Читать книгу Das Erbe der Vogelmenschen - Federica de Cesco - Страница 9

4 EINE NEUE HEIMAT FÜR DIE SEELE

Оглавление

»Woran denkst du?«, hätte man Leo fragen können, als sie acht Monate später am Eingang zum British Museum in der Schlange vor dem Kontrollposten wartete. Jeder Rucksack und jede Handtasche wurden geöffnet und akribisch durchsucht. Man kam nur langsam vorwärts, aber die Leute zeigten keine Ungeduld. Auch Leo nicht. Sie war ganz in ihren eigenen Gedanken versunken.

Derweil saß ihr Vater unter der gewaltigen Kuppel der altehrwürdigen »British Library«, hatte eine Flasche Mineralwasser vor sich auf dem Tisch und brütete über Berichten aus der Vorkriegszeit über Höhlen-Fundplätze in der Türkei, die möglicherweise erlaubten, den Übergang von der Altsteinzeit zur Jungsteinzeit zu erforschen. Leo würde ihn erst am Abend wieder zu Gesicht bekommen.

Sie verstand sich gut mit ihrem Vater. Seine Absonderlichkeiten waren ihr vertraut. Bevor Leo ein paar Worte mit ihm sprechen konnte, ging es fast immer darum, den richtigen Augenblick zu erwischen, damit er überhaupt zuhörte. Wenn man im unpassenden Moment das Wort an ihn richtete, knurrte er nur mechanisch »hm«, während er mit seinen Gedanken auf dem Mond weilte. Allerdings, wenn ihm der Sinn danach stand, konnte er anschaulich und spannend Reiseabenteuer schildern und über seine Recherchen sprechen. Die Zuhörer waren beeindruckt, weil ihn sein Beruf in Länder geführt hatte, die nicht unbedingt als harmlose Ferienziele bekannt waren. Je nach Laune konnte er sich sogar als amüsanter Causeur entpuppen, der eine ganze Tischrunde zum Lachen brachte. Man musste nur gut einschätzen, in welcher Stimmung er gerade war. Für Leo kein Problem. Sie las in ihm wie in einem offenen Buch.

Die Sonne schien bereits hell an diesem Septembermorgen. Im »Great Court«, dem weiträumigen Atrium, blendete das Licht. Leo ging die geschwungene Marmortreppe empor, wanderte gemächlich von einem Raum zum anderen, blieb ab und zu stehen, um ein Objekt genauer zu betrachten.

Im Museum war der Aberglaube wenig präsent, es sei denn als Thema für eine Spezial-Ausstellung. Aber der Mythos war überall, eine Konstante. Der Mythos war ein Akt des Lebens, ein Ausbruch der Kreativität. So wirklich und präzise wie ein ästhetischer Genuss, ein Zeichen und Siegel der Kultur.

Und Leo erinnerte sich. Sie wohnten damals in Freiburg, wo ihr Vater Jan für zwei Jahre einen Lehrstuhl an der Albert-Ludwigs-Universität innehatte. Leo war damals zwölf Jahre alt. Es war im Gymnasium, im Geschichtsunterricht. Sie saß brav und aufmerksam an ihrem Platz, während Frau Försterling, die neue Lehrerin, von alten Religionen sprach. Sie erzählte von Marduk, dem Schutzherrn von Babylon, und seinem ständigen Begleiter, dem Schlangendrachen. Sie erzählte von der Göttin Inanna, der Himmelskönigin, die in Vogelgestalt die Menschen beschützte. Dann kam sie auf das alte Ägypten zu sprechen. Sie zeigte Bilder: die Pyramiden, die Büste der Nefertiti und die prachtvollen Grabkammern der Pharaonen. Und auch Mumien von Katzen, an denen man noch die kleinen Ohren erkennen konnte. Die Kinder fanden das lustig. »Im alten Ägypten wurden Katzen verehrt«, sagte die Lehrerin. »Sie waren der Göttin Bastet geweiht, weil sie Mäuse jagten und das Korn schützten.«

Es gab auch Mumien von Vögeln, ja sogar von Skarabäen, präpariert für die Ewigkeit. »Der Skarabäus war ein Symbol der Sonne und wurde als Amulett getragen«, erklärte Frau Försterling. »Das hört sich seltsam an, aber die Ägypter waren sehr abergläubisch. Und da Moses in Ägypten erzogen wurde, stand auch er unter dem Einfluss der ägyptischen Kultur. Aber am Ende hat das Christentum den Aberglauben besiegt.«

Freiburg ist eine katholische Stadt, und die Lehrerin war katholisch. Und sie kannte sich zweifellos in der Materie gut aus. In der nächsten Viertelstunde berief sie sich auf das Alte Testament, betonte den Unterschied zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern.

Leo saß ruhig da und starrte vor sich hin. Nach einer Weile hob sie die Hand und meldete sich. Frau Försterling nickte ihr wohlwollend zu.

»Ja, Leonarda?«

»Wo ist der Unterschied?«, fragte Leo, die es nicht mochte, wenn man sie bei ihrem vollen Namen nannte. »Ich meine … wieso ist ein einziger Gott wahr und alle anderen falsch?«

Frau Försterlings Problem war, dass sie sich zu Leo hingezogen fühlte. Leo war niemals unhöflich oder vorlaut. Aber das, was sie sagte, war stets unberechenbar.

Frau Försterling verzog die Lippen zu einem Lächeln.

»Leonarda, ich bin mit dir einverstanden, dass wir heutzutage nicht mehr alles schlucken. Und was unsere Religion betrifft, gebe ich dir insofern recht, dass eine historische Zuverlässigkeit nicht lückenlos gewährleistet ist. Und gleichwohl sind zahlreiche Ereignisse der biblischen Darstellung unbestritten. Soviel ich erfahren habe, ist dein Vater Archäologe. Er wird dir bestimmt einiges erklärt haben.«

Leo nickte.

»Ja, aber er sagt etwas ganz anderes.«

»Was sagt er denn?«

»Er sagt, dass jedes Volk seine eigene Religion erfunden hat. Und dass jedes Volk an einen anderen Gott glaubt. Oder an viele Götter, je nachdem.«

Frau Försterling wirkte leicht aus dem Konzept gebracht.

»Aber du selbst? Was denkst du über Gott? Ich meine, über unseren Gott?«

»Ich denke, dass er wie alle anderen erfunden wurde.«

Leo sah so eigenwillig aus, wie es ihr Wesen ja auch war. Ihre hohe Stirn war gewölbt, die Wangenknochen schmal, der Mund klein und schön geformt, das Kinn eher spitz. Ihre Nase war lang und schmal, ihre Brauen trafen auf der Nasenwurzel fast zusammen, was ihrem Gesicht einen besonderen Ausdruck verlieh, einen Ausdruck von Skepsis und Klugheit. Ihr Hautbild war ebenmäßig mit einem leuchtenden Schimmer. Ihre Augen waren dunkel und mandelförmig. Die großen Pupillen schienen nicht geradeaus, sondern immer ein wenig von der Seite zu blicken, was ihnen einen eigentümlichen Reiz verlieh. Noch als sie im Kinderwagen lag, hatten die Leute ihrer Mutter Komplimente gemacht. Nein, sie hatten noch nie ein erstaunlicheres Baby gesehen! Ein Baby, das munter drauflos plapperte, das jeden unbefangen anlächelte, mit diesem unwiderstehlichen Blick. Strahlend. Die Leute waren entzückt, in erster Linie die Frauen, die Mütter vor allem. Das hatte man Leo erzählt. Ein bezauberndes Baby, ein richtiges Engelchen. Sie wollten es berühren, es streicheln. Wer hätte diesem Baby widerstehen können?

Lena lächelte immer freundlich, wenn die Leute ihr Baby bewunderten. Ja, sie hatte tatsächlich Glück mit der Kleinen: Sie war ein liebes Kind, das artig seinen Brei aß und in der Nacht wenig schrie.

Später hatte Leo erfahren, dass nur einige enge Freunde Lenas Geheimnis kannten. Dass ihr Baby viel zu groß und zu schwer für sie gewesen war. Dass Leo mit Kaiserschnitt zur Welt gekommen war. Ihre Geburt hatte Lena fast das Leben gekostet. Sie hatte zu viel Blut verloren. Und jetzt konnte sie nie wieder ein Kind bekommen.

Natürlich liebte Lena ihr kleines Mädchen. Natürlich war sie eine fürsorgende Mutter. Wenn Leo in der Nacht aufwachte oder keinen Schlaf fand, dann war Lena immer da, streichelte sie und fand die richtigen Koseworte, die Leos Empfindungen entsprachen, sodass sie auch bald wieder einschlief. Und Lena schaute sie an und dachte, mein Gott, wie hübsch dieses Kind doch ist und wie friedlich es schläft! Allerdings war da immer etwas, das sie verwirrte: das Gefühl einer absoluten Fremdartigkeit. Aber warum machte sie sich Sorgen? Und worüber eigentlich? Von Leo ging nichts Böses aus – nein, das war es nicht. Es schien keinen vernünftigen Grund zu geben, dieses auffallende Kind nicht zu lieben. Es gab auch kein Omen, keine Prophezeiung, nur irgendeine Eigenschaft, die es unabhängig machte von jedem Verstehen. In Lenas verstörenden Wachträumen erschien ihre kleine Tochter in keiner Weise zugänglich. Wie eine Wachspuppe kam sie ihr vor. Eine Puppe hält man in den Armen und liebkost sie, aber eine Puppe ist kein richtiges Kind. Ja, und es ist viel besser, wenn man keine Gefühle für sie entwickelt.

Solange Leo noch klein war, nahm sie diese Dinge nur mit halbem Verstand wahr. In Leo schwebten nur unmittelbare Empfindungen, unschuldig, großmütig, unbefangen. Das änderte sich schlagartig, als Leo 13 Jahre alt wurde. Die Einsicht kam für sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, schmerzlich und vollkommen unverständlich. Es gab ein Vorher und ein Nachher. Die Mutter spürte, dass zwischen ihnen etwas war, dass sie sich unabänderlich voneinander fortbewegten. Sie hatte auch bei Jan kein Verständnis gefunden. Er war zu sehr in seine Arbeit vertieft. Wenn sie ihn darauf ansprach, sagte er: »Alles nur Einbildung! Mach doch eine Psychotherapie. Die zahlt dir sicher die Krankenkasse.« Lena erlebte Schmerz, Wut und Einsamkeit. Und als dieser andere Mann in ihr Leben trat, heiter und unkompliziert, da zögerte sie nicht lange und reichte die Scheidung ein. Es ging nicht mehr um eine Konkret- oder Abstrakt-Wahrnehmung. Es ging darum, eine neue Heimat für ihre Seele zu finden.

Wenn es sich um ihre Mutter handelte, dachte Leo sehr langsam und in Bruchstücken. Zunächst handelte es sich nur um ein Gefühl, das sie sprachlich überhaupt nicht fassen konnte – weil es etwas war, das allein in der intuitiveren Verborgenheit entsteht. Es waren keine bewussten Gedanken, lediglich Empfindungen, die sich aus unbemerkten und vergessenen Informationen zusammensetzten und sich zu einer Ahnung zusammenfügten. Keine eingebildeten Erinnerungen, nein, sondern eine Botschaft aus unendlicher Ferne. Und irgendwann erkannte Leo die Wahrheit, so klar und unleugbar, als hätte man sie ihr ins Gesicht geschleudert. Es hatte eine Konfrontation stattgefunden, und sie war daraus als Siegerin hervorgegangen. Und sie weinte um ihre Mutter, diese kluge, liebevolle Frau, die in ihr ein Monstrum sah.

Das Erbe der Vogelmenschen

Подняться наверх