Читать книгу Shana, das Wolfsmädchen, und der Ruf der Ferne - Federica de Cesco - Страница 13

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6. Kapitel

Ich schlief gut in dieser Nacht. Zwar hatte ich, als ich mit meiner Tasche die Treppe zu meinem Zimmer hinaufging, etwas Angst gehabt. Was, wenn die Gespenster von früher noch da waren? Aber es gab keine Gespenster mehr. Sie kommen und nisten sich ein, wenn die Seelen der Menschen krank sind. Sind die Seelen geheilt, verschwinden sie. Es war nur der Geist meiner Mutter, der durch das Haus schwebte, fein wie die Spinnenweben, die man jetzt im Spätsommer in den Gräsern hängen sah. Manchmal war mir, als ob sie mit leichten Schritten umherging, mit sanfter Stimme ein Lied summte, ein Wiegenlied aus der Zeit, als ich noch ein Baby war. Mit dieser Stimme im Ohr schlief ich ein. Als ich erwachte, schimmerte die Sonne durch die Fensterläden und ich hörte die Vögel zwitschern. Elliot war schon wach; es duftete gut nach Frühstück.

»Ich habe Brot gebacken«, sagt er, als ich frisch geduscht und gekämmt aus dem Badezimmer kam. »Selbst gebacken schmeckt es am besten.«

Das beste Brot der ganzen Welt, dachte ich. Dazu gab es Rührei mit Speck und frischen Kartoffelsalat. Und den wunderbaren starken Kaffee, ohne den Elliot nicht leben konnte. Und bevor wir tranken, boten wir einen Teelöffel den Ahnen an. Das kleine Ritual wurde jeden Morgen durchgeführt. Jeder bei uns wusste, dass die Ahnen Kaffee sehr gerne hatten.

Danach frühstückten wir ohne Hast, genossen dieses ganz neue Gefühl unseres Einvernehmens.

»Musst du schon heute wieder gehen?«, fragte Elliot.

»Ja, Mike kommt gegen vier.«

»Dann bleibst du also nicht bis zum Abendessen?«

»Wenn ich länger hierbleibe«, sagte ich, »werde ich fett.«

Er lachte, aber es wirkte nur oberflächlich.

»Weißt du, warum wir zu viel essen?«

»Keine Ahnung. Weil es euch schmeckt, nehme ich an.«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, Marion hat mir erklärt, warum wir alle Speck um die Hüften haben: Früher verlangte unser Körper nach Fett, um die Zeiten der Dürre und den Winter zu überleben. Wir mussten uns Reserven anfuttern. Tiere machen das ja auch so, oder? Aber heutzutage geht die Rechnung nicht auf, weil wir Junkfood in uns hineinstopfen und den Winter nicht in einem Tipi verbringen, sondern im geheizten Haus. Müsstest du das Eis zerschlagen, um einen Fisch zum Frühstück zu fangen, wärst du um jedes Gramm Fett dankbar.«

Ich nickte ihm zu.

»Mir scheint, dass wir das schleunigst wieder lernen sollten! Unserer Figur zuliebe, meine ich.«

Wir scherzten noch ein wenig und ich stellte mit Erstaunen fest, dass Elliot einen feinen Sinn für Humor hatte. Immer wieder hatte ich das Gefühl, meinen Vater ganz neu kennenzulernen. So plauderten wir über dieses und jenes. Nachdem ich das Geschirr in die Spülmaschine gestellt hatte, während Elliot akkurat jede Pfanne auskratzte, machte ich mich auf zu einem Spaziergang durch das Dorf.

Die Leute, die mich erkannten, begrüßten mich herzlich. Dann und wann wurde ich angehalten und musste erzählen. Immer das Gleiche, die Leute waren neugierig. Doch ihre Sympathie tat mir gut. Immerhin hatte man mich nicht vergessen! Von meinen früheren Mitschülern sah ich allerdings keinen. Auch sie hatten ihre Schulzeit beendet und waren in einem Beruf gelandet. Darüber nachzudenken, gab mir ein seltsames Gefühl, als ob sich eine Zeitepoche lautlos hinter mir geschlossen hätte. Ich dachte an Alec, meine erste große Liebe. Was wohl aus ihm geworden war? Später erfuhr ich, dass er beim kanadischen Fernsehen in Montreal arbeitete. Ich freute mich, dass es ihm gut ging. Wir alle haben unser Leben, dachte ich, und machen daraus, was wir können. Es gehört wohl dazu, dass wir uns dabei aus den Augen verlieren. Doch die Kindheit war trotzdem immer da, in einer Form von Stille, die jedem von uns eigen war. Mit vierzehn hatte mein Leben eine unerwartete Richtung eingeschlagen. Gewiss machte nicht jeder eine solche Erfahrung, die auf ihre Art sehr brutal gewesen war. Aber irgendwann fährt durch jedes Leben ein Trennschnitt – zack! – und es gibt keine Wiederkehr. Die Begabung, die ich in mir trug, die ich angenommen und nie hinterfragt hatte – ich wollte mich bemühen, sie gerecht und sinnvoll einzusetzen. Es gab viele Menschen, unzählige, denen ich eine Freude machen wollte. Und es spielte dabei keine Rolle, ob sie lebten oder schon tot waren. Sie waren ja alle noch da.

Nach einer Weile merkte ich, dass meine Schritte mich – fast unbewusst – in Richtung des kleinen Stadthauses trugen. Die Wahrheit war, dass ich zu Marion wollte, um ihr zu sagen… ja, was eigentlich? Dass mein Vater mir alles erzählt hatte? Ja, wahrscheinlich. Hoffentlich mag ich sie, dachte ich, mit einem leichten Angstgefühl.

Das neue, moderne Verwaltungsgebäude wertete das allgemeine Bild von Beaver Creek etwas auf. Ich ging drei Steinstufen hoch, stieß die Tür zum Empfangsbüro auf und sah mich um. Auf Regalen stapelten sich Prospekte, an den Wänden waren Plakate angebracht, die unsere abgelegene Gegend als bevorzugtes Feriengebiet lobten. Der ideale Ort zum Wandern, Zelten und Sportfischen. Mit etwas Fantasie konnte man daran glauben. Daneben hing ein Warnschild, das der Wirklichkeit besser entsprach: No Alkohol, no Drugs! stand dort in düsterem Grau geschrieben. Ich nahm ein Prospekt, wobei ich zu der jungen Frau sah, die vor ihren Computer saß. Weil schon Mittagszeit war, hatte sie eine riesige Pizza vor sich. Marion? Nein, Marion war sie gewiss nicht, auch wenn sie eine Brille trug.

»Hallo!«, rief sie mit vollem Mund. »Irgendetwas, das ich für Sie tun kann?«

»Ja, ich suche Marion Hoffmann.«

»Die hat heute ihren freien Tag, sorry. Kann ich ihr etwas ausrichten?«

»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Vielen Dank trotzdem.«

»Keine Ursache!«

Sie nickte mir freundlich zu, bevor sie mit spitzen Fingern das nächste Stück von der Pizza abriss. Ich schielte kummervoll auf ihren Bauchumfang und ging.

Gerade wollte ich den Raum verlassen, als ich hinter mir Schritte hörte. Ich wandte mich um, sah eine ältere Frau aus einem Büro kommen. Höflich hielt ich ihr die Tür auf.

Sie lächelte mich an.

»Danke!«

Ich ließ ihr den Vortritt und folgte ihr dann nach draußen. Doch sie blieb stehen und musterte mich.

»Wir kennen uns noch nicht«, sagte sie. »Sind Sie von hier?«

Ich nannte meinen Namen. Ihr scharfer Blick leuchtete freudig auf.

»Ach, die berühmte junge Dame mit der Wolfsgeige! Ich bin Leona Cooper.« Sie schüttelte mir die Hand. »Schön, dass wir uns kennenlernen. Das freut mich aber, dass ich dich hier treffe!«

Leona Cooper musste um die sechzig sein. Sie war erstaunlich hochgewachsen, überragte mich mit ihren breiten Schultern. Sie war füllig, aber harmonisch gebaut, mit harten Muskeln, sodass ihre Gestalt etwas Machtvolles an sich hatte. Ihr bereits ergrautes Haar, das ziemlich tief an der Stirn ansetzte und in der Mitte durch einen Scheitel geteilt war, hatte sie im Nacken zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. Ihre Augen waren tiefschwarz, ihr Gesicht von trockenen Falten zerfurcht. Doch es war nicht erschlafft, sondern hatte seine Konturen bewahrt. Ein wundervolles indianisches Gesicht.

Auch sie war dabei, mich lächelnd und sehr genau zu betrachten.

»Ich esse mittags nur ein Sandwich. Und ich brauche meinen Kaffee. Kommst du mit? Ich lade dich ein!«

Ich dankte ihr, überrascht und beglückt. Sie ging wie ein Mann, mit weiten, ausholenden Schritten. Sie trug schwarze Hosen und einen ebenfalls schwarzen Blazer – einen sogenannten Businessanzug, der ihr gut stand. Dazu gehörten eigentlich High Heels. Aber Leona dachte offenbar praktisch. Ihre bloßen Füße steckten stattdessen in Sandalen.

»Ich habe viel von dir gehört«, sagte sie auf dem Weg zu unserer kleinen Snackbar. »Wie lange bleibst du hier?«

»Nicht lange. Ich fahre heute Abend nach Vancouver zurück. Mein Freund holt mich ab.«

»Da bleibt uns immerhin etwas Zeit, um uns zu unterhalten.«

Wir fanden noch einem freien Tisch, holten uns zwei Hühnersandwichs an der Theke. Dazu bestellten wir Kaffee in Pappbechern. Er war so heiß, dass wir uns fast die Lippen verbrannten.

»Früher war hier der Kaffee abscheulich«, sagte Leona leise zu mir. »Aber eines Tages hat Chief Thunder ein Machtwort gesprochen und jetzt haben sie eine neue Maschine gekauft.«

Sie biss mit Appetit in ihr Sandwich und ich fragte: »Wie geht es Chief Thunder?«

Ihr ausdrucksvolles Gesicht wurde ernst.

»Nicht gut, leider. Er muss operiert werden und es ist wirklich besser für ihn, dass er sich jetzt ausruht.«

Zögernd hakte ich nach: »Werden Sie seine Nachfolgerin?«

Sie zeigte ein kleines Lächeln.

»Aha, das Buschtelefon! Na gut, ich hätte ja Nein sagen können, dann hätte man einen anderen vorgeschlagen. Was bedeutet es heutzutage schon noch, ein Chief zu sein? Früher musste der Chief das Vertrauen seines Volkes erst gewinnen. Seine Worte wurden keineswegs wie Orakelsprüche empfangen. Wir hielten nicht viel von Hierarchie, eine ausübende Gewalt gab es nicht. Einem Chief folgte man freiwillig – oder überhaupt nicht. Man musste von ihm überzeugt sein. Heute trifft der Chief kaum noch wesentliche Entscheidungen. Aber wenn er will, kann er sich mit einer Federkrone präsentieren, was stets imposant aussieht. Er ist zu einer dekorativen Figur geworden, mit jeder Menge Papierkram am Hals. Chief Thunder hat seine Sache immer gut gemacht. Was mich betrifft, wir werden ja sehen. Aber erzähl lieber von dir!«

»Von mir?«, fragte ich, ein wenig befangen. »Was soll ich sagen? Ich bin noch auf der Musikhochschule…«

Sie hob rasch die Hand. Die Geste war nicht ungeduldig, sondern präzise und etwas gebieterisch.

»Hör zu, Shana, ich weiß mehr von dir, als du denkst. Stanley Egger, dein ehemaliger Lehrer, hat mir vieles erzählt. Was du geleistet hast, ist bemerkenswert. Ich habe mir auch deine erste CD angehört.«

»Das Violinkonzert von Brahms«, sagte ich, mit einer Spur von Stolz.

Sie nickte.

»Ja, du spielst auf eine sehr ergreifende Art. Ich kenne die Geschichte von Lela. Und…«, sie machte eine Pause, »und von der Wölfin habe ich auch gehört.«

Ich senkte die Augen.

»Manchmal… wenn ich daran denke… kommt es mir vor, als ob ich das alles nur geträumt hätte. Es war wie im Märchen, verstehen Sie?«

Leona trank ihren Kaffee in langsamen Schlucken. Ihr Blick war fest auf mich gerichtet. Ihre Augen waren unvergleichlich. Glänzend wie schwarze Opale. Und unergründlich.

»Märchen kann man erleben«, sagte sie eindringlich. »Und man kann sie wahr werden lassen. Wusstest du das nicht?«

Ich nickte mit zugeschnürter Kehle.

»Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass ich beschützt wurde.«

»Natürlich wirst du beschützt.«

»Von Lela?«, flüsterte ich. »Oder von meiner Mutter?«

Sie schüttelte leicht den Kopf.

»Von allen, die hier sind.«

Ein Frösteln überlief mich.

»Woher wissen Sie das?«

In ihren Augen tanzte ein winziger Funken Schalk.

»Nun, sagen wir mal, ich habe mich eine Zeit lang mit diesen Dingen befasst. Aber du kannst ruhig Leona zu mir sagen. Wir sind ja schließlich verwandt…«

Sie kaute gemächlich ihr Sandwich.

»Wenn ich sage, wir, dann gilt es für alle, für die Lebenden und die Toten.«

»Lela ist tot. Meine Mutter auch. Und die Wölfin…«

Sie schüttelte den Kopf.

»Die Unsterblichkeit umfasst alle Lebewesen. Menschen, Tiere, Pflanzen und sogar Steine. Unsere Erdmutter bringt alles immer wieder neu hervor. Sterben wir, wird unser Körper zu Staub. Unser Geist aber lebt weiter, mit dem Atem und dem Herzschlag aller Lebewesen.«

Sie sah mich fest an. Jetzt waren ihre Augen dunkle Spiegel, die mein Bild reflektierten.

»Ich konnte das nie mit Worten erklären …«, sagte ich.

»Das ist auch nicht nötig. Du vertraust deine Gedanken der Musik an. Deswegen sind Menschen und Tiere so berührt, wenn sie dich spielen hören.«

Mir kam die Zeichnung in den Sinn, die Mike von mir gemacht hatte. Und plötzlich zuckte eine Erkenntnis in mir auf.

»Stimmt! Es ist wie ein Baum«, sagte ich. Laut dachte ich weiter: »Ein Baum dehnt sich nach allen Seiten aus. Die Musik macht es genauso. Als ob der Klang zum Himmel wächst…«

Leona erwiderte nichts. Sie trank ihren Kaffee aus und sah kurz auf ihre Uhr. Eine schöne, teure Markenuhr, die wunderbar zu ihrem schmalen Gelenk passte.

»Wenn du noch etwas Zeit hast, möchte ich dir etwas zeigen…«

»Ich habe Zeit. Aber musst du nicht wieder ins Büro?«, fragte ich, worauf sie amüsiert auflachte.

»Seitdem ich hier der Chief bin, ist mein Büro überall!«

Shana, das Wolfsmädchen, und der Ruf der Ferne

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