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Die Last des Regenten

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Albastairn - Im Donjon

Als Lugh DeCulleon die Augen aufschlug, wehte ihm nur noch ein verschwindender Hauch von Moschus um die Nase, gerade so viel, dass er sich an die vergangene Nacht zurückerinnerte. Ein feines Schmunzeln stahl sich auf sein Gesicht, als die Gedanken zurückkehrten. Seine Linke tastete im Bett umher, bekam ein schlankes, Bein zu fassen und strich wohlwollend darüber. Dann schälte er sich langsam aus dem Bett. Das Haar seiner Mätresse floss lockig und unbändig über die Seidenlaken. Sie schlummerte immer noch friedlich. Ihr Anblick löste in ihm immer etwas Besonderes aus, dieses Gefühl, das viel stärker war als die reine Lust und fast wie ein Hauch von Liebe zu sein schien.

Er streckte sich, gähnte herzhaft und trat ans Fenster. Gelblich fahl kroch die Sonne ans Firmament hinauf und beschien die Dächer mit den roten, gelben und braunen Ziegeln, die hohen Giebel und Erker, unter denen die Menschen seiner Stadt, seines Landes erwachten. Langsam zersiebten die ersten Strahlen des Morgens den weißen Nebel, der vom Fluss heraufschwappte wie das Wasser selbst. Jeden Morgen stand er hier und beobachtete, wie die Stadt sich langsam regte.

Und wie jeden Morgen machte ihn das auf seltsame Art melancholisch. Vorsichtig berührte er seine Wange, aber er spürte die Berührung nur an seinen Fingerspitzen. Diese Hälfte seines Gesichts war tot, so tot wie sein Bruder, ein ewiges Mahnmal an die Stunde seines Leben, die ihn zum Grandugh gekürt hatte. Jeden Morgen erinnerte er sich daran, pünktlich zu Sonnenaufgang. Ein Mann wird an seinen Taten gemessen. Auch wenn sie hässlich waren: ihr Ergebnis zählte. Es kam nur darauf an, was diese Taten erschufen – in seinem Fall würde es die mächtigste Nation des Kontinents sein, sobald er Jestenburg endgültig in die Knie gezwungen hatte.

Wahrscheinlich wäre es nicht so weit gekommen, wäre sein Vater noch immer an der Macht. Niemand würde sich heute mehr fragen, warum das Land zum willfährigen Vasallenstaat des mächtigen Jestenburg geworden war. Keinen Menschen würde es interessieren, dass die Millionen Drachenkronen, die Jestenburg jedes Jahr verdiente, in Wahrheit albastairnisches Gold war, das einzig und allein ihm, dem Grandugh, zustand.

Doch bis es so weit war, gab es noch jede Menge zu tun. DeCulleons Blick fiel auf das polierte hölzerne Schreibpult neben dem Fenster. Die Arbeit wartete schon. Dort lagen noch immer die unbearbeiteten Dokumente von gestern: Analysen und Zahlen des Solarit- und Alabasterbergbaus im Schwarzensteingebirge; Statistiken und Zahlenkolonnen, die bewiesen, dass das Geschäft mit dem Solarit blühte wie nie zuvor, jetzt, da er die Jestenburger Minengesellschaften endgültig enteignet hatte.

Er nahm ein Blatt in die Hand und überflog es mit einem zufriedenen Grinsen. Der Solaritpreis an der Cronstader Börse war wieder gestiegen. Er war sich darüber im Klaren, dass Jestenburg seine aggressiven Vorstöße in das Monopol des Solarithandels keinesfalls auf sich sitzen lassen wollte. Dass die Handelsmacht seit Monden kein Wort darüber verlor, machte ihn ein wenig unruhig. Aber sie würden noch etwas Zeit brauchen, um sich von diesem Schock zu erholen, davon war er fest überzeugt.

Neben dem Stapel Blätter lag der Brief des jungen Alchemisten, der ihn vor ein paar Tagen erst erreicht hatte. Was der Adlatus von Großalchemist Fullen dort schrieb, war sicher wieder einer jener Versuche der Wissenschaftler, das Große Experiment irgendwie am Leben zu erhalten. Ständig gaukelten sie ihm vor, ihnen wäre der große Durchbruch gelungen. Aber er hatte sich geschworen, im kommenden Jahr keine einzige Drachenkrone mehr für diese Idioten auszugeben. Mittlerweile war er sich sicher, dass die Waffe, die Fullen so verbissen erschaffen wollte, nur in dessen Einbildung existierte. Doch die seltsamen Worte des Adlatus waren dieses Mal von einer großen Überzeugungskraft gewesen, selbstsicher und bestimmt. Die anderen Alchemisten erwähnte er mit keinem Wort. Das klang ganz so, als habe sich Fullens Bediensteter verselbständigt – ein Charakterzug, den DeCulleon gar nicht schätzte.

Es klopfte. Süßes Murmeln erklang unter den Seidenlaken, und seine Mätresse drehte sich zur Seite. Ungehalten darüber, dass man ihn zu dieser frühen Stunde störte, öffnete DeCulleon die Tür.

„Was ist?“, brummte er seinen Ersten Sekretär an, einen kleinen wieselflinken Albastairner bürgerlicher Abstammung, dessen Miene tiefstes Bedauern ausdrückte.

„Euer Gnaden, bitte untertänigst um Vergebung, Oberst Garland wünscht eine Audienz. Die Angelegenheit sei dringlich.“

DeCulleons gute Laune war wie weggewischt.

Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er dem Diener, Garland vorzulassen. Dann zog er sich gemächlich den schweren Seidenmantel über, schlang den Gürtel um die Hüften und blickte kaum auf, als Garland fast geräuschlos eintrat. Der Sekretär verneigte sich und schloss die Tür hinter sich.

„Was gibt es, Oberst?“, fragte DeCulleon und verlieh seiner Stimme einen freundlichen Unterton. Das tat er immer - nicht, um die Menschen in Sicherheit zu wiegen, sondern weil ihm der sanfte sonore Tonfall gefiel.

Garlands Uniform mit den silbernen Tressen und Orden an der Brust scharrte und klimperte leise. Unbehaglich musterte er seine Stiefelspitzen und umklammerte den Griff des Schwertes, das an seiner Seite baumelte.

„Euer Gnaden, Hauptmann Thael meldet, dass die ausgesandte Eskorte den Wagen auf dem Damm nach Thamhaven nicht finden konnten. Es gab keine Spur, weder von den Wagen, noch von dem Alchemisten, noch von dem … Gefäß.“

DeCulleons Kopf ruckte hoch, und er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Seine Finger krampften sich um den Bettpfosten.

„Was ist passiert?“, bellte er.

Garland versteifte sich unwillkürlich. „Das lässt sich nur vermuten. Wir versuchen, ihren Weg zurückzuverfolgen.“

„Jestische Saboteure?“

„Die Spitzel berichten, Jestenburg verhalte sich unauffällig. Es gibt keine Hinweise, dass die Jesten dahinterstecken.“

Nur mühsam konnte DeCulleon seine Wut niederkämpfen. Garland hier war nicht der Schuldige, versuchte er sich einzureden.

„Was ist mit … ihm, dem Gefäß?“, fragte er. Seine Stimme zitterte nicht, nein, sie war erstaunlich ruhig. Die Wutausbrüche waren in den letzten Monaten weniger geworden.

Er wurde langsam alt.

Garlands Gesicht war eine wie eine unbewegte Maske. „Keine Spur.“

DeCulleon spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Das waren die schlimmsten Nachrichten, die ihn seit langem heimgesucht hatten – abgesehen von der verheerenden Kesselexplosion vor einem halben Jahr in Thamhaven, die zwei seiner neuen Schiffe vernichtet hatte. Langsam atmete er ein und aus, um sich zu beruhigen.

„Das ist ungeheuerlich“, murmelte DeCulleon. Dann ruckte sein Kopf hoch. „Schickt die Eiserne Garde los“, knurrte er und spürte, dass seine Hände schweißnass waren. „Findet sie! Und lasst Hauptmann Thael hinrichten für seine Unfähigkeit!“

Garland verneigte sich steif. „Jawohl, Euer Gnaden.“ Seine Stimme knarrte genau wie seine Rüstung, abgenutzt wie ein alter Soldatenstiefel durch das Brüllen von Befehlen.

Als der Oberst das Zimmer verlassen hatte, sackte DeCulleon auf der Bettkante in sich zusammen. Fieberhaft dachte er nach. Was, wenn der Alchemist recht gehabt hatte? Was, wenn jemand den Leib gestohlen hatte?

Unruhig rieb er sich die Hände. Egal, was geschehen war: Was auf Casthil Rhygidor vor sich gegangen war, durfte niemand herausfinden. Ob erfolgreich oder nicht, das Experiment war beendet. Entschlossen richtete er sich auf. Er konnte sich einfach auf niemanden verlassen. Sie waren fehlbar, allesamt.

Als er angekleidet auf den Gang hinaustrat und die Tür hinter ihm ins Schloss knallte, erwartete ihn der Sekretär.

„Wir haben Nachricht aus Thamhaven erhalten, Euer Gnaden. Die ersten Erprobungen der neuen Kesseltypen sind vielversprechend“, berichtete er nach einer erneuten knappen Verbeugung.

„Wurden Uns die Anforderungslisten zugestellt?“, fragte DeCulleon abwesend. Seine Gedanken schweiften zu den Worten Garlands ab. Was, wenn es wirklich die einzig lebensfähige Hülle für den Geist des Drachen gewesen war?

Der Sekretär verneigte sich zum dritten oder vierten oder fünften Mal.

„Gemäß Euren Weisungen habe ich die Listen an den Quartiermeister der Albastairnischen Armada weitergeleitet. Die Solaritlieferungen für die Schmieden in Thamhaven werden um ein Drittel erhöht. Damit könnten...“ Der Sekretär hielt inne, warf einen Blick auf die zahllosen Papiere in seinen Händen und überflog sie rasch. „Damit könnten wir bis Ende des Jahres zwölf Panzerschiffe bauen und ausrüsten.“

DeCulleon blieb abrupt stehen. Das war zu wenig.

„Erhöht die Lieferungen auf siebzehn Raumklafter pro Monat. Wir wollen zwanzig Schiffe!“, blaffte er den Sekretär an. Dessen kleiner Kopf verschwand fast zwischen den spitzen Schultern. Zwanzig Schiffe, zwölfhundert Kanonen, zwanzigtausend Mann, weniger war kaum ausreichend, um Jestenburg zu schlagen.

Der Sekretär verneigte sich erneut.

„Ich werde es sofort veranlassen, Euer Gna-…“

„Warum bezahlen Wir Euch eigentlich? Sollen Wir Euch jede Information auf dem Silbertablett servieren? Vielleicht entlockt Ihr dem hässlichen Ding, das auf Eurem Hals sitzt, zur Abwechslung mal etwas Gescheites!“

„Ja, Euer Gnaden...“, murmelte der Sekretär und blinzelte.

DeCulleon kniff die Augen zusammen. Er kannte diesen Blick.

„Was denn noch?“

„Euer Gnaden, wir haben wieder einige Bittsteller. Sie beschweren sich wegen angeblich überhöhter Forderungen an Metallen, Salz und Mehl – die Missernten wegen des trockenen Winters und des heißen Frühlings...“, begann er, doch sein Fürst schnitt ihm mit einer missmutigen Geste das Wort ab. Er beschleunigte seine Schritte, sodass der Sekretär kaum folgen konnte.

„Alle nach Hause schicken“, befahl DeCulleon knapp. „Wir empfangen heute niemanden mehr, auch nicht in den nächsten Tagen.“

Natürlich verstand er, was sein Volk bedrückte. Missernten belasteten die Staatskasse seit ein paar Jahren, die merkwürdigen Wetterkapriolen beunruhigten seine Untertanen. Fast schien es ihm, als habe sich die göttliche Vierfaltigkeit gegen ihn verschworen, denn seit Jahren wurde es immer wärmer und trockener. Das Volk litt, aber vor jeden Aufstieg setzten die Götter den Fal. Ein Tal des Jammers, durch das er sie sicher hindurch geleiten würde. „Schickt eine verschlüsselte Nachricht zum Großalchimisten. Wir müssen wissen, welche Möglichkeiten uns noch bleiben. Schreibt ihm, falls die Hülle nicht wieder auftaucht, landet er auf dem Schafott.“

„Darf ich Euer Gnaden zu Bedenken geben, dass Großalchemist Fullen wahrscheinlich nichts über das gelungene Experiment weiß...“, hob der Sekretär an, aber ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

DeCulleon nickte nur knapp. Ja, das war ihm bewusst. Aber ein wenig Druck konnte nicht schaden. Vielleicht hatten die Jahre auf dem kargen Eiland im Westmeer diesem Hühnerhaufen endlich Ideen eingebläut. Sie erforschten diesen verdammten Geistsplitter seit fast einer Dekade, und es kam nichts dabei heraus – bis der merkwürdige Brief des Adlatus angekommen war.

Die Nachricht war kurz und knapp gewesen: er habe das Experiment vollendet und eine überlebensfähige, kontrollierbare Hülle geschaffen. Durch den Brief schöpfte er Hoffnung: Die gewaltigen Summen, die er in den Ausbau der Flotte steckte, waren nichts im Vergleich zu dem, was das Experiment auf Casthil Rhygidor verschlungen hatte. Wenn es sich bezahlt machen sollte, wäre die Flotte sogar überflüssig – denn dann konnte er mithilfe des Geistsplitters Jestenburg in einem einzigen Augenblick vom Angesicht Delireths tilgen; so einfach, als wische er es mit einer Handbewegung von der Landkarte.

Und jetzt dieses verfluchte Desaster. DeCulleons Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten, während er mit weit ausgreifenden Schritten den Gang entlangeilte. Die Feder des Ersten Sekretärs kratzte eifrig auf dem Papier, während sein Fürst weitersprach.

„Schickt Boten nach Thamhaven. Die Eiserne Garde soll die Wachmannschaft im Kriegshafen um hundert Mann verstärken. Lasst dem Volk verkünden, dass die Getreideabgaben um fünf Prozent steigen und dass Wir das Murren Einzelner wegen Unserer göttergefälligen Entscheidungen nicht länger ungestraft hinnehmen“, vollendete DeCulleon seine Anweisungen.

Er war es leid, ständig diese Jammertiraden zu hören. Zu Beginn seiner Herrschaft hatte er fast jeden Bittbrief gelesen, der ihn erreichte. Einige hatte er sogar beantwortet. Aber irgendwann hatte er aufgehört, seine Entscheidungen zu rechtfertigen. Es war seine Pflicht und sein Recht, sie auch gegen den Willen des Volkes durchzusetzen. Ein paar Unzufriedene forderten, dass er die Steuern senken solle, weil die Landwirtschaft in der alljährlichen Hitze darbte. Sie verlangten nach alchemischen Öfen für den Winter, die jüngste Erfindung der Alchemisten, aber die konnte sie sich nicht leisten. Sie wollten mehr als nur überleben, sie wollten leben, aber sie waren nicht bereit dazu, Opfer zum Wohle ihres Landes zu bringen. So wie er.

DeCulleon gelangte an einen steinernen Rundbogen, der den Blick auf einen der Innenhöfe des Donjons freigab. Dort unten stand das Schafott, und Garland stieß den wimmernden Hauptmann auf die Knie. DeCulleon verharrte und starrte hinab. Thael war vor vierzehn Jahren Soldat der Eisernen Garde geworden, nachdem sein Bruder die kleine Bootswerft in Thamhaven verkauft hatte. Er erinnerte sich an den Mann und sein eckiges Gesicht, die grauen Augen, aus denen Hoffnung und Vertrauen sprach. Das raue Training hatte er überlebt und mit strengem Blick und unerschütterlichem Glauben an das große Ziel seinem Herrn gedient – bis heute.

„Denn Albastairn ist eins, und das Volk arbeitet nicht nur für Uns, sondern für sich und den Weg in eine leuchtende Zeit“, diktierte DeCulleon dem Sekretär, während Thael laut um Gnade flehte. Mit einem widerlichen Geräusch rauschte das Fallbeil hinab, und DeCulleons Hände krampften sich um die Steine.

Er allein war derjenige, der das Land seit zwanzig Jahren immer wieder auf den richtigen Weg gebracht hatte. Der die Ideen entwickelte, von denen Albastairn profitierte und an denen der Staat wuchs und gedieh.

Nur er allein war die Zukunft.

Drachengeist

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