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Wünsche mit Nebenwirkungen

Die nächsten Wochen fühlte Aleríà sich furchtbar merkwürdig, ohne dass sie einen genauen Grund für ihren Gemütszustand hätte benennen können.

Sie bemerkte die zunehmende Sorge ihrer Mutter, konnte und wollte ihr aber nicht sagen, was sie beschäftigte. Sie wünschte sich, dass die Träume, die sie seit ihrem Geburtstag verfolgten, endlich aufhören würden, nur leider taten sie ihr diesen Gefallen nicht.

Jede Nacht träumte sie und immer waren es dieselben Geschehnisse. Ein brennendes Haus, Schreie, Waffengeklirr und seit Neustem auch ein dunkler Schatten, der sich unentwegt und bedrohlich auf sie zu stürzen schien.

Auch die Gefühle, die dieses Wesen in ihr auslöste, waren mehr als zwiespältig.

Einerseits fühlte sie sich von ihm abgestoßen und wollte am liebsten in Panik um ihr Leben fliehen, und andererseits fühlte sie eine seltsame Verbundenheit, wann immer sie den finsteren Umriss erblickte.

Hinzu kamen aber auch noch Trainingseinheiten, die mit Ralath begonnen hatten.

Nachdem die Zwillinge sie an ihrem Geburtstag einfach alleine zurückgelassen hatten, verspürte sie wenig Lust, noch einmal etwas mit ihnen zu unternehmen, weshalb sie sich endlich hatte durchringen können, Ralath mit seinen Magieübungen zu helfen.

Zunächst war es wirklich schwer für ihn.

Allein die Vorstellung, Energie einfach so vor sich in der Luft zu erzeugen, ist für niemanden leicht. Ralath musste deshalb auch einige Niederlagen einstecken, während Aleríà vor seiner Nase immer länger ihre Energie zu kontrollieren und beherrschen wusste.

„Das ist so gemein“, heulte Ralath eines Tages und ließ sich erschöpft und frustriert auf den Hintern fallen. „Ich werde es nie schaffen, ein Magier zu werden …“

Dicke Tränen sammelten sich alsbald in seinen großen Kulleraugen und drohten, seine Wangen hinabzurinnen.

„Mach dir keine Sorgen“, beschwichtigte Aleríà ihn und setzte sich neben ihn. „Auch ich hab das nicht auf Anhieb geschafft … Es gehört jede Menge Übung und Disziplin dazu …“

„Aber wie hast du es denn gelernt?“

Aleríà schwieg und betrachtete stattdessen gedankenverloren die Umgebung. Sie konnte sich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, wer es ihr gezeigt hatte. Sie erinnerte sich jedoch dunkel, dass es jemand gewesen war, dem sie vertraute …

„Als ich klein war, gab es jemanden, der mich mit winzigen Energiespielen aufgemuntert hat. Ich glaube, es erschienen Tiere, die um mich herumschwebten …“

„Wirklich?!“, rief Ralath und sprang vor Überraschung auf. „Wer war es? Ist er hier in der Nähe? Kann er es mir auch beibringen?“

Er bestürmte sie mit Fragen, die ein eigentümliches Unbehagen in Aleríà auslösten, welches sie nicht genau erklären konnte. Sie wusste aber, dass sie ihn von dem Thema erst einmal ablenken sollte.

„Ich kann mich nicht erinnern“, sagte sie wieder und schüttelte bedauernd den Kopf. Sie wandte den Blick von ihm ab, um die Enttäuschung, die mit Sicherheit in seinem Blick aufflackern würde, nicht mit ansehen zu müssen.

Als eine plötzlich auftretende Windböe sie beide erfasste, hielt Aleríà sich ihre dunklen Locken mit einer Hand aus dem Gesicht. Es war merkwürdig: Obwohl eine sommerliche Hitze vorherrschte, fröstelte Aleríà urplötzlich und sehnte sich nach einer warmen Suppe ihrer Mutter. Da Ralath nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch kein einziges Wort gesprochen hatte, blickte sie zu ihm auf und bemerkte einen Schatten, der seine Augen verdunkelte. Innerhalb eines Wimpernschlages waren seine Augen wieder normal, sodass sie glaubte, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.

„Komm, wir sollten uns auf den Weg machen. Mutter wartet bereits“, sagte Aleríà und erhob sich.

„O.k.“, war das Einzige, was er ihr tonlos antwortete, und trottete mit gesenkten Schultern langsam Richtung Haus.

Aleríà glaubte, sich getäuscht zu haben, konnte aber den finsteren Ausdruck, den sie gesehen hatte, nicht deuten. Sie schob es auf die Anstrengung, der sie beide innerhalb der letzten Wochen tagtäglich ausgesetzt gewesen waren, ohne wirklich Erfolg zu erzielen.

Sie verstand nur allzu gut, wie er sich fühlen mochte, wusste aber auch nicht, wie sie ihm verständlich machen sollte, wie er die Kraft, die in jedem Lebewesen wohnte, zum Vorschein bringen konnte.

Mit einem Seufzer lief sie ihrem Bruder hinterher, der schon ein gutes Stück vorgelaufen war.

Mitten in der Nacht schreckte sie, von Panik erfüllt, aus dem Schlaf hoch. Sie konnte nicht benennen, was sie geweckt hatte, spürte aber, dass dieses Etwas nichts Gutes verheißen konnte.

„Ralath …“, wisperte sie leise. „Schläfst du noch?“

Eigentlich wollte sie ihn nicht wecken, wünschte sich aber im Augenblick nichts sehnlicher, als die Nähe ihres Bruders zu spüren und ihn im Arm zu halten. Wenn sie zusammen waren, gab es einfach nichts, was ihnen gefährlich werden konnte. Nicht umsonst hatten sie früher mithilfe ihrer Fantasie die waghalsigsten Abenteuer überstanden und sich gegenseitig Trost gespendet, wenn die Kinder des Dorfes sie mal wieder nicht hatten mitspielen lassen, weil sie nicht Teil der Gesellschaft waren. Weil sie anders waren.

Als Aleríà leise aufstand und zu dem Bett ihres Bruders schlich, stellte sie mit Verwunderung fest, dass dieses vollkommen unberührt war. Einzig die zerknüllten Laken wiesen darauf hin, dass jemand darin geschlafen haben musste.

Mit der flachen Hand fuhr sie leicht über das Laken und spürte die schwindende Wärme von ihm ausgehen. Ralath konnte also noch nicht lange fort sein.

Ich geh am besten hinter ihm her, sonst fürchtet er sich wieder, dachte sie und warf sich schnell einen Umhang über die Schultern, damit sie nicht draußen in der Nacht fror. Obwohl der Sommer sich seinem Ende entgegenneigte, erschien ihr diese Nacht kalt und beängstigend.

Mit leisen Sohlen schlich sie sich zur Tür hinaus und atmete erleichtert auf, als sie den Garten betrat. Im Licht des Vollmondes erblickte sie Fußspuren in der vom Regen feuchten Erde – jemand war hier entlanggelaufen – barfuß.

Irritiert und ein wenig ängstlich zugleich folgte sie den Spuren, die von ihrem Haus weg tief in den Wald hineinführten.

Leichter Wind wirbelte ihre Locken durcheinander und ließ die dunklen Schatten, die in der Nacht lauerten, noch bedrohlicher und realer erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren.

Mit einem leichten Ziehen im Herzen blickte Aleríà den Waldrand entlang, ehe sie sich entschied, ihn zu betreten.

Sie war ein neugieriges Kind und wollte immer alles um sich herum genau wahrnehmen und in Erfahrung bringen. Nachdem Aleríà einmal tief Atem geschöpft hatte und sich zum wiederholten Male versichert hatte, dass es nichts in diesem finsteren Wald gab, das ihr schaden würde, zog sie den Umhang fester um sich und marschierte mit festen Schritten los.

Das Laub raschelte um sie herum und von überall her wisperten verzerrte Stimmen.

Äste knackten unter ihren kleinen Füßen, obwohl sie nur seicht auftrat, und verrieten ihre Position jedem, der in der Nähe sein Unwesen treiben mochte.

Sie fühlte sich immer unwohler, je näher sie der Lichtung kam, auf der Ralath und sie seit Wochen trainierten.

Ein Uhu, der vor ihr aus einem Gebüsch hochschoss, jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein, sodass sie mit einem leisen Aufschrei zu Boden stürzte und zunächst zitternd dort unten verharrte.

Ralath, wo bist du nur?, fragte sie sich verzweifelt und machte sich mit wackeligen Beinen wieder auf den Weg.

Erneut flüsterten Stimmen, durch den Wind getragen, zu ihr herüber und nun erkannte sie eine sogar als die ihres Bruders, die ihr so vertraut und doch so fremd erschien.

Hinter einem Busch versteckt, vorsichtig die Zweige auseinanderschiebend, beobachtete sie die Lichtung, die sich vor ihr offenbarte.

Viel erkennen konnte sie jedoch nicht, da der Mond von Wolken verhüllt wurde und zunächst nicht sein Antlitz präsentierte. Schatten tanzten zur Musik des Windes umher und flüsternde Stimmen einer ihr unbekannten Sprache schienen die Schattenwesen weiter anzuheizen, sodass sie wie wogendes nachtschwarzes Wasser den Boden bedeckten.

Aleríà schwante nichts Gutes, doch sie musste herausfinden, wo ihr Bruder war.

Just in diesem Augenblick tauchte der volle, runde Mond hinter seiner Verschleierung hervor und erfüllte die Lichtung mit silbrigem Licht.

Ralath stand nur wenige Meter von ihr entfernt und blickte jemandem entgegen. Eine Gestalt, in einer schwarzen Kutte verborgen, tauchte auf und blieb vor Ralath stehen. Es war eine furchterregende Gestalt, der man am besten nicht über den Weg traute, geschweige denn lief, wie Aleríà sofort bemerkte. Doch bei Ralath war sie sich nicht so sicher. Er war noch so jung und unbedarft. Es fiel ihm manchmal schwer, Gut von Böse zu unterscheiden. Selbst Fremden, die mehr als verdächtig erschienen, schenkte er meist Vertrauen.

Der Vermummte trat dicht an Ralath heran und flüsterte etwas dicht an seinem Ohr, was Aleríà nicht verstehen konnte. Doch als die beiden aufblickten und genau in ihre Richtung starrten, ahnte sie, um was es ging – um sie.

Erschrocken stolperte sie zurück, als rot glühende Augen sie unter der Kapuze heraus anstarrten, doch bevor sie auch nur einen Gedanken an Flucht verschwenden konnte, stand der Mann unvermittelt vor ihr. Wie ein Geist hatte er sich vor ihr materialisiert und erstickte jeden Gedanken an Flucht im Keim.

Noch bevor Aleríà irgendeine Reaktion von sich geben konnte, spürte sie, wie ihre Glieder schwer wurden und ihre Gedanken zähflüssig wie Sirup dahinschweiften. Das Letzte, woran sich ihr zusammenbrechender Körper erinnerte, war ein schauriges Grinsen, das Ralaths Züge verfinsterte …

Am nächsten Morgen erwachte Aleríà beunruhigt und fand sich zu ihrem Erstaunen in ihrem eigenen Bett wieder. Wie sie dahin gekommen war, konnte sie beileibe nicht beantworten, aber viel wichtiger erschien ihr im Augenblick die Frage nach ihrem Bruder. Was war mit ihm geschehen?

Kaum dass sie aus dem Bett gesprungen war und sich hektisch angekleidet hatte, drang auch schon sein herzerwärmendes Lachen zu ihr herauf.

Blitzschnell hechtete sie die Leiter hinunter und erstarrte bei der Szenerie, die sich vor ihr abspielte. Ralath saß vergnügt wie immer am Frühstückstisch und aß mit Freude seinen Haferbrei. Nichts erinnerte mehr an die dämonische Aura der vergangenen Nacht. Unschlüssig, ob sie etwas sagen sollte, stand Aleríà da. Sollte sie ihre Mutter mit etwas beunruhigen, was vielleicht doch nur ein Traum war, der unsagbar realistisch erschien, oder lieber schweigen und das Ganze einfach vergessen? Ihre Mutter Elenór nahm ihr aber sogleich die Entscheidung ab.

„Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?“, fragte ihre Mutter liebevoll und stellte eine Schüssel mit Haferbrei für sie auf den Tisch.

„Ja, Mutter“, gähnte Aleríà und verbarg die Ringe unter ihren Augen als auch ihr Unbehagen, indem sie sich tief über ihr Frühstück beugte.

„Aleríà, du musst nachher unbedingt mitkommen“, rief Ralath aufgeregt. „Ich hab ein paar Fallen unten am See ausgelegt. Lass sie uns aufsuchen und sehen, ob wir nicht ein Kaninchen gefangen haben, das wir heute Abend essen können!“

„Gerne“, lächelte Aleríà und musterte, zum ersten Mal an diesem Morgen, ihren Bruder genauer.

Er wirkte vollkommen normal. Vielleicht hatte sie dies Ereignis doch nur geträumt und in Wirklichkeit spielten ihr ihre Sinne makabre Streiche – oder sie wurde langsam verrückt …

„Los, Aley. Lass uns endlich ein wenig jagen gehen“, rief Ralath ihr zu, während er bereits den Waldrand erreichte.

„Nicht so schnell“, japste Aleríà, die an diesem Morgen Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten. Dabei war sie sonst immer die Erste, wenn es um Wettrennen ging, aber heute war alles anders.

Sie fühlte, wie ihr Bauch seltsam rumorte und sich zusammenzog. Sie schob es auf den Haferbrei, den sie tagein, tagaus aßen, wenn die Fallen nichts anderes hergaben.

„Ralath, warte“, rief sie ihrem Bruder zu, der, flink wie ein Wiesel, zwischen den Stämmen und Sträuchern untertauchte.

„Beeil dich, du lahme Ente“, lachte Ralath kehlig und stürzte förmlich auf den See zu, an dessen Ufer sie mehrere Fallen ausgelegt hatten. Auch wenn es bloß Kaninchenfallen waren, hatten sie doch gehofft, dass auch eine der beiden Zwillinge sich darin verirren würde, schließlich hatten sie Aleríà mehr als einmal verletzt.

Keuchend und mit Blättern und Zweigen bestückt, die sich in ihrem Haar verfangen hatten, kam Aleríà schließlich auch am Ufer an.

„O.k., du hast gewonnen“, japste Aleríà.

Als sie sich aufrichtete und ihren Bruder ansah, erschien anstatt des freudigen Lächelns ein Ausdruck, den sie bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte – außer in der vergangenen Nacht.

„Ralath?“, fragte sie vorsichtig und machte unbemerkt einen Schritt zurück.

„Du hast gesagt, du hattest jemanden, der dir die Magie beigebracht hat … Ich habe auch jemanden gefunden …“, wisperte er mit dunkler Stimme und verschleiertem Blick. Alarmiert beobachtete Aleríà die Umgebung, da sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

„Wen?“, fragte Aleríà ängstlich, da ihr die schwarze Gestalt wieder einfiel.

„Einen großartigen Zauberer. Er ist ein Meister seines Fachs und hat mir schon weitaus mehr beigebracht als deine lächerlichen Taschenspielertricks, mit denen du es nie weit bringen wirst … Sieh her …“

Ralath ließ sein Handgelenk in einer ruckartigen Bewegung nach oben schnellen, während seine Finger sich zu einer Klaue krümmten. Mit einem schrillen Laut erhob sich aus dem Dickicht ein kleines braunes Fellknäuel, welches vor Ralath in der Luft schwebte – ein Kaninchenbaby.

„Sieh genau hin und lerne“, grinste Ralath bösartig, während er mit seiner anderen Hand leise schnipste.

Das Kaninchen begann jämmerlich zu quieken und sich strampelnd aus dem unsichtbaren Griff zu befreien – vergebens. Bereits nach kurzer Zeit hörte Aleríà, wie sich die Muskeln bis zum Zerreißen spannten, ehe die kleine Seele dem Druck nicht mehr standhalten konnte. Mit einem allerletzten verzweifelten Versuch bog es den Hals durch, ehe dieser mit einem lauten, fürchterlichen Knacken brach. Das Tier war tot …

Achtlos warf er den kleinen Körper Aleríà vor die Füße, die zu Boden sackte und mit zittrigen Fingern den Leichnam streichelte.

„Was hast du getan?“, flüsterte sie, ehe ihre Stimme in einem Schrei endete. „Was hast du getan?“

„Ich habe dir lediglich gezeigt, wozu ich, im Gegensatz zu dir, in der Lage bin“, sprach Ralath mit verzerrter Stimme. „Leben kommt und Leben geht und ich bin derjenige, der bestimmt, wann dies zu geschehen hat …“

„Das ist nicht wahr! Du hast nicht über Leben und Tod zu richten. Du bist ein kleiner Junge, der Magie gerade erst in den Anfängen gesehen hat!“

„Ach ja, wer von uns beiden kann denn nur einen Bruchteil seiner Energie in einer Hand sichtbar machen?“

Sichtbar verletzt senkte Aleríà ihren Kopf, sodass ihre Locken ihr Gesicht verbargen.

„Sieh es endlich ein, du bist schwach … Ein Nichts im Vergleich zu mir …“

„Das ist nicht wahr“, protestierte Aleríà leise und blickte mit festem Blick zu ihrem Bruder – oder vielmehr das, was einst ihr Bruder gewesen war – auf.

„Magie ist kein Spielzeug! Du hast kein Recht, andere Lebewesen mit deinen Fähigkeiten zu verletzen.“

„Und du willst mich etwa daran hindern?“, fragte Ralath höhnisch.

Mit einem weiteren Fingerschnippen erschien eine schwarze Energiekugel in seiner Hand, die wie eine Gewitterwolke drohend umherzuckte. Wie einen Spielball warf er sie zunächst hoch in die Luft und fing sie wieder auf. Er ließ es so beiläufig geschehen, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt. Kaum hatte er sie beim dritten Mal gefangen, veränderte sich seine Miene schlagartig. Seine Augen veränderten sich. Sie wurden von einem Schleier des Wahnsinns überzogen, der sein Gesicht auf groteske Art und Weise entstellte. Ohne Vorwarnung warf er den gefährlich zuckenden Ball nach seiner Schwester.

Gerade noch rechtzeitig konnte Aleríà ausweichen und blickte mit Schrecken auf den riesigen Krater, der sich in den Boden gefressen hatte.

„Ralath, hör auf, bitte. Das bist nicht du!“

„Und ob ich das bin. Ich hab mich noch nie so gut gefühlt!“, antwortete er ihr mit einer Stimme, die eher einem Erwachsenen gehörte als einem siebenjährigen Jungen.

Eine weitere Energiekugel schlug dicht neben Aleríà ein, die sich nur durch unglaubliches Glück retten konnte.

„Weißt du, Schwesterchen, wenn ich dich töte, werde ich mächtiger werden, als du es dir je vorstellen kannst …“, lachte Ralath und formte mit beiden Händen eine Sphäre, die die Größe eines Kohlkopfes besaß.

Aleríà hatte Angst. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, wenn sie sich nicht wehrte. Vor allem, da sie zu nichts mehr als einem bloßen Fünkchen in der Lage war und mit Ralaths Kräften bei Weitem nicht mithalten konnte. Mit Tränen in den Augen nahm sie sich zusammen. Zwang sich zur Ruhe. Sterben wollte sie auf keinen Fall.

Sie begann, ihren Geist zu leeren und sich langsam zu entspannen. Sie spürte das Leben um sich herum mit jeder einzelnen Faser ihres Körpers pulsieren. Der Herzschlag, der sie umgab, erfüllte sie mit Freude und zugleich dem Wissen, dass sie diesen Herzschlag beschützen würde. Allein der Tod des Kaninchens hatte sie in ihrem Beschluss bestärkt.

Mit nahezu den gleichen flüssigen Handbewegungen erschuf sie eine ebensolche Sphäre in ihren Händen, die jedoch weiß, beinahe durchschimmernd leuchtete und zudem um einiges kleiner war.

Die Zeit schien stillzustehen, während sich die Geschwister gegenüberstanden. Selbst die Tiere des Waldes schienen die geladene Atmosphäre bemerkt zu haben, denn kein einziger Vogel erfüllte die Luft mit seinem Gesang. Stumm musterten sich die beiden und warteten, dass einer von ihnen den ersten Schritt tun würde. Sekunde um Sekunde verging, ehe ein Wimpernschlag die Entscheidung brachte.

Zugleich warfen sie die Energien und beobachteten, wie diese aufeinanderprallten. Gebannt verfolgten sie, wie sich die Kugeln zu einer einzigen vereinigten. Was dann geschah, hatte allerdings keiner von ihnen erwartet.

Eine gewaltige Explosion, gefolgt von einer überwältigenden Druckwelle, erschütterte den Boden und riss die Geschwister von den Füßen.

Geblendet wandte Aleríà die Augen ab. Zu grell erstrahlte das Licht der Eruption, sodass man noch nicht einmal die Hand vor Augen hätte sehen können, geschweige denn überhaupt etwas sah außer allumfassender Helligkeit. Mit bangem Herzen wartete sie gebannt darauf, dass das Licht abflaute, um ihr zu zeigen, was mit ihrem Bruder geschehen war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wagte Aleríà, die Augen wieder zu öffnen. Der Nachhall der Druckwelle klang ihr noch immer als durchdringendes Klingeln in den Ohren. Kopfschüttelnd versuchte sie, das dumpfe Gefühl in ihrem Schädel zu vertreiben, damit sie das, was sich vor ihr offenbarte, auch begreifen konnte. Entsetzt keuchte sie auf, als sie die Zerstörung um sich herum wahrnahm.

Der Boden brannte, das Gras war schwarz und hing schlaff herab. Bei der leisesten Berührung würde es in sich zusammenfallen und nichts als ein Häufchen Asche hinterlassen. Tiefe Löcher und Risse hatten das Erdreich aufgerissen. Zahlreiche Blumen und kleine Bäume, die die Zukunft noch vor sich hatten, lagen entwurzelt und ihres Lebens beraubt auf der toten Erde.

Als ihr Blick weiterschweifte, sah sie ihn am Rand eines großen Kraters liegen.

„Ralath“, schrie sie entsetzt auf und wollte zu ihm rennen, doch ihre Beine gaben immer wieder nach. Kriechend bewegte sie sich mit allergrößter Anstrengung auf ihren Bruder zu, der leblos in einiger Entfernung in sich zusammengesunken dalag.

„Ralath“, flüsterte sie liebevoll, als sie ihn nach einer gefühlten Ewigkeit erreicht hatte und in sein von Ruß verschmiertes Gesicht blickte, in dem die freundlichen Kinderaugen von einst leuchteten.

„Aley …“, flüsterte er mit erschöpfter Stimme. „Es … tut mir leid … Ich wollte doch … nur … ein großer … Zauberer werden …“

„Sch … Ich weiß, Kleiner“, wisperte Aleríà verständnisvoll und strich ihm sanft über die Stirn.

„Dann kam … dieser Mann … in meinen Traum … Er hat mir … gezeigt … wie ich sie einsetzen kann … Aber dann wurde alles dunkel …“

„Du darfst nicht so viel reden“, flüsterte Aleríà mit Tränen in den Augen, als sie das viele Blut an ihren Händen bemerkte und spürte, dass für ihn alles an diesem Tag enden würde.

„Aley … ich bin so müde …“

„Ich weiß …“, weinte sie leise. „Es ist okay, wenn du schlafen willst. Ich pass auf dich auf. Niemand wird dir mehr wehtun …“

„Vertreibst du denn auch alle bösen Monster?“

„Ja, genauso wie früher.“

„Danke“, flüsterte er erleichtert und schloss seine verschleierten Augen, die fortan für immer geschlossen bleiben und nie wieder das Licht eines anbrechenden Tages sehen würden.

Aleríà weinte bitterlich und bemerkte noch nicht einmal, wie sich das Ufer langsam mit Menschen füllte, die alle ungläubig auf das Chaos blickten, das sich vor ihnen offenbarte.

Einzig die Schreie und Schluchzer ihrer Mutter, die ebenfalls das Ufer erreicht hatte, drangen zu ihr. Sie fühlte sich allein. Abgeschieden von den normalen Menschen, die sich flüsternd um sie geschart hatten und immer wieder mit dem Finger auf sie zeigten.

Sie war verdammt!

Sie hatte ihren Bruder getötet!

Den Menschen, der ihr am meisten etwas bedeutete in einer Welt, in der sie – ihre Familie – von Misstrauen und Argwohn bestraft wurden.

An diesem Tag, an dem ihr Bruder starb, starb ein Teil von Aleríàs Seele mit ihm. Sie schwor sich, dass sie den Mann, der für den Tod ihres Bruders verantwortlich war, zur Rechenschaft ziehen und ihn bestrafen würde mit allem, was ihr zur Verfügung stand.

An diesen Gedanken klammerte sie sich. Er war die letzte klare Erinnerung, die sie an diesem Tag hatte, bevor sie zusammenbrach.

Gedanken voller Reue, Hass, Trauer und Einsamkeit sollten fortan ihr Leben begleiten …

Schattenkristalle

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