihn auf. Als er sah, wie eine der Wachen wild nach einer Stechmücke schlug, lachte er mit. Unwillkürlich durchzuckte ihn ein weiterer Gedanke. Er musterte erneut den Wagen, so als könne er geradewegs durch die eisernen Wände schauen.
Ob diese Hülle lachen konnte?
Der junge Alchemist hatte während einer der wenigen Vollversammlungen auf der Insel Rhygidor darauf bestanden, dass es kein alchemistisches, sondern ein psychisches Problem sei. Lebendige, aber leere Hüllen seien nicht fähig zu überleben, sagte er eindringlich, immer wieder, auch zu Fullen, der immer abwinkte. Er hatte den Großalchemisten sogar an die alten naturalistischen Schriften erinnert: Das menschliche Leben, so schrieben die alten Elementaren Meister dort, entstehe durch das göttliche Wirken der Natur und den lernenden Geist des Menschen. Die geistlose Leere in jenen Hüllen, welche die Alchemisten seit einiger Zeit auf der Insel erschufen, war deshalb zum Scheitern verurteilt.
Doch seine Kollegen hörten nicht auf ihn. Je mehr er sie bedrängte, desto unversöhnlicher zeigten sie sich ihm gegenüber. Schickten ihn immer öfter auf Botengänge zum Festland. Er wusste genau, dass sie ihn für viel zu jung und zu unerfahren hielten und deshalb nichts auf seine Meinung gaben. Allesamt Narren. Sie trugen ihr seit Jahren erworbenes Wissen wie Scheuklappen und scheuten neue Perspektiven.
Sie waren keine Künstler, wie er einer war. Manchmal glaubte er, seine wissenschaftliche Mitarbeit im Kreise seiner talentlosen Kollegen sei Verschwendung. Denn eigentlich konnten sie ihm nichts mehr beibringen. Es brauchte zwei Jahre, um zu erkennen, dass ihre Ignoranz in ihm einen grimmigen Ehrgeiz entfachte. Die langen, sonnenlosen Mondläufe in den Katakomben der Festung und das Studium von Anchares' „Schriften der Goldenen“ hatten in ihm einen gewagten Plan reifen lassen.
Er hörte auf, das zu tun, was sie von ihm verlangten, und nach einer Weile fruchtloser Diskussionen und Predigten über Loyalität und Gehorsam hörte auch Fullen endlich auf, ihm Befehle zu erteilen. Stattdessen zog er sich zurück und arbeitete nachts heimlich daran, die Formel des Experimentes im Geist von Anchares und den anderen Elementaren Meistern der Alchemie zu verändern.
Während die anderen sich über Grundsätzliches stritten, erschuf er über Monate hinweg immer öfter lebensfähige Hüllen, in die der Geist des Goldenen hineinschlüpfte wie in einen maßgeschneiderten Handschuh. Die meisten überlebten sogar.
Die Hülle auf dem Wagen hatte bisher am längsten überlebt, auch wenn der Splitter, wie bei allen übrigen, auch an seinem Geist zerrte. Aber die richtige Dosis Solarit in seinem Körper hielt das menschliche Empfindungsvermögen und die überschäumende Macht des Geistsplitters in einer bemerkenswerten Balance – sein größter Erfolg. Er hatte einen „Goldenen“ künstlich erschaffen, einen Menschen, der den Geistsplitter eines Drachen in sich trug. Und das Beste: Alle Rezepturen waren nur in seinem Kopf, nur er würde eine neue Hülle schaffen können, wenn die alte zerstört war.
Der Alchemist lächelte. „Fortschritt ist der Berg, den man noch nicht bestiegen hat“, schrieb Anchares einst. Sicher würde sich der Grandugh mehr als erkenntlich zeigen. Er konnte den Gipfel seiner Karriere bereits sehen. Großalchemist von Albastairn – er würde Fullen hinter sich lassen, ihn abstreifen wie einen alten, zu klein gewordenen Mantel. Nie wieder würde ihn jemand anbrüllen, er solle gefälligst die Bücher alphabetisch ordnen und nicht nach Jahren, nie wieder Botengänge, nie wieder im Schatten stehen. Ihm allein gebührte der Dank des Grandugh, weil er die Waffe erschaffen hatte, die er für seinen Krieg haben wollte.
Ein erstickter Schrei ertönte hinter ihm. Der Alchemist fuhr aus seinen triumphierenden Gedanken auf. Dort, wo der Wagen gewesen war, kochte nur noch eiserne Schlacke, dort, wo die Wachen gegangen waren, schmolz lebendes Feuer menschliches Fleisch von den Knochen, die leeren Rüstungen hässliche glühende Klumpen. Der Zug, der die Hülle transportierte, war von Flammen umhüllt. Entgeistert schnappte er nach Luft. Ein unartikulierter Schrei drang aus seiner Kehle. Brüllend schoss eine Lohe empor. Wie eine Lawine tobte sie auf ihn zu.
Nur einen Lidschlag später verwehte seine Asche im Wind.