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6 KALTER KAFFEE

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Leo trug das Haar offen und sah überaus reizend aus. Junge Leute fanden sie unglaublich lebendig, unglaublich attraktiv. Sie fühlten sich von ihr wie magisch angezogen. Wenn sie jedoch nach kurzer Bekanntschaft plötzlich einen Rückzieher machten, lag es zweifellos daran, dass Leo sie verstörte. Sie wirkte auf sie wie eine Frau von irgendeinem anderen Stern. Leo stand nie vor dem Spiegel, auch nicht, wenn sie gerade nach einer Liebesnacht aus dem Bett kam. Sie trug auch kein Make-up, betonte nur ihre Augen mit einem dunklen Stift, den sie mit dem Finger verwischte. Sie warf ihr frisch gewaschenes Haar nach vorn, dann nach hinten, griff mit beiden Händen hinein und schüttelte ihre Locken – fertig. Auf der anderen Seite vermittelte sie das Gefühl, dass man auf sie zählen konnte wie auf einen guten Kumpel. Man konnte sich total auf sie verlassen. Sie hatte den Instinkt, in stressigen Situationen das Ruder zu übernehmen, und ihre Entscheidungen waren immer die richtigen. Aber es gab keinen Schlüssel zu ihr. Sie allein war für ihr Handeln verantwortlich. Wenn sie sprach, war es, als ob sie von vornherein keine Antwort erwartete. Es schien, als hörte sie dem, was andere sagten, nicht genau zu. Ein Verhalten, das auf manche beleidigend wirken mochte, es jedoch in keiner Weise war. Tatsächlich hatte sie aufmerksam zugehört und alles im Kopf behalten, um danach ganz offen ihre Meinung zu sagen. Sie war ehrlich aus Prinzip. Auch belehrend, wenn es darauf ankam, was gelegentlich missfiel. Ungerechtigkeiten und krasse Gemeinheit lösten in ihr eiskalte Wut aus. In solchen Fällen waren ihre Reaktionen unberechenbar. Man legte sich besser nicht mit ihr an. Doch für gewöhnlich kam man gut mit ihr aus. Sie suchte keine Konfrontation, sondern zeigte Selbstdisziplin, Intelligenz und Gelassenheit in allem.

Künstler sind früher reif. Aber Kenan konnte nur ahnen, was in Leo vorgehen mochte, kann aber nicht an ihr Denken heran. Trotzdem vertraute er ihr, obwohl er sie erst seit zwei Stunden kannte. Er hatte keine Ahnung, warum, und machte sich überhaupt keine Gedanken deswegen. Es war einfach so. Und er unterdrückte auch nicht den Impuls, ihr seine eigenen Gedanken preiszugeben. Er sprach nonchalant, es gab in ihm keine Ruhelosigkeit. In Gefühlsdingen war er nicht – wie so viele – ins Leere hineingehängt, sodass aus seinen Erklärungen kein schusseliges Gerede wurde. Er stand fest in seiner innerlichen Welt. Und Leo verspürte den starken Wunsch, ihm zuzuhören, sehnte sich nach der Leichtigkeit des Austauschs.

»Und was malst du am liebsten? Frauen?«

»Nein, Vögel.«

»Ist das wegen Melek Taus?«

»Ja, aber auch wegen Horus. Mir gefällt, dass die Menschen schon vor vielen tausend Jahren Vögel verehrten. Die Götter wohnen ja im Himmel, und die Vögel sind die einzigen Lebewesen, die fliegen können.«

»Im alten Ägypten«, sagte Leo, »beherrschte Horus die Götterwelt in Gestalt eines Falken. Seine Flügel breiten sich über den Himmel aus, in seinen Krallen hält er die Erde. Sein rechtes Auge ist der Mond, das linke die Sonne.«

»Ich weiß.«

»Willst du deswegen Maler werden?«

»Du meinst beruflich? Ich hatte schon eine kleine Ausstellung und konnte einige Bilder verkaufen. Aber das war halb privat. Ich komme zu nichts, wenn ich keine Preise erhalte, wenn Kunstkritiker und Sammler nicht auf mich aufmerksam machen. Dabei interessiert mich nichts anderes, als zu malen. Bei jedem Atemzug, so kommt es mir vor, entsteht in mir ein weiteres Bild. Und ich kann ja diese Bilder nicht nur einfach im Kopf behalten. Ich muss sie darstellen.«

»Und wie malst du?«

»In erster Linie gehe ich von dem aus, was ich sehe, von einer genau definierten Form. Dann bestätige ich das, was vorhanden ist, bevor ich diese Form allmählich verändere, bis ich sie völlig neu sehe.«

Gedankenversunken trank Leo einen Schluck und verzog das Gesicht.

»Wir haben zu viel geredet. Und jetzt ist der Kaffee kalt.«

»Soll ich dir noch einen holen?«

»Lieber ein Eis«, meinte Leo.

»Was für ein Aroma?«

»Schokolade und Erdbeeren.«

Kenan stand auf, um das Eis zu holen. Leo blickte ihm hinterher, ihre Gedanken glitten von Schicht zu Schicht, wobei sie leicht mit dem Fuß wippte. Kurze Zeit später kam er wieder zurück und reichte ihr ein Eis am Stiel. Sie probierte und nickte mit ernster Miene.

»Das Eis schmeckt gut.«

Kenan setzte sich wieder zu ihr.

»Vor ein paar Tagen habe ich ein Bild gemalt. Willst du es mal sehen?« Er zog sein Smartphone hervor und zeigte ihr das Foto. Sie betrachtete es eingehend, während sie ihr Eis schleckte.

Das Bild stellte, linear angedeutet, die Umrisse eines Vogels dar. Leo musste es genau betrachten, um den Vogel zu erkennen. Der Hintergrund war blau, violett und Purpur, aber jede Farbe schien hinter der nächsten zu verschwinden. Ein Sonnenuntergang? Ein Tagesanbruch? Man konnte es nicht genau sagen. Der Maler hatte lediglich etwas dargestellt, was er mit seinen inneren Augen sah: undefinierte Formen undefinierbarer Dinge. Der Vogel selbst war nur undeutlich erkennbar. Als würde er in die Sonne eintauchen.

»Es sieht aus, als ob sich sein Kopf auflöst«, bemerkte Leo.

»Ich denke, das liegt an den Acrylfarben. Aber irgendwie entspricht das meiner Aussage. Deswegen habe ich auch nichts daran geändert.«

Leo gab ihm das Smartphone zurück. Ihr Gesicht wirkte abwesend. Kenan wusste plötzlich nicht, ob sie sich das Bild überhaupt richtig angesehen hatte. Wenn nicht, wäre er deswegen nicht beleidigt gewesen. Auf einmal fragte sie ruhig:

»Was soll das für ein Vogel sein?«

Er atmete erleichtert auf. Anscheinend gefiel ihr das Bild.

»Ein Geier.«

»Ach! Warum ausgerechnet ein Geier?«

»Weil ich Geier mag. Sie kommen mir unglaublich intensiv, unglaublich geheimnisvoll vor.«

»Sie sind besondere Vögel«, sagte Leo.

»Und sie sind sehr groß, nicht wahr?«, entgegnete Kenan.

»Sie zählen mit zu den größten. Ihre Flügel erreichen eine Spannweite von über 2,5 Metern. Vor nicht allzu langer Zeit wurden in Tibet die Verstorbenen auf hölzerne Bestattungstürme gelegt, die ›Türme des Schweigens‹. Die Angehörigen ließen die Mönche kommen, die besondere Gebete sprachen und die Geier herbeiriefen. Die Vögel sorgten dafür, dass das Fleisch der Toten – Menschen und Tiere – nicht verweste. Krankheiten konnten sich nicht verbreiten, die Luft blieb sauber und die Erde fruchtbar. Aus diesem Grund galten sie als heilige Vögel. Aber dann kamen die Chinesen, erschossen die Mönche und die Geier und machten alles kaputt. Sie machen ja systematisch kaputt, was ihnen nicht in den Kram passt.«

»Die Tibeter sind Buddhisten«, sagte Kenan. »Entsprach der Brauch denn ihrer Religion?«

»Absolut. Die Geier vernichteten den alten Körper, befreiten die Seele und machten sie bereit für die Wiedergeburt. Man nannte sie die ›Boten des Himmels‹. Ähnliche Zeremonien gab es im Iran, in Armenien, in den Karpaten und auch bei den nordamerikanischen Ur-Einwohnern.«

»Seltsam«, meinte Kenan »Aber auch irgendwie … nobel.«

Leo nickte zerstreut. Die Welt der Erscheinungen – sie hatte oft genug mit ihr zu tun. Dabei geriet sie ins Zittern. Dinge regten sich in ihrem Kopf, die sie nur mühsam beherrschte. Und da war etwas in der Mitte, das nicht zu sehen war. Noch nicht. Katja hatte sie ja gewarnt. Es gehörte zu ihrer Natur, dass sie weitergehen konnte – vorausgesetzt, dass sie dazu bereit war. Und jetzt war sie noch nicht dazu bereit. »Ich muss das alles Schritt für Schritt verarbeiten«, dachte sie. »Wenn ich zu viel denke, wird mir schlecht. Und er darf jetzt noch nichts davon merken.« Nach ein paar Atemzügen ließ das Zittern nach. Sie stellte fest, dass Kenan sie anstarrte, und sie fragte sich leicht verunsichert, ob ihm wohl etwas aufgefallen war. Offenbar nicht, zum Glück. Er hatte sie lediglich etwas gefragt. Leo fuhr leicht zusammen.

»Was hast du gesagt?«

»Dass das Museum in acht Minuten schließt.«

»Ach so! Ich habe gar nicht mehr daran gedacht. Um sechs treffe ich meinen Vater. Er hat den ganzen Tag in der Library verbracht und wird bestimmt Hunger haben. Willst du mit uns essen?«

»Oh, sehr gerne! Aber ich will ihn keineswegs stören.«

»Du wirst ihn stören. Alle stören ihn. Aber das ist sein Problem. Lass dich nicht davon beeindrucken. Er kann sehr nett und witzig sein. Magst du thailändische Küche?«

Sie zog ihr Smartphone aus der Jackentasche und rief Jan an.

»Hm?«, brummte er.

»Ich habe einen jungen Mann im Museum getroffen. Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn mitbringe?«

»Ich habe etwas dagegen.«

»Warte nur ab, du wirst ihn mögen.«

»Ganz gewiss nicht. Außerdem habe ich Kopfweh. Es war viel zu heiß in der Library.«

»Er ist Kunststudent und will Maler werden. Er hat mir ein Bild gezeigt. Das wird dir gefallen.«

»Eine Dusche würde mir besser gefallen.«

»Ach, komm, Papa! Sei nett zu ihm.«

Sie wusste, dass Jan am liebsten darauf verzichten würde, seine Kopfschmerzen mit einem Fremden zu teilen. Doch letzten Endes stimmte er zu:

»Na gut, bring ihn mit!«

Leo wusste nicht, wozu es nützlich sein sollte, dass ihr Vater Kenan kennenlernte. Es war einfach nur eine spontane Eingebung. Aber sie hatte gelernt, auf Eingebungen zu hören. Früher oder später ergaben sie stets einen Sinn.

Das Erbe der Vogelmenschen

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