Читать книгу Die Frau im Treppenhaus - Fee-Christine Aks - Страница 6

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Ich schaltete die Kamerafunktion ein und hob das Telefon, um die Ecke auf dem Treppenabsatz mit dem Blitz-Vorablicht auszuleuchten. Ich war bereits im ältesten Teil des Gebäudes angekommen, in dem das alte Treppenhaus Säulen und weit geschwungene Treppenabsätze mit tiefen Schatten hatte.

Ich leuchtete umher und erwartete, ein Tier zu sehen oder zumindest einen alten Blumenkübel. Zu meiner Überraschung war es jedoch eine Frau, die zu mir aufsah.

Sie hockte in der Ecke, die nackten schlanken Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und den Stoff ihres roten Sommerkleides mit altertümlich anmutenden Puffärmeln so wärmend wie möglich um ihre schlanken Beine gelegt. Sie war jung, vielleicht zwei Jahre jünger als ich, und atemberaubend schön. Ihr Haar war lang, sanft gewellt und von einem so tiefen Rot, dass es wie teurer Burgunder um ihre nackten Schultern floss.

Ihr Gesicht war schmal und blass, mit einer schmalen geraden Nase voller winziger Sommersprossen, hohen Wangenknochen, vollen Lippen und den größten und tiefsten graublauen Augen, die ich je gesehen hatte. Sie schien geweint zu haben, da ihr dezentes Make-up feucht und verwischt war. Dennoch war sie unsagbar schön.

Ich war so überwältigt von dem Anblick, dass ich erst merkte, was ich tat, als das Blitzlicht auslöste und mein Mobiltelefon ein Foto schoss. Die Frau schrie erschrocken auf und hob die Hände mit den schlanken Fingern vor ihr Gesicht.

„Entschuldigung“, murmelte ich zerknirscht. „Das wollte ich nicht.“

„Schon gut“, antwortete sie nach Verstreichen der Schrecksekunde und ließ die Hände wieder sinken. Ihre großen Augen sahen zu mir auf, fast flehentlich, aber auch fragend.

„Ich tu Ihnen nichts“, sagte ich beruhigend und lächelte vorsichtig.

„Das weiß ich“, antwortete sie und streckte eine Hand zu mir, die ich nur zu gern ergriff. Ich zog sie mit sanftem Schwung auf die Füße, die nackt in weißen Ballerinas steckten, und spürte meinen Herzschlag schneller werden, als ihr schlanker Körper kurz gegen mich gepresst wurde.

Augenblicklich jagten mir tausend Gedanken durch den Kopf, die allesamt damit zu tun hatten, wie wir beide uns in heißer Leidenschaft in einander verschlungen Liebe schenkten. Rasch ließ ich sie wieder los und trat einen Schritt zurück.

„Sie haben mich fotografiert“, sagte sie und es klang nicht wie ein Vorwurf, mehr wie eine Feststellung. „Aber Sie hatten mich erschreckt. Machen Sie doch noch eins, ein richtiges.“

Ich grinste und ging ein paar Stufen hinab bis zum nächsten Absatz der Treppe, von wo aus ich einen perfekten Blick auf sie hatte.

Sie stellte ihre kleine Handtasche hinter sich ab, warf die Haare zurück und stützte sich mit der rechten Hand auf dem Geländer der Treppe ab, bevor sie rasch den runden Ausschnitt ihres Kleides zurecht zupfte, den rechten Fuß über das linke Bein legte und mich dann erwartungsvoll ansah. Ich hatte währenddessen die Szene beleuchtet und mit dem Vorab-Blitzlicht den Ausschnitt überprüft und den Auto-Fokus eingestellt. Es klickte zweimal.

Ihr helles Lachen hallte durch das ansonsten dunkle Treppenhaus, sodass mir ein wohliger Schauer über den Rücken rollte und ich das Telefon für einen Moment sinken ließ.

„Nochmal bitte“, lachte sie und sah zu mir herab. Ihr Lächeln war sanft und warm, wirkte aber auch ein wenig scheu. Ich spürte, wie die Hitze in mir aufstieg angesichts dieser wunderschönen Frau.

Ich hob mein Mobiltelefon und bemerkte erschrocken, dass das Display bereits am Erlöschen war. Ich sah die Akku-Anzeige flackern – leer – und wusste, dass ich mich beeilen musste. Ich Dummkopf! Über meine Arbeit hatte ich vergessen, mein Telefon aufzuladen, also würde es nur noch für wenige Fotos reichen. Und eines davon musste einfach etwas werden. Ich wollte eine Erinnerung an diese Frau haben, unbedingt.

Ich drückte zweimal auf den Auslöser-Knopf und sah, wie das Telefon mit einem letzten Aufseufzen die Fotos schoss – und dann mit einem müden Smiley im Display ausging.

„Tja“, murmelte ich in der erneuten Dunkelheit. „Das war es dann wohl.“

„Meins hat noch zwei Striche Akku, aber leider keinen Empfang“, sagte die Frau und zog ihr Telefon aus ihrer kleinen Handtasche. „Dazu bin ich vorhin gestolpert und habe mir den Fuß verstaucht, als ich im Halbdunkel über das Kabel da gestolpert bin.“

„Das haben wir gleich“, lächelte ich, als der Lichtschein ihres Vorab-Blitzes aufleuchtete und das abgerissene Kabel an der nächsten Treppenbiegung sichtbar wurde, das ich beim Hinuntergehen glücklich umgangen war, ohne es zu bemerken. „Setzen Sie sich auf die Stufe“, sagte ich, stieg zu ihr hinauf und half ihr beim Setzen, wobei meine Hand mehr als einmal ihre schlanke Taille umfasste.

Ich zog ihr vorsichtig den rechten Schuh aus, den sie in ihre Handtasche schob, und nahm mein Einstecktuch ab – feinste Seide, aber für diese Frau war mir jedes Opfer wert. Mein letzter Erste-Hilfe-Kurs lag zwar schon eine halbe Ewigkeit zurück, aber ich vollbrachte doch einen ganz passablen Stützverband um ihren schlanken Knöchel.

„Kommen Sie“, sagte ich und reichte ihr die Hand, „Sie können sich bei mir stützen. Ich helfe Ihnen.“

Sie lächelte und schaltete das Licht wieder aus, als meine freie Hand das Treppengeländer umfasst hatte. Ich hörte, wie sie das Telefon in ihre Tasche schob und dann „alles klar, los geht’s“ sagte. Automatisch flüsterte sie in der erneuten Dunkelheit.

Mühsam stiegen wir die Treppen hinab, Stockwerk um Stockwerk, und die ganze Zeit über lag ihr rechter Arm um meinen Nacken und mein linker Arm um ihre schlanke Taille. Ihr Duft nach Veilchen und Lavendel hüllte mich gänzlich ein und fing schon nach wenigen Minuten an, mir die Sinne zu benebeln.

Ich wollte sie am liebsten auf der Stelle küssen, liebkosen und in der Dunkelheit den aufregenden Rest ihres Körpers erforschen, doch ich riss mich mit aller Gewalt zusammen. Dies war weder Zeit noch Ort dafür; wir mussten ins Erdgeschoss und dort die Tür zum Verbindungsgang finden, der ins Personaltreppenhaus zur alten Tiefgarage führte. Das war unsere einzige Chance, vor Montag aus dem Bürogebäude zu entkommen.

Wir sprachen nicht viel, nur hin und wieder ein paar kurze Stücke, die unsere Konzentration in der Dunkelheit nicht beeinträchtigten. Ich erfuhr, dass sie genau wie ich von der plötzlichen Dunkelheit überrascht worden war. Genau wie ich hatte sie sich für das alte Treppenhaus entschieden, um durch die Tiefgarage und die manuell zu öffnende Tür auf die Seitenstraße zu gelangen.

Wir stiegen weiter hinab, vorsichtig und mit den nötigen Pausen, da sie auf einem Bein neben mir her humpeln musste. Wenn wir Licht gehabt hätten, dann hätte ich sie – wie ein edler Ritter – selbstverständlich auf Händen getragen. So aber hatte ich gefühlte Stunden lang Zeit, die schönste Frau im Arm zu halten, die mir je über den Weg gelaufen war.

Als wir schließlich das Erdgeschoss erreichten, zog sie ihr Telefon hervor und leuchtete umher. Die lange Treppenflucht war zu Ende und es gab zwei Türen, die sich jedoch beide als verschlossen herausstellten.

Wir waren gefangen, also sahen wir uns in unserem Gefängnis um in der Hoffnung, noch irgendwo eine verborgene Tür oder etwas Hilfreiches zu finden – vergebens. Unter der Treppe standen einige alte Umzugskartons mit allerlei Krempel darin und tatsächlich ein Blumentopf mit einer staubtrockenen Zimmerpalme.

„Was machen wir jetzt?“ flüsterte sie, ließ sich auf die unterste Treppenstufe sinken und schaltete das Licht vorsorglich aus, während wir nachgrübelten; auch ihr Akku würde nicht mehr ewig halten. „Ob eine der anderen Türen oben sich öffnen lässt?“

„Uns würde nur die hier im Erdgeschoss etwas nützen“, antwortete ich und wünschte, den Mund gehalten zu haben. Warum das Unübersehbare noch tiefer reindrücken? Wir saßen hier im Treppenhaus fest, was mir angesichts meiner charmanten und wunderschönen Begleiterin jedoch nicht als das Schlechteste auf der Welt erschien. So hatten wir Zeit, uns näher kennenzulernen – notfalls bis Montag, wenn die Angestellten wieder zur Arbeit kamen. Von mir aus konnte es bis dahin auch noch Jahre dauern – allerdings würden wir dafür etwas zu essen und zu trinken benötigen und auch eine Toilette würde bei Zeiten nicht zu verachten sein.

Sie seufzte leise im Dunkeln und schien ihren schmerzenden Knöchel zu massieren. Ich überlegte fieberhaft. Dann bat ich sie um Licht und begann, in den Umzugskartons herum zu wühlen. Ich war dem Himmel unendlich dankbar, als ich drei kleine Kerzenstummel mit eingesunkenem Docht fand und dazu auch einen angelaufenen niedrigen Kerzenhalter aus Messing.

„Rauchen Sie?“ fragte ich, erhielt aber ein Kopfschütteln als Antwort. Dann schien sie zu begreifen und kramte in ihrer Handtasche.

„Aber“, grinste sie und zog ein Streichholzbriefchen hervor, auf dem ich die Golden Gate Bridge erkannte, „ich habe letzte Woche in San Francisco in einem Hotel gewohnt, wo sie diese hübschen Streichholzbriefchen mit Stadtansichten hatten.“

Nun hatten wir wenigstens Licht in unserem Gefängnis, das ich mithilfe der Umzugskartons und einem Teppichrest in eine einigermaßen weiche Sitzgelegenheit verwandelte. Meine wunderschöne Begleiterin lächelte mich an und ließ sich zu dem improvisierten Lager herüber helfen.

Ich zog mein Jackett aus und hängte es ihr über die nackten Schultern. Dabei rutschte einer der Träger ihres roten Kleides ein wenig zur Seite, sodass ihr Ausschnitt für einen Moment tiefer wurde und unverhofft den Blick auf den Rand ihres weißen Spitzen-BHs gestattete. Schnell drehte ich mich zur Wand und zwang mich, an meine Zahlenkolonnen für die Berechnung des Projektbudgets zu denken; doch die Ablenkung wollte mir nicht so recht gelingen.

„Darf ich mich anlehnen?“ fragte sie leise und machte meine Lage damit nicht unbedingt besser. „Die Jacke tut gut, aber mir ist trotzdem kalt.“

Ich nickte stumm, denn ich war noch zu sehr damit beschäftigt, die sanft aufragenden Hügel ihrer Brüste unter dem dünnen Stoff des Kleides auszublenden. Es gelang mir jedoch nicht, denn – um ehrlich zu sein – ich wollte sie ansehen, alles an ihr, jeden Zentimeter ihrer blassen Haut, die im Kerzenschein wie Seide schimmerte. Noch mehr aber wünschte ich mir, sie zu berühren, zu küssen und erforschen zu dürfen.

Innerlich mahnte ich mich zur Zurückhaltung, was angesichts dieser Frau eine schwere Aufgabe war. Aber ich hatte gelernt, dass es sicherer ist, die Initiative an die Partnerin abzugeben – zumindest vor dem ersten Mal.

So schalt ich mich innerlich – und hörte mich dabei an wie meine Tante Ada, während eine andere Stimme mir wie das sprichwörtliche kleine Teufelchen in der Stimmlage meines besten Freundes John antwortete.

„Benimm dich, Sam“, sagte Tante Ada alias das Engelchen streng.

„Ach was“, widersprach John mit einem lüsternen Grinsen. „Sie will es doch auch. Nimm sie dir!“

„So habe ich dich aber nicht erzogen, Sam!“ rief Tante Ada dazwischen.

„Hör nicht auf die!“ knurrte das Teufelchen. „Was weiß die denn schon. Da hast du die schönste Frau der Welt getroffen und ihr seid alleine!“

„Bitte, Sam! Beherrsche dich!“ flehte das Engelchen.

„Sie kann dir nicht entkommen, Sam“, gab das Teufelchen zu bedenken. „Und außerdem flirtet sie doch schon mit dir. Los jetzt!“

Tante Ada wollte etwas Engelhaftes erwidern, aber da machte die Frau im Treppenhaus ihr einen Strich durch die Rechnung – und ließ Teufelchen John in siegesgewisses Lachen ausbrechen. Ich war sehr bemüht, mir die Vorfreude und Erregung nicht ansehen zu lassen und schloss für einen Moment die Augen.

Die Frau im Treppenhaus ließ sich davon nicht irritieren. Sie setzte sich mit ausgestrecktem rechtem Bein neben mich und lehnte die Wange an meine Schulter. Ich spürte die Wärme, die durch mein Polohemd von ihr auf mich überging und beinah zu knistern schien.

Wir unterhielten uns noch eine Weile, dann wurden wir ruhiger und müde. Ich bettete sie sorgsam auf unser Lager und breitete mein Jackett über sie; dann legte ich mich neben sie – mit fünf Zentimetern Sicherheitsabstand. Sie aber rutschte näher und kuschelte sich in meine Arme, sodass meine Wange an ihrer Schläfe zu liegen kam. Ich spürte, dass sie ein paar Tränen vergoss und ein leichtes Zittern ihren Körper erbeben ließ. Ob sie Angst hatte? Vielleicht war ihr auch viel kälter als sie gesagt hatte. Ich schloss meine Arme fester um sie und spürte, wie sie ruhiger wurde. Wir wärmten uns gegenseitig und lauschten eine Zeitlang nur dem Atem des Anderen; dann aber drehte sie ihr Gesicht zu mir, hob das Kinn und stupste mit ihrer Nasenspitze an mein Kinn. Ich spürte, wie mein Herzschlag augenblicklich in Galopp ausbrach. Mir wurde heiß und kalt, dann blieb mir der Atem weg, als ihre vollen roten Lippen meinen Kiefernbogen streiften.

Ihr Atem war warm und ging flach, als sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen noch näher an mich kuschelte. Im nächsten Moment fand mein Mund den ihren, erst vorsichtig, dann immer gieriger. Sie zögerte, aber nur Sekundenbruchteile, bevor sie meinen Kuss erwiderte. Auch sie forderte mehr und schickte ihre Zunge zuerst auf Erkundung.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass es sonst nicht meine Art ist, eine Frau, die ich weniger als vierundzwanzig Stunden kenne, bei der ersten Gelegenheit zu überwältigen. Wobei – in diesem Fall war ich überwältigt und sehr froh darüber. Ganz gleich, wohin das mit uns führen würde, ich wollte es erleben.

Ich bin niemand für eine Nacht. Aber diese Nacht mit ihr in diesem, nur vom Kerzenschein erhellten Treppenhaus war die großartigste Nacht, die ich je erlebt habe. Wie oft wir eng umschlungen über unser Lager aus den alten Umzugskartons rollten, vermag ich bis heute nicht zu sagen; es können Millionen und Abermillionen gewesen sein. Das Einzige, das ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass ich irgendwann vor Erschöpfung glückselig eingeschlafen bin.


Die Kerzen waren heruntergebrannt, als ich zitternd erwachte. Ein merkwürdiges Geräusch hatte mich aufgeweckt, doch ich konnte es nicht einordnen. Um mich herum herrschte schwarze Finsternis.

Ich tastete umher und bekam mein Polohemd, mein Jackett und meine Hose zu fassen. Ich suchte weiter, doch ich fand sie nicht. Als ich in die Dunkelheit hineinfragte, fiel mir auf, dass ich noch nicht einmal ihren Namen wusste. Hatte ich mich ihr vorgestellt? Aber Namen waren unwichtig gewesen in unserer wundervoll-magischen Nacht im Treppenhaus. Und nun hockte ich da, allein. Sie war weg.

Ich rappelte mich auf und kroch auf allen Vieren zum Fuß der Treppe. Dort fand ich auch keine Spur von ihr, sodass ich mich im Dunkeln am Geländer hochzog und hinaufzusteigen begann.

Als ich gerade das zehnte Stockwerk erreichte, hörte ich plötzlich wieder das merkwürdige Geräusch, ein leise summendes Geräusch schräg über mir. Im nächsten Moment ging über der Tür zum Bürogebäude flackernd eine grünliche Notbeleuchtung für den Fluchtweg an. Ich drückte probeweise die Türklinke – und war zugleich überrascht und erleichtert, dass sich die elektrisch gesicherte Tür problemlos öffnen ließ. Offenbar war irgendwo ein Notstromaggregat eingeschaltet worden. Ob bereits jemand im Haus war, so früh am Samstagmorgen?

Aber mich interessierten jetzt nur zwei Dingen: Wo war sie? Hatte sie den Weg nach draußen gefunden? Ich beschloss, wieder hinunter zu gehen und es nochmal mit der Tür zu probieren, die zum Übergang in die Tiefgarage führte.

Im Hinuntergehen prüfte ich mehr aus Beschäftigung denn aus Neugier jede Tür, an der ich vorbeikam. Sie waren – bis auf die im siebten Stock – alle verschlossen. Die Tür im siebten Stock führte jedoch in den ältesten Teil des Bürogebäudes, der schon seit Jahren verriegelt und verrammelt war. Dort brauchte ich es gar nicht erst versuchen, denn dort gab es noch nicht einmal einen Zugang zum neuen Teil des Gebäudes und somit auch nicht zu den neuen Fahrstühlen. Es war nur eine Art Zwischengeschoss, im alten Gebäude, also blieb mir nichts übrig als weiter zu gehen.

Ich erreichte das Erdgeschoss, ohne irgendwo eine Spur von ihr gefunden zu haben. Auf meine Rufe hatte sie auch nicht reagiert. Also drückte ich die Klinke der ersten Tür – verschlossen. Ich wusste, dass es dahinter auf direktem Weg über nur zwei Treppen in die neue Tiefgarage hinüberging, aber dafür benötigte man den Schlüssel, den ich nicht hatte.

Die zweite Tür schien zunächst auch versperrt zu sein, doch als ich die Klinke beinah senkrecht nach unten drückte, hörte ich ein leises Klicken und der Riegel sprang auf!

Hinter der Tür empfing mich der muffige schmale Durchgang zum engen Treppenschacht, an dessen Wänden die Feuchtigkeit grünliche Spuren hinterlassen hatte. Doch ich hatte nur Augen für die graue Tür, die den Stahltreppen auf meiner Seite in kaum fünf Metern Tiefe gegenüber lag. Auch über ihr schimmerte grünlich die Notbeleuchtung. Ich flog die Stufen der Stahltreppen hinab, die mehrmals bedenklich knarrten, doch ich erreichte wohlbehalten die Tür.

Die Klinke war rostig und klemmte entsetzlich. Mit mehrmaligem Drücken gelang es mir jedoch, sie so weit hinunter zu drehen, dass der Riegel sich zu öffnen begann. Da ließ ich alle Vorsicht in den Wind schießen, griff beherzt zu und stemmte mich zugleich mit Schwung und meinem ganzen Körpergewicht gegen die Tür, die knarrend nach außen aufschwang.

Ich stolperte hinaus und fand mich im alten und beklemmend engen Teil der Tiefgarage wieder. Hier parkte seit Jahren niemand, der Wert auf ein unversehrtes Auto legte. Nur zwei planenbespannte Anhänger standen in der vordersten Reihe direkt an der Auffahrt, die hinüber in die neue Tiefgarage führte.

Noch einmal rief ich nach ihr, doch natürlich erhielt ich auch diesmal keine Antwort. Ich erinnerte mich an das Geräusch, das mich geweckt hatte. Offenbar war die Notstromzufuhr mit mehr als einem Anlauf zum Leben erwacht; wahrscheinlich hatte meine schöne Unbekannte einen dieser Momente genutzt, um die Tür mit dem direkten Zugang zur Garage aufzuschließen und zu verschwinden. Warum hatte sie mich nicht geweckt?

Dafür gab es eigentlich nur einen Grund: Sie hatte von mir bekommen, was sie wollte, und war nach der gemeinsamen Nacht weitergezogen.

Ärgerlich lief ich die Rampe hinauf und erreichte den neuen Teil der Tiefgarage, wo selbst an diesem Samstag noch ein paar Wagen parkten, die ich allerdings nicht erkannte. Aber in dem Bürogebäude gab es neben HLS noch neunundzwanzig weitere Mieter.

Das Büro der Aufsicht an der Ein- und Ausfahrt war nicht besetzt, das Gitter hinter den Schranken war nach unten gelassen. Aber ich wusste, dass es seitlich eine kleine Drehtür aus Eisenstangen für den Notfall gab, die sich von innen nach außen manuell drehen ließ. In meinen elf Monaten bei HLS hatte ich sie bereits mehrmals nutzen müssen, wenn ich nachts nach halb zehn nach Dienstschluss des Portiers im Foyer nicht mehr durch die Drehtür aus bruchsicherem Sicherheitsglas auf die Straße hinausgekommen war.

Auch jetzt drehte sich das Eisengitter gewohnt geschmeidig und entließ mich zu meiner großen Erleichterung wie immer mit einem leisen Klickern in die Auffahrt zur Straße. Dort war es ungewohnt dunkel, da alle Laternen und anderen Beleuchtungen aus waren. Als ich den Blick die Straße hinauf nach Osten wandte, konnte ich jedoch bereits einen rosafarbenen Schimmer am Himmel sehen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging.

Es musste gegen vier Uhr morgens sein, denn es war nichts bis gar nichts los auf der Straße. Nicht einmal die berühmten Yellow Cabs konnte ich sehen und auch keine späten Passanten. Ich fühlte mich allein.

Ich beschloss, zu Fuß die drei Blocks nach Nordosten zu gehen, wo meine damalige Wohnung in einer ruhigen Seitenstraße der Lexington Avenue lag. Heute wohne ich in der Upper West Side und habe von meinem Wohn- und Schlafzimmer aus einen fast unverbauten Blick auf den Central Park, aber immer der Reihe nach.

Die Straßen lagen wie ausgestorben vor mir, dunkel und so leise wie selten. In dieser Nacht war dieser Teil von New York eine Geisterstadt. Es war wie verhext, aber plötzlich waren sämtliche Kinderängste wieder da. Ich verspürte ein Frösteln, wann immer ich an schwarzen Toreinfahrten vorbei gehen musste, und wechselte nach wenigen hundert Metern auf die Straße. Inmitten der leeren Fahrbahn hatte ich zumindest das Gefühl, nicht gleich vom lauernden Monster in der nächsten schwarzen Einfahrt gegriffen und gefressen zu werden.

Überaus erleichtert erreichte ich schließlich die Straßenecke, von der aus ich das Mietshaus sehen konnte, in dem ich seit meinem Studium eine kleine Zwei-Zimmer-Bleibe im vierten Stockwerk bewohnte.

Ich fiel wie ein Stein in mein Bett, konnte aber keinen Schlaf finden. Meine Gedanken kehrten ein ums andere Mal zu der Frau zurück, mit der ich trotz des Eingesperrtseins so wundervolle Stunden im Treppenhaus verlebt hatte. Aber warum war sie verschwunden? Warum hatte sie mich allein gelassen?

Meine Kleidung roch noch immer leicht nach ihr, nach dieser betörenden Mischung aus Veilchen mit einem Hauch Lavendel, sodass sie geradezu an mir zu kleben schien, auch wenn sie nicht hier war. Ich hätte alles gegeben, sie jetzt hier neben mir zu haben, sie erneut im Arm halten und küssen zu dürfen, sie zu berühren, zu schmecken, zu riechen und zu lieben. Ich presste meine Nase in den Stoff meines Polohemdes, auf dem sie eine Weile gelegen haben musste, da es am intensivsten nach ihr duftete. Nie wieder würde ich es waschen, denn ich wollte ihren Duft um mich haben, bis in alle Ewigkeit.

Auf dem Rücken liegend, begann ich Pläne zu schmieden. Ich musste mich auf die Suche nach ihr machen, denn ich wollte sie wiedersehen. Im Büro würde ich nach ihr fragen; eine solch schöne Frau würde auch anderen in dem Bürogebäude aufgefallen sein.

Gleich am Montag würde ich mit dem Herumfragen beginnen, angefangen bei meinen Kollegen in der Agentur, dann systematisch bei jeder anderen Firma im Gebäude bis hinunter zum Portier, der allerdings erst seit wenigen Tagen seine Position innehatte. Der alte Jones, der mir damals an meinem ersten Arbeitstag die Schranke vor den Fahrstühlen per Hand geöffnet und mich freundlich begrüßt hatte, war vor einer Woche an einem Schlaganfall gestorben – mitten im Foyer, als er gerade sein Tageswerk beendet und sich auf den Nachhauseweg gemacht hatte.

Zufrieden verschränkte ich die Hände im Nacken und schloss die Augen. Ich spürte mein Herz in Galopp ausbrechen, als ich mir das Erlebte erneut in Erinnerung rief: ihr schönes Gesicht, ihre schlanke Gestalt, die langen dunkelroten Haare, das rote Kleid mit den altmodischen Puffärmeln und die weißen Ballerinas – und natürlich ihre zart schimmernde Haut, die festen kleinen Brüste und der Rest ihres herrlich geschmeidigen und heißen Körpers.

Ich muss gestehen, dass ich das ganze restliche Wochenende über nur mit Gedanken an sie verbrachte – ganz gleich, was ich tat, ob ich aß oder las, unter der Dusche stand oder mich selbst befriedigte: immer war sie es, an die ich dachte – die Frau im Treppenhaus.

Ihren Namen wusste ich nicht, also taufte ich sie einfach Annie.


Die Frau im Treppenhaus

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