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Die Erinnerung kehrt zurück

Der nächste Morgen kam schneller, als es Aleríà lieb war. Mehr als unsanft wurde sie dabei von einer quiekenden Stimme geweckt, die lärmend durch das Zimmer fegte.

„Aufstehen, aufstehen, aufstehen!“, schrie Ralath enthusiastisch und hüpfte wie ein Gummiball unentwegt im Raum umher, während Aleríà sich gähnend streckte und Mühe hatte, die noch verschlafenen Augen zu öffnen.

Mit einem bösen Blick versuchte sie, ihn zum Schweigen zu bringen, erreichte damit allerdings das Gegenteil. Mit einem großen Satz sprang er zu ihr ins Bett und begann, seine große Schwester zu kitzeln und wie wild auf ihr herumzuturnen, nur damit sie endlich aus den Federn kam.

Langsam bedauerte Aleríà, ihm gezeigt zu haben, dass sie ansatzweise Energie materialisieren konnte, dann würde er sie zumindest nicht die ganze Zeit damit nerven. Aber gerade weil sie ihren Bruder so unglaublich lieb hatte, raffte sie sich schließlich auf.

„Nun hör schon auf!“, sagte sie mit gespielter Strenge und warf ein Kissen nach ihm. „Geh und hilf Mutter, sie kann deine Hilfe eher gebrauchen als ich dein ewiges Rumgezappel.“

Vor Freude quietschend, lief Ralath zur Leiter, die hoch in ihr gemeinsames Zimmer unter dem Dach führte, und schwang sich behände hinab.

Grinsend schüttelte Aleríà den Kopf und begann sogleich, sich ihr langes Schlafkleid über den Kopf zu ziehen und es gegen ihr alltägliches und ziemlich ausgewaschenes Kleid einzutauschen. Bevor sie ebenfalls den Abstieg zum Erdgeschoss in Angriff nahm, zog sie schnell die dunkle Kniebundhose unter das Kleid. Sie liebte es, wenn der enge Stoff sich sanft an ihren Körper schmiegte und ihr nicht bei jedem Windhauch über den Kopf zu fliegen drohte. Außerdem hasste sie es, wenn Wind und Wetter so an ihren Beinen zerrten und ihr eine Gänsehaut bescherten, dass jedes Flattervieh vor Neid erblassen würde.

Aleríàs Mutter allerdings hätte dies, wenn sie davon gewusst hätte, nicht gutgeheißen. Frauen mussten, ihrer Meinung nach, adrett und elegant herumlaufen und sich nicht wie ein halber Mann kleiden. Manchmal fragte Aleríà sich, wieso ihre Mutter so streng an solchen Dingen festhielt, wo sie doch in einem einfachen Dorf lebten und nicht in einem noblen Herrenhaus, wie es die Reichen taten.

Aber fürs Erste wollte sie sich nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen, sonst würde sie ihre Zeit noch länger hier oben verbringen und Ralath dazu anhalten, erneut nach ihr zu sehen und sie zu bedrängen.

Geschwind zog sie die Laken über den Strohmatratzen glatt und legte die Decken mehr schlecht als recht zusammen – Ordnung war nicht gerade ihre größte Stärke, wie ihre Mutter stets bemängelte.

Da sie nun augenscheinlich alles im Zimmer erledigt hatte, was so auf den ersten Blick grob ins Auge fiel, befand sie, dass es nun an der Zeit war, zu ihrem Bruder und ihrer Mutter hinunter in die Stube zu gehen und gemeinsam mit ihnen das Frühstück vorzubereiten.

Kaum hatte sie allerdings die letzte Sprosse der Leiter erreicht, bemerkte sie verwundert, dass gar kein Herdfeuer den Raum erhellte. Lediglich die kaputten Fensterläden ließen durch ihre Löcher ein wenig Licht einfallen. Sie ließen ein diffuses Dämmerlicht entstehen, in dem jedes einzelne Staubkörnchen zu tanzen schien.

Einzig die Umrisse der Möbel waren halbwegs sichtbar, sodass Aleríà ihnen recht gut ausweichen konnte. Außerdem half ihr ihre Erfahrung weiter, schließlich lebte sie schon seit Jahren hier in diesem kleinen Häuschen nahe dem Wald.

„Ralath? Mutter?“, rief sie leise und versuchte, ein Geräusch aufzuschnappen, vernahm allerdings nichts außer ihrem eigenen Atem, der laut in der Stille widerhallte.

Vorsichtig tastete sie sich über den unebenen Boden und erkannte die kleine Kuhle, die kurz vor dem Esstisch kam und die Stühle zum Wackeln brachte, sodass sie gefahrlos an ihr vorbeikam.

Auf Zehenspitzen schlich sie zum Vorhang, hinter dem sich der Schlafplatz ihrer Mutter befand. Sie hoffte, dort auf jemanden zu treffen. Ein kaum wahrnehmbares Rascheln von Kleidung verriet ihr, dass ihr Vorhaben von Erfolg gekrönt zu sein schien, obgleich ihr Herz ein paar Takte höher schlug vor Aufregung.

Mit zittrigen Fingern ergriff sie den abgewetzten Stoff und zog ihn mit einem kräftigen Ruck zur Seite. Das, was sich vor ihr offenbarte, ließ ihr vor Erstaunen die Kinnlade herunterfallen und die Augen vor Überraschung beinahe aus den Höhlen quellen.

„Überraschung“, riefen ihre Mutter und Ralath im Chor und begannen sogleich, mit langen Zündhölzern Kerzen auf einem mit Zuckerguss versehenen Kuchen anzuzünden.

„Was zum –?“, fragte Aleríà, verblüfft aufkeuchend.

„Du hast Geburtstag, kleiner Schmetterling“, lachte ihre Mutter und drückte sie fest an sich, um sie zu beglückwünschen. „Sag mir nicht, dass du das vergessen hast. Heute wirst du schließlich elf Jahre alt!“

Aleríà konnte es nicht glauben, sie hatte doch tatsächlich ihren Geburtstag vergessen.

„Komm schon, Aleríà. Puste die Kerzen aus und lass uns endlich Kuchen essen“, rief Ralath begeistert und wollte sich schon das große Küchenmesser schnappen, um den Kuchen anzuschneiden, doch seine Mutter kam ihm zuvor.

„Aber nicht von dir. Du bist noch ein wenig zu jung dafür!“

Schmollend ließ er sich auf seinem Stuhl nieder, strahlte aber sofort, als ihm ein großes Stück vor die Nase gesetzt wurde, in das er sogleich entzückt hineinbiss.

Zusammen erfreuten sie sich an dem leckeren Kuchen und genossen die vertraute Gesellschaft, die jedoch abrupt gestört wurde, als es lautstark an die Tür pochte.

„Aley, komm raus. Aufstehen, wir wollen dir etwas zeigen“, riefen zwei gedämpfte Stimmen wild durcheinander.

„Das sind Lika und Roméa …“, bemerkte Aleríà sofort und war bereits aufgesprungen. „Bitte, Mami, darf ich mit ihnen spielen gehen?“

„Lauf zu, mein Schatz, aber sei vor Sonnenuntergang wieder zu Hause …“, erlaubte es ihre Mutter und blickte dem flatternden Saum nach, der sogleich aus der Tür stürmte – zu ihrem Missfallen trug ihre Tochter wieder diese Hose.

„Darf ich auch mit ihnen gehen?“, fragte Ralath bettelnd und unterbrach unwissentlich den aufkeimenden Ärger seiner Mutter.

„Nein, du bleibst heute mal hier und hilfst mir ein wenig. Lass ihr auch mal ein wenig Zeit, um Spaß zu haben mit Mädchen ihres Alters.“

„Pah … Mädchen sind aber alle doof …“, sagte Ralath eingeschnappt und half seiner Mutter widerwillig, den Tisch abzuräumen.

„Aleríà, wo bleibst du denn?“, hallten die Stimmen der Zwillinge aus den Tiefen des Waldes wider.

„Wartet auf mich“, antwortete sie, doch das Rascheln der Sträucher um sie herum täuschte ihre Sinne und ließ sie nicht eindeutig erkennen, in welche Richtung sie laufen musste.

Ein plötzlich aufkommender Wind erfasste das Laubwerk unter ihren Füßen und begann, spielerisch die Blätter herumzuwirbeln. Feengleich tanzte der kleine Wirbelsturm um Aleríà herum.

Fasziniert von diesem Schauspiel begann sie, sich mit geschlossenen Augen im Kreis zu drehen und das angenehme Rauschen des Windes an ihrem Körper zu spüren. Für einen Augenblick vergaß sie alles um sich herum und gab sich ganz dem Gefühl des Friedens und der Freiheit hin. Zumindest bis eine leise, krächzende Stimme zu ihr drang.

Ich werde dich finden …

Erschrocken stolperte Aleríà über ihre eigenen Füße und fiel zu Boden, während ein regelrechter Blätterregen auf sie niederprasselte.

„Aleríà“, erklangen nun die Stimmen ihrer Freundinnen, die zurückgelaufen kamen, um nach ihr zu sehen.

„Wo bleibst du denn?“, riefen sie im Chor und zogen eine völlig verwirrte Aleríà auf die Füße zurück und hinein in den Wald, fort von der Stelle, an der noch immer ein kleiner Blätterhaufen von dem seltsamen Ereignis zeugte.

Schnell war dieses eigenartige Phänomen vergessen, als Aleríà sah, an was für einen Ort die Zwillinge sie geführt hatten.

Vor ihr erstreckte sich ein gigantischer See, der in einem nahezu mystischen Azurblau zu leuchten schien und alles mit einer Aura der Ruhe bereicherte.

„Komm, Aley. Lass uns ein wenig schwimmen gehen“, riefen sie vergnügt aus und rannten bereits zum Wasser, während sie hastig ihre Kleider aufschnürten und zu Boden warfen.

Ohne lange zu zögern, folgte Aleríà ihnen in das kühle Nass, welches überwältigend kalt über ihr zusammenschlug und ihr für wenige Sekunden den Atem raubte.

Prustend schnappten ihre Lungen nach Luft, als sie aus den Fluten auftauchte. Sogleich schlug eine Welle über ihr zusammen – die Zwillinge begannen eine Wasserschlacht.

Wer am Ende siegte, konnte keiner mit Bestimmtheit sagen. Es war aber auch egal. Glücklich und vollkommen erschöpft kletterten die Mädchen ans Ufer zurück und schliefen binnen Augenblicken ein, während die warme Sommersonne sie wärmte.

Währenddessen hatte Aleríà einen befremdlichen Traum …

Sie befand sich in einem dunklen Zimmer, welches trotz der Dunkelheit nicht gänzlich finster, sondern von einem flackernden Licht erhellt wurde.

Neugierig tapste sie auf die Tür zu und bemerkte den orangeroten Schatten, der unter ihr in den Raum fiel.

Vorsichtig streckte sie ihre winzige Hand empor, um den Türgriff zu fassen, doch schon im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür und ihre Mutter stürzte herein.

„Mama?“, fragte sie leise, ängstlich. Sie musterte das mit schwarzem Ruß verschmierte Gesicht ihrer Mutter und spürte, wie sich ihre Anspannung auch auf sie übertrug.

„Hab keine Angst, mein Schatz. Es wird alles wieder gut!“, sagte sie hastig, während sie die Kleine dicht an ihre Brust drückte und einen Umhang, der schwer vor Nässe triefte, um sie beide wickelte.

„Versprich mir, dass du jetzt ganz tapfer bist, wenn wir nach draußen gehen, verstanden?“

„Aber was ist denn da draußen?“

„Versprich es!“, sagte ihre Mutter energischer und überging die Frage ihrer Tochter. Vollkommen erstarrt vor Schreck, nickte Aleríà bloß und klammerte sich an die Brust ihrer Mutter.

Unverzüglich hob diese ihre Tochter in ihre Arme und öffnete die Tür.

Völlig unerwartet für Aleríà schlug ihr lodernde Hitze entgegen, die ihre zarte Kinderhaut sofort versengt hätte, wäre der Umhang nicht gewesen.

Sie begann, leise zu wimmern, und vergrub sich tiefer in die Brust ihrer Mutter, während diese losrannte.

Holz knackte bedrohlich, als wild lodernde Flammen an ihm leckten. Vorhänge brannten lichterloh und von überall drangen Schreie zu ihnen herüber. Aleríà wollte sich die Ohren zuhalten, doch ihre Mutter hielt sie so fest in den Armen, dass sie sich überhaupt nicht bewegen konnte.

Kaum dass sie die Treppe zum Foyer erreichten, drang auch schon das Klirren von Metall auf Metall zu ihnen herauf und Aleríà bemerkte mehrere Schatten, die sich scheinbar spielerisch durch die Feuerzungen bewegten.

„Armand“, schrie Aleríàs Mutter panisch und suchte mit fieberhaftem Blick die untere Etage ab, konnte ihren Mann jedoch nirgendwo entdecken.

„Elenór, lauf“, rief plötzlich eine gedämpfte Stimme und Armand trat mit schwersten Verletzungen in ihr Blickfeld. Seine Kleidung brannte an einigen Stellen und hatte sich bereits tief in seine Haut gefressen – er war eindeutig dem Tode geweiht. Und doch kämpfte er weiter. Er hielt Männer auf, die unentwegt das Haus stürmten, um sich seiner und seiner Familie zu entledigen.

Mit schnellen Drehungen und Hieben schlug er den Weg für sie frei, sodass sie geschwind die Treppe hinabeilen konnte und sich einen Weg zur Tür bahnte. Elenór musste dabei brennenden Leichen und herunterfallenden Holzbalken ausweichen, die immer wieder ihren Weg blockierten.

Bevor sie nach draußen lief, blickte sie sich noch einmal um und betrachtete ihren Mann voller Liebe und Zuneigung. Sie wusste, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie ihn lebend sah.

Ein flehentlicher Blick seinerseits war wie ein Spiegelbild ihrer eigenen Gefühle und machte es ihr schwer weiterzugehen.

„Elenór, bitte“, flehte Armand tonlos, während er das Schwert mit einem Angreifer kreuzte, ehe er ihn von sich stieß.

Unter Tränen wandte sich Elenór ab und rannte, so schnell es die Last ihrer Tochter und der bereits leicht gewölbte Bauch zuließen, los. Tief in den Wäldern, auf einer kleinen Anhöhe, hielt sie keuchend an und schnappte nach Luft. Aleríà glitt aus ihren zittrigen Armen und blickte ihre Mutter mit großen, vom Rauch geröteten Augen an.

„Mami, was ist passiert?“, fragte Aleríà ängstlich und blickte mit ihrer Mutter zusammen auf das unter ihnen lodernde Herrenhaus, das einmal ihr Zuhause gewesen war.

„Später“, flüsterte Elenór mit tränenverschmiertem Gesicht. „Wenn du größer bist, wirst du es erfahren …“

Sanft legten sich zwei Finger auf Aleríàs Stirn. Sofort spürte sie ein angenehmes, einschläferndes Gefühl der Ruhe in sich. Sie fühlte sich schläfrig und bereits im nächsten Augenblick fielen ihr die Augen zu. Alles versank in wohliger Dunkelheit, die sie einhüllte wie einst der warme Mantel ihres Vaters …

Von stechenden Schmerzen in der Brust geplagt, erwachte Aleríà zitternd. Sie musste sich zur Seite beugen und sich laut und heftig übergeben. Der Geruch nach verbranntem Fleisch, Ruß und Holz reizte noch immer ihre Nase. Sie würgte so lange, bis ihr leerer Magen nicht einmal mehr Galle hergeben wollte, und drehte sich schluchzend zur anderen Seite.

Kaum dass sie sich wieder beruhigt hatte, fiel ihr auf, dass die Zwillinge verschwunden waren und sie allein am Seeufer lag.

Traurigkeit überfiel Aleríà. Sie hätte es von Anfang an wissen müssen. Diese beiden Mädchen verhießen nichts als Ärger oder waren, einfach ausgedrückt, gemeine, hinterhältige Biester.

Sie sehnte sich nach jemandem, der ihr genau in diesem Moment über den Kopf streichelte und ihr versprach, dass alles gut würde.

Doch niemand war in der Nähe, der ihr diesen so belanglosen Wunsch erfüllen konnte.

Mit tauben und zugleich zittrigen Fingern sammelte sie ihre Habseligkeiten ein und blickte ein letztes Mal auf den See zurück, der still und blau wie zuvor leuchtete. Jedoch spürte Aleríà nicht mehr die Freude, die sie beim ersten Mal erlebt hatte, sondern ein unbehagliches Gefühl beschlich sie.

Als sie sich auf den Heimweg machte, bemerkte sie nicht einmal die geisterhafte Gestalt, die inmitten des Sees auftauchte und sie mit hohlen Augen anstarrte …

Schattenkristalle

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