Читать книгу Schattenkristalle - Farfalla Gris - Страница 7
ОглавлениеTraum oder Erinnerung?
Flackerndes Licht tanzte hinter ihren geschlossenen Lidern. Rötlich schimmerte es von überall her und versetzte Aleríà in Angst und Schrecken.
Schatten tanzten, dämonengleich, um sie herum und vollführten die kuriosesten Tänze und Verrenkungen, die Aleríà jemals gesehen hatte.
Sie wollte laufen, fliehen vor den schattenartigen Wesen, die sich ihr unaufhaltsam näherten, doch sie konnte nicht. Eine unsichtbare Macht schien sich ihrer bemächtigt zu haben und sie an jeglicher Bewegung hindern zu wollen.
Sie begann zu wimmern. Hoffte, dass ihr jemand antworten und zu Hilfe eilen würde, aber das seltsam vertraute und zugleich fremde Knistern um sie herum war zu laut und durchdringend, als dass man sie hätte hören können.
Gerade als sie den Blick noch einmal heben wollte, um sich Hilfe suchend umzusehen, prasselten sie wie ein Höllenfeuer auf sie ein – Schreie.
Von allen Seiten drangen sie zu Aleríà, die hilflos mit anhören musste, wie alles um sie herum zugrunde ging. Männer, Frauen, Alte, Junge; jeder Laut klang höllischer und gequälter als der vorherige.
Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu, doch jeglicher Versuch scheiterte. Es war, als kämen die Schreie nicht aus ihrer unmittelbaren Umgebung, sondern aus Aleríàs Innerem selbst. Als wären die Qualen Unzähliger in ihre Seele eingebrannt und hätten endlich ein Ventil gefunden, um sich bemerkbar zu machen.
Der Drang fortzulaufen keimte erneut in ihr auf, doch zweifelte ihr Verstand daran, dass es dieses Mal funktionieren würde. Trotzdem reagierte ihr Körper wie von selbst und zu ihrer Verwunderung konnte sie sich bewegen. Sie bewegte erst den einen, dann den anderen Fuß – es funktionierte.
Kaum dass sie sich aufgerichtet hatte, erblickte sie den Grund für ihre plötzliche Beweglichkeit. Sie war von einem matten Schimmer umgeben, der ihre Haut wie das Licht des Mondes flirren ließ.
Folge mir, Aleríà, flüsterte eine Stimme, während sich ein fast handtellergroßer Schmetterling, der vollständig aus Kristall zu bestehen schien, vor ihr materialisierte. Er flatterte aufgeregt vor ihr auf und nieder.
Beeil dich, sonst bekommt er dich …
Panik überfiel Aleríà, obwohl ihr nicht klar war, weshalb sie sich eigentlich fürchtete. Sie spürte instinktiv, dass der Schmetterling recht hatte. Sie musste hier weg!
Sie rannte los, folgte dem Schmetterling, der sie von den Schatten fortführte, die sich langsam in ihrem Rücken zu verdichten begannen.
Eine Stimme drang aus der unendlichen Finsternis, in die sie zu laufen gedachte, und flüsterte einen Namen – ihren Namen. Sie konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung der Laut kam, und rannte blindlings los, während die Schatten sich zu einer schier undurchdringlichen Masse formierten und unentwegt ihre gierigen Finger nach Aleríà ausstreckten.
Schon im nächsten Augenblick spürte sie, wie kalte Klauen ihren Nacken streichelten und sich ihre Haare unangenehm aufzustellen begannen.
Jetzt ist es aus, dachte sie entsetzt und spürte, wie Tränen ihre Wangen benetzten, während sie stolpernd weiterrannte. Eine winzige Unebenheit, die sie in der Dunkelheit nicht hatte ausmachen können, ließ sie gefährlich straucheln und zu Boden stürzen, sodass die Finsternis ein leichtes Spiel mit ihr hatte und sie unter ihrem massigen Körper begrub.
Mit einem lauten Schrei schreckte Aleríà aus ihrem Traum auf und fand sich strampelnd unter ihrer eigenen Bettdecke gefangen.
„Aleríà, Aleríà, wach auf!“, rief eine verzweifelte Kinderstimme dicht neben ihrem Ohr, sodass sie glaubte, das Trommelfell müsse ihr platzen.
Verstört huschte ihr Blick hin und her, bis ihre verwirrten Augen schließlich ihren kleinen Bruder Ralath mit zunächst verwirrter und dann dankbarer Miene bedachten.
Ohne lange zu zögern, schloss sie ihn in ihre Arme, barg ihr Gesicht an seinem zarten Hals und hielt ihn für lange Zeit so gefangen.
„Hey, lass mich los! Das ist total peinlich“, quengelte der Fünfjährige und sträubte sich gegen den festen Griff seiner großen Schwester, bis er plötzlich feststellte, dass ihre Schultern eigentümlich bebten – sie weinte.
„Hey, nicht traurig sein, kleiner Schmetterling“, flüsterte er mit rauer Stimme, während er den Kosenamen ihrer Mutter für Aleríà benutzte und ihr mit fahrigen kleinen Händen durchs Haar strich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit begann sich Aleríà langsam zu beruhigen und betrachtete ihren Retter, der sie mit großen Augen im fahlen Mondlicht musterte, welches der kalte Himmelskörper durch die winzige Dachluke sandte.
„Verzeih, Kleiner. Eigentlich sollte deine große Schwester dir nicht so eine Angst einjagen und heulen wie ein verlassener Schlosshund“, lachte sie leise und wischte sich mit dem Handrücken die restlichen Tränen von den Wangen.
„Hast du denn schlecht geträumt?“, fragte er mit leicht zittriger Stimme, denn von allen Gefahren, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte, hasste er am meisten die Monster, die nachts in seinen Träumen erschienen und ihm den Schlaf rauben konnten.
„Ich weiß es gar nicht so genau … Es fühlte sich nicht wie ein Traum an, sondern eher … wie eine Erinnerung …“, antwortete sie mit gerunzelter Stirn, während sie selbst über die Absurdität dieser Aussage nachdachte.
„Was ist denn passiert?“
„Hm … ich war allein … und wurde verfolgt … dann hat mich etwas gerettet … ich glaube, es war magisch …“
„Magie?!“, jauchzte Ralath, sodass Aleríà Mühe hatte, seinen Ausbruch zu dämpfen. Sie wollten ja nicht ihre Mutter wecken.
„Sch … Ja, Magie …“
„Wenn ich groß bin, werde ich ein richtiger Zauberer“, unterbrach er sie mit solcher Inbrunst, dass Aleríà keinen Augenblick daran zweifelte. Als er dann allerdings seine Hände beschwörend durch die Luft sausen ließ und mehr als spaßige Bewegungen vollführte, konnte Aleríà nicht mehr an sich halten und kicherte.
„So wird das aber nichts, Ralath“, lachte sie und hatte Mühe, dies hinter ihrem Kissen zu verbergen.
Schmollend blickte ihr Bruder sie an, während seine Augen vor Wut aufblitzten.
„Ach ja, dann mach?s doch besser, blöde Angeberin“, maulte er beleidigt.
„Dann sieh gut zu, Kleiner …“, zwinkerte Aleríà ihm zu.
Bedächtig schloss sie die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Ihre Hände blieben unablässig in Bewegung und erinnerten an das Fließen von Wasser.
„Du bist zu hektisch … Ruhig … Fühle die Energie in deinem Körper und konzentriere sie auf einen einzigen Punkt …“
Gebannt starrte Ralath auf ihre Hände und staunte mit weit offenem Mund, als ein winziger Funken in ihrer Handfläche zu schimmern begann.
„Weiter, weiter!“, spornte Ralath sie an, doch Aleríà rann bereits der Schweiß von der Stirn und ihr Gesicht leuchtete bleicher als der Mond selbst. Sie spürte, wie ihre Kräfte langsam versagten. Unwillkürlich verpuffte die winzige Lichtkugel in ihren Händen und zerstob in einem kleinen Funkenregen.
Erschöpft fiel sie zurück auf ihr Bett und starrte keuchend das mit Stroh bedeckte Dach an, welches ihr Zimmer von dem nächtlichen Sternenhimmel abschirmte und sie vor Wind und Wetter schützte.
„Das war unglaublich! Wie hast du das gelernt? Zeig mir, wie es geht, bitte“, flehte Ralath sie an und sprang wie wild auf seinem Bett auf und ab.
„Sch … Du sollst doch still sein, sonst kommt Mutter hoch und wir beide bekommen großen Ärger“, stöhnte Aleríà genervt und bedeckte ihre müden, erschöpften Augen mit einem Arm, sodass sie nicht mehr vom Mondlicht geblendet wurde. Wann immer sie versuchte, die Magie länger als wenige Augenblicke aufrechtzuerhalten, übermannte sie eine furchtbare Erschöpfung, die ihre Glieder bleischwer werden ließ, sodass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als zu schlafen.
Jedoch war ihr dieser kleine Wunsch nicht vergönnt. Ralath kletterte zu ihr ins Bett und setzte sich völlig euphorisiert und beeindruckt von ihrem Talent auf ihren Bauch und begann, sie mit seinen patschigen Händen zu schütteln und wachzuhalten. Sie sollte ihm so schnell wie möglich zeigen, wie er ebenfalls solche Zauberei anwenden konnte.
Seine Aufdringlichkeit wurde Aleríà schon bald zu viel.
Nicht nur, dass ihr Bruder ihr die ganze Zeit die Luft abschnürte, er bettelte und winselte auch die ganze Zeit wie ein junger Hund, dem man einen Knochen vorenthielt.
„Hör zu, du Kröte“, stöhnte sie genervt. „Wenn du mich nicht endlich in Ruhe lässt, zeige ich dir gar nichts!“
Sofort verstummte er, sprang förmlich von ihrem Bauch hinunter, was sie mit einem unterdrückten Schmerzenslaut kommentierte, und schlich zurück in sein eigenes Bett.
„Aber morgen zeigst du es mir, nicht wahr?“, durchbrach seine aufgeregte, piepsige Stimme nach einer Weile die Stille der Nacht.
„Ja … morgen …“, flüsterte Aleríà schon halb in den Schlaf versunken und freute sich, dass ihr Bruder genauso magieverrückt war wie sie.
Allerdings bereitete ihr ihre Mutter Sorgen. Sie wusste nicht, dass Aleríà mit der Gabe der Magie gesegnet worden war, und hatte mehr als einmal deutlich gemacht, wie sie zu diesem Thema stand.
Ein wenig unbehaglich drehte sich Aleríà auf die Seite und schloss die Augen. Fürs Erste würde sie ein wenig ruhen, ehe sie sich Gedanken darüber machte, wie und wo sie ihren Bruder in das Geheimnis der Zauberkunst einweihen würde.