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Kapitel 1

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Dominik stand im Bad über dem alten Waschbecken und seufzte. Er drehte an dem quietschenden Wasserhahn und sah zu, wie der Wasserspiegel stieg und stieg und nichts durch den Abfluss wegzufließen schien. Als das Wasser schon die Stelle des Beckens erreichte, an der ein bisschen vom Porzellan abgeplatzt war, drehte Dominik den Hahn wieder zu. Und jetzt?

Ratlos legte er den Plöppel weg, den er gerade – offensichtlich erfolglos – benutzt hatte. Beiläufig wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Durch die kleinen Fenster hinter ihm drang die Sommersonne ins Bad und ließ in einem hellen Strahl tanzende Staubpartikel sichtbar werden. Dominik ging seine Optionen durch und fand nichts von dem, was ihm einfiel, auch nur annähernd gut.

Was hätte sein Vater getan?, fragte er sich. Er sah in den Spiegel über dem Waschbecken und sah sich selbst: breitschultrig, bärtig, fünfunddreißig Jahre alt. Er sah allerdings kaum so aus wie sein Vater im selben Alter.

„Na? Was hättest du getan?“, fragte er trotzdem sein Spiegelbild. Leider flog ihm darauf keine Antwort zu. In Gedanken versunken strich er sich über die Wange und hörte das Kratzen seiner Barthaare, vertraut wie das Geräusch, das sein Vater mit derselben Geste immer verursacht hatte. Er vermisste ihn.

Traurig blickte er wieder nach unten zu dem Wasser im Becken, das partout nicht ablaufen wollte. Gut, an die Arbeit

In der neuen Einliegerwohnung, die im Erdgeschoss nach vorn zur Straße hinausging, saß Dominiks Mieterin Marina und aktualisierte ihre wichtigste Excel-Tabelle: eine Liste, mit der sie ihre Bekanntschaften kategorisierte und benotete. Erste Spalte: „Name“. Marina tippte: Marcel. Zweite Spalte: „Erster Kontakt“. Marina musste kurz überlegen: War es Tinder gewesen oder Elite-Partner? Ach nein! Solarium. Sie lächelte beim Schreiben, als ihr dieser erste Moment wieder einfiel. Marcel hatte im Solarium gewartet, und sie hatte natürlich angenommen, dass er für den naheliegenden Zweck da war wie sie selbst, aber tatsächlich hatte er nur ein Paket abgeholt, das jemand im Laden für ihn entgegengenommen hatte. Er wohnte direkt nebenan. Das war praktisch, weil er sie dadurch elegant auf einen Wein bei sich zu Hause hatte einladen können.

Marina zögerte bei der vierten Spalte. „Anziehungskraft“. Er sah in Ordnung aus, fand sie, wenn auch etwas plump, wie ein Boxer oder Rugbyspieler. Marina mochte eher aristokratische Gesichtszüge. Feine Linien und harte Kanten, dazu makellose Haut mit einer frischen Bräune, die gern von einem Tag auf dem Segelboot stammen durfte – einem Ausflug mit der eigenen Jacht natürlich. Sie verzog den Mund. Von so etwas war Marcel weit entfernt. Wenig, schrieb sie also in die Spalte. So besonders anziehend fand sie ihn nicht. Auch wenn in den anderen Spalten noch so Dinge standen wie nett, lustig und intelligent, gab sie Marcels Zeile daher eine blassgrüne Hinterlegung. „Ungeeignet“, murmelte sie dabei. „Schade.“

Sie sah aus den doppelverglasten Fenstern nach draußen in den Vorgarten. Die Sonnenblumen waren zu groß geworden, und natürlich hatte Dominik sie nicht angebunden. Jetzt ragten sie kreuz und quer in alle Richtungen. Unmöglich! Sie richtete den Blick wieder auf ihren Bildschirm.

Nächster!

Colin, schrieb sie.

Tinder. Nicht so nett. Starke Anziehungskraft. Selbstverliebt. Gut im Bett.

Colin bekam eine rosafarbene Hinterlegung. Am Ende seiner Zeile schrieb Marina in die Spalte „Bemerkungen“: Rausfinden, ob er Kinder möchte.

Die dritte Bekanntschaft, die sie noch nicht festgehalten hatte, ließ sie erröten. Aber nicht aus Verliebtheit. Ihr Herz klopfte ein bisschen schneller. Vor Aufregung und … Angst.

Name: Nael.

Sie hatte ihn online gefunden und war vorschnell davon ausgegangen, dass es sich um einen Spanier handeln müsse – warum, das konnte sie jetzt gar nicht mehr nachvollziehen. Jetzt, wo sie ihn kennengelernt hatte, fand sie es auch auf dem Bild unübersehbar: Er hatte arabische Wurzeln.

Marina füllte die anderen Felder gar nicht erst aus, auch wenn sie dort durchaus Positives hätte schreiben können. Stattdessen hinterlegte sie die ganze Zeile mit einem knalligen Rot. Auf so etwas würde sie sich gar nicht erst einlassen, egal wie nett und intelligent und kinderlieb er dahergekommen war!

Im selben Moment hörte sie ein seltsames Gurgeln aus ihrem Bad. Sie drehte sich beunruhigt um und lauschte. Das Parkett ihres Arbeitszimmers glänzte ölig im Sonnenlicht, ohne auch nur eine einzige Macke vorzuweisen. Sie sog den Anblick gerade genüsslich ein, als das Gurgeln wieder laut und deutlich aus dem Bad zu ihr drang. Vorsichtig stand sie auf und schob ihren Schreibtischstuhl zur Seite. Er bewegte sich leicht und geräuschlos auf der durchsichtigen Bürostuhlunterlage, die das Parkett vor den Stuhlrollen schützte. Umso klarer hörte sie, was im Bad passierte: Es gurgelte jetzt nicht mehr, sondern spritzte. Offensichtlich floss da Wasser! In alle Richtungen! Marina rannte los.

Als sie die Badezimmertür öffnete, schrie sie unwillkürlich auf. Aus dem Bidet stieg eine meterhohe Fontäne auf, die weit über den Rand des Bidets hinaus alles nass machte. Marina stand wie angewurzelt da und konnte nur zusehen, wie das Wasser in kürzester Zeit eine Pfütze auf ihren Fliesen bildete.

„Dominik!“, schrie sie aus Leibeskräften. Es war ihr egal, wie kratzig und hässlich ihre Stimme dabei klang. Dominik sollte ruhig gleich hören, dass sie wütend war. Diesem Taugenichts gehörte sowieso der Kopf gewaschen! Sie zahlte richtig viel Geld für ihre Wohnung in dieser ansonsten vollkommen heruntergekommenen Villa, da konnte sie von ihrem Vermieter wenigstens erwarten, dass er sich auch darum kümmerte, dass alles funktionierte. Aber ständig war irgendwas! Die Heizung fiel aus, der Strom, das Wasser … Und wenn sie sich darüber beschwerte, kam er immer wieder damit um die Ecke, dass sie sich dafür alles hatte auswählen dürfen, womit ihre Wohnung renoviert worden war. Aber wie viel musste sie dafür einstecken? Irgendwann war das Maß voll. Und dieser Moment war jetzt! Sie war auf hundertachtzig, als sie über die Wendeltreppe hoch in den ersten und dann, als sie Dominik dort nicht fand, weiter in den zweiten Stock hinauf stakste.

Sie fand ihren Vermieter in einem komplett nassen T-Shirt in seinem eigenen Bad auf den Fliesen liegend, neben ihm, ebenfalls am Boden, sein abmontiertes Waschbecken. Mit irgendeinem dreckigen Werkzeug in der Hand schraubte er gerade noch an einem Röhrchen herum, das dort in der Wand verschwand, wo normalerweise das Waschbecken hing. Marina musste bei dem Anblick das Gesicht verziehen. Dominik bemerkte sie gar nicht, was sie nur noch mehr ärgerte.

„Hey! Mister Vermieter!“, schrie sie so laut, dass er erschrak und sich dadurch den Kopf am Siphon stieß.

„Au!“, sagte er und setzte sich auf. „Was soll denn das? Kannst du nicht normal mit Menschen reden?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn mit geschürzten Lippen an. „Nicht, wenn mir diese Menschen meine BARIO-Fliesen versauen.“

„Deine was?“

„Unten in meinem Bad spritzt in einer Tour Wasser aus meinem Bidet! Und meine Designer-Fliesen vertragen kein Wasser! Das gibt sofort Flecken.“

Dominik schaute verwirrt weg, zuckte ruckartig mit dem Kopf, als müsse er eine lästige Fliege abschütteln und sah dann mit gerunzelter Stirn wieder zu ihr hoch: „Die Fliesen, die du dir für dein Bad ausgesucht hast, vertragen kein Wasser? Die Fliesen … in deinem Bad?

„Sprich nicht mit mir, als wäre ich bescheuert! So ein Mansplaining brauche ich nicht, ich habe einen IQ im dreistelligen Bereich und führe nicht umsonst eine Abteilung mit vierhundert Mitarbeitern!“

„Deswegen kannst du ruhig Fliesen in dein Bad legen, die nicht nass werden dürfen?“ Marina ärgerte sich, als sie merkte, dass Dominik von ihren Worten kein bisschen beeindruckt war. Er stand auf und wischte sich die feuchten Hände an seiner Jeans ab. „Das kann ich echt nicht fassen … Badfliesen, die nicht nass werden dürfen …“

Marina stach mit ihrem Zeigefinger in die Luft vor sein Gesicht, woraufhin er instinktiv zurückwich. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du und dieses verdammte Haus so scheiße sind, dass Plörre aus meinem Bidet spritzt und meine Fliesen unter Wasser setzt.“

Irrte sie sich, oder amüsierte der Kerl sich etwa? „Wie kommst du denn aus der Dusche?“, fragte er, und Marina war sich sicher, dass er dabei ein Lächeln unterdrückte. „Ehrlich mal. Trocknest du dich komplett ab, bevor du da rauskommst? Und deine Haare? Was, wenn die tropfen?“

„Das geht dich überhaupt nichts an!“, schrie Marina. Dominiks Reaktion machte sie noch wütender als zuvor. „Wie ich mit meinen Fliesen umgehe, steht nicht zur Debatte, sondern wie du sie gerade ruinierst! Du wirst dafür aufkommen, Flinck!“

„Warum nennst du mich immer beim Nachnamen, wenn du dich aufregst?“, fragte Dominik und schüttelte den Kopf.

„Du gehst jetzt sofort da runter und kümmerst dich darum, dass das Wasser nicht mehr aus meinem Bidet kommt!“, sagte Marina durch zusammengebissene Zähne. Zornesröte war ihr in die Wangen gestiegen, und sie spürte ihr Herz heftig pochen.

Dominik ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei und machte sich offensichtlich auf den Weg runter zu ihrem Bad. „Man muss sich ja nicht so aufregen“, murmelte er dabei noch verständnislos.

Marina lief ihm wütend nach. „Das ist typisch! Du machst hier irgendeinen Schiet mit deinem Wasser, und ich bekomme unten die braune Brühe ab, und wer wird kritisiert? Ich! Weil ich genauso reagiere, wie es vollkommen angemessen ist! Glaubst du, ich freue mich darüber, das jetzt mit dir klären zu müssen? Ich will einfach nur meine Ruhe haben!“

Dominik ging durch die Verbindungstür, die Marina offen gelassen hatte, in die Einliegerwohnung. Sofort tauchten sie in ein ganz anderes Ambiente ein. Hier war alles modern, neu, geschmackvoll – fand zumindest Marina.

„Weiß du, wer schreit?“, fragte Dominik und lief direkt weiter, Richtung Bad. „Menschen, die glauben, ihre Argumente allein trügen nicht.“

„So ein Blödsinn!“, sagte Marina augenrollend, aber nicht mehr ganz so laut. „Wenn ich schreie, dann weil ich leidenschaftlich und menschlich bin und das ist auch vollkommen in Ordnung so. Ich werde mir von dir, von einem Mann, von einem nicht erwachsen gewordenen Jungen, der Schauspieler ist – Schauspieler! – nicht sagen lassen, was das angemessene Verhalten in irgendeiner Situation ist!“

Dominik drehte sich zu ihr um. „Und wenn du auf der Bühne stündest?“, fragte er. Über seine Schulter hinweg konnte Marina durch die offene Badezimmertür die Fontäne sehen, die immer noch aus dem Bidet kam. Ihre Stimme schraubte sich noch höher. „Willst du mich verarschen?“, schrillte es aus ihrem Mund. „Du findest es wichtiger, mir einen dummen Spruch an den Kopf zu werfen, als dich darum zu kümmern?“ Entgeistert zeigte sie mit der flachen Hand auf das zum Springbrunnen gewordene Bidet.

Zu ihrer Verblüffung ging Dominik auch daraufhin nicht ins Bad, sondern in ihr Arbeitszimmer. „Hey!“, rief sie wieder. Aber Dominik ließ sich nicht abhalten, er machte gleich hinter der Zimmertür Halt, kniete sich hin und öffnete kurz über dem Boden eine Luke in der Wand. Ein altmodischer Hahn kam zum Vorschein und Rohre, die links und rechts in der Wand verschwanden. Dominik drehte an dem Hahn, und Marina hörte, wie zeitgleich das Plätschern im Bad stoppte.

Ohne etwas zu sagen, machte Dominik die Klappe wieder zu und kam zurück auf die Beine. Marina atmete einmal tief ein und schloss kurz die Augen. Das war ein Fehler: Als sie sie öffnete, sah sie, wie Dominik an ihr vorbei auf ihren Laptop schaute.

„Das ist nichts!“, sagte Marina schnell. Mit wenigen Schritten war sie bei ihrem Schreibtisch und klappte den Laptop zu.

„Arbeitest du beim BND oder so was?“, grinste Dominik. „Undercover?“

„Nein!“, sagte Marina, wieder wütend und jetzt auch noch persönlich angegriffen.

„Das meine ich doch nicht böse!“, erwiderte Dominik erstaunlich sanft. „Es wäre doch … interessant.“ Er lächelte sie an, und Marina wusste nicht, was sie machen sollte. Sie hatte eigentlich keine Lust, jetzt plötzlich auf nett zu machen.

„Tut mir leid wegen dem Bad“, sagte Dominik dafür umso netter. „Ich wische jetzt erst mal das Wasser auf, und dann repariere ich, was auch immer es da zu reparieren gibt.“ Als Marina nichts antwortete, sah Dominik zerknirscht zur Seite. Als er wieder zu ihr zurückblickte, hatte sein Lächeln etwas noch Herzlicheres bekommen, und Marina merkte, dass sie direkt nicht mehr ganz so wütend war. „Wegen der Fliesen schauen wir dann, in Ordnung?“, fragte er.

Marina biss sich auf die Lippe. „Ja, okay“, sagte sie und merkte, wie ihr selbst ein höfliches Lächeln über die Lippen huschte.

„Und sorry wegen dem BND-Spruch. Stimmt schon … das würde ich auch nicht gern unterstellt bekommen.“ Er räusperte sich, und Marina sah ein wenig peinlich berührt auf ihren Laptop. Sie mochte es nicht, wenn ihr nachgesagt wurde, sie sei humorlos. Und natürlich hatte er das mit dem BND als Witz gemeint, das war ihr auch klar. Sie knetete unwillkürlich die Hände.

„Okay … dann …“, sagte Dominik und hatte sich schon halb zum Bad gewandt, da platzte aus Marina heraus: „Das war nur eine Liste mit meinen Dates.“ Dominik blieb stehen und sah sie etwas komisch an. So ganz konnte sie den Blick nicht einordnen. War er … erschrocken?

„Du … das geht mich ja auch gar nichts an“, sagte er aber nur sanft. Marina schluckte. „Ich gehe jetzt ins Bad und regle das.“ Auf leisen Sohlen trat er heraus. Marina vergrub das Gesicht in den Händen. Das war jetzt peinlich gewesen.

Dominik wischte das Wasser in Marinas Bad mit einem Mopp auf. Diese Frau machte ihn immer wieder zum Hausmeister! Schrecklich. Aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass es nicht Marina war, sondern die Villa, sein Elternhaus, das ihn immer wieder zu Reparaturen, Aufräumarbeiten und anderen Tätigkeiten zwang. Unwillkürlich legte er eine Hand auf die Badezimmerwand, wie um sich für die bösen Gedanken zu entschuldigen. Dem Haus nahm er nichts übel. Wehmut zog an seinem Herz, und er machte sich wieder ans Aufwischen.

Danach schaffte er tatsächlich, die Ursache des Wasserproblems zu finden und es auch noch zu beheben. Als er mit allem fertig war, fühlte er sich, als hätte er drei Stunden lang Sport getrieben.

Aber bei dem Gedanken an sein Bad – speziell an das Waschbecken, das immer noch abmontiert am Boden lag und an die Kettenreaktion, die sein Abflussproblem ausgelöst hatte – spürte er wenig Lust, in seine Dusche zu steigen. Kurzentschlossen ging er also aus der Hintertür neben der Küche raus in den großen, wild zugewachsenen Garten. Die Sonne stand jetzt schon tief, und die Hälfte des Gartens verschwand im Schatten. Aber genau dort, wo der Wasserschlauch angeschlossen war, gab es noch ein Fleckchen Sonne. Im Gehen zog Dominik seine Klamotten aus. Er ließ sie an Ort und Stelle in das hohe Gras fallen und kam nackt beim Wasserschlauch an. Ohne Umschweife drehte er ihn an und hob die Brause über seinen Kopf. Er schloss die Augen und ließ ein tiefes „Uaaaaah“ aus seiner Kehle entfliehen, als das kalte Wasser über seinen Rücken lief. Aber als er erst einmal ganz nass war, machte ihm die Kälte nichts mehr und er genoss einfach das frische Wasser und das Gefühl, von den letzten mühseligen Stunden reingewaschen zu werden.

Nach seiner etwas ungewöhnlichen Dusche und nachdem sich Dominik frische Sachen angezogen hatte, lief er ohne nachzudenken in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ein Steak wäre jetzt genau das Richtige. Aber stattdessen lagen da nur zwei, drei angebrochene Packungen Aufschnitt, die ihn nicht wirklich anmachten. Kein Steak. Das Gemüsefach war komplett leer, wie immer. Und in den oberen Fächern standen nur die üblichen Verdächtigen: Ketchup, Senf, Mayonnaise, Marmelade und angebrochenes Pesto. Dominiks Blick wanderte noch über die schmalen Fächer in der Innenseite der Kühlschranktür. Aber auch dort versteckte sich kein Steak – dafür allerdings eine Steaksoße, die das Ganze nur noch schlimmer machte. Irgendwo musste das Schicksal sitzen und sich ins Fäustchen lachen. Dominik ließ die Kühlschranktür wieder zufallen, wandte sich ab und schlurfte aus der Küche, als hätte man ihn gedemütigt.

Komisch aber auch, wie man immer wieder, obwohl man allein lebt, zum Kühlschrank geht und denkt, es könnte ja vielleicht etwas drin sein – ohne dass man einkaufen gewesen wäre. Was dachte er denn? Dass jemand vielleicht etwas hineingestellt haben könnte? Die Verrückte aus dem Erdgeschoss vielleicht? Dominik schüttelte sich bei dem Gedanken: Was von der kam, würde er sowieso niemals anrühren! Selbst wenn sie in diesem Moment mit einem Rib-Eye um die Ecke käme: Er würde sofort Reißaus nehmen. Und wenn es ein T-Bone wäre! Eigentlich müsste sie im Dach wohnen, fand Dominik. „Die Verrückte vom Dach“ – das klang irgendwie besser als „die Verrückte aus dem Erdgeschoss“. Aber das Dach war nicht dicht, und ab und zu hörte man Marder über den Boden huschen. Selbstverständlich wohnte die piekfeine Marina also nicht da oben, sondern unten, in der neuen Einliegerwohnung, in der man über nichts meckern konnte. Und wo sich bestimmt kein einziger Marder herumtrieb. Wobei das sicher nicht nur am mangelnden Zugang lag, dachte Dominik böse: In Marinas Nähe würde sich einfach niemals ein Lebewesen freiwillig aufhalten. Er lächelte in sich hinein. Dann ging er noch einmal zum Kühlschrank, um hineinzusehen.

Zehn Minuten später stand er am Herd und sah einem einsamen kleinen Ei zu, das im Topf auf und ab hüpfte, als würde es zum Beat des kochenden Wassers tanzen. Dominik überlegte, ein zweites Ei hinzuzugeben. Dann könnten sie pogen. Aus diesem sinnvollen Gedankengang riss ihn die heisere Türklingel. Die hatte auch schon bessere Tage gesehen.

Dominik ließ sein Ei allein und lief müßig runter zur Haustür. Wie immer beschlich ihn dabei ein mulmiges Gefühl. Unerwartete Besuche von Freunden waren ja ein Ding der Vergangenheit – wer geht heute noch das Risiko ein, vor verschlossener Tür zu stehen, wenn man doch eh permanent in Kontakt steht und kurz im Chat nachfragen kann, ob denn der andere zu Hause ist und besucht werden möchte? – Da aber niemand geschrieben hatte, konnten eigentlich nur unangenehme Zeitgenossen vor der Tür stehen. Vertreter der GEZ etwa. Zeugen Jehovas. Oder diese Jugendlichen, die clean werden wollen und das nur können, wenn man ihnen ein Zeitschriftenabo abkauft.

Er öffnete die Tür erst mal nur einen Spaltbreit, um gleich seine Abwehrhaltung zu vermitteln. Er würde nicht schon wieder ein Abo abschließen! Diesmal würde er hart bleiben! Es sei denn, dem Typen ging’s wirklich richtig mies. Vielleicht würde er dann ein letztes Mal …

Aber draußen stand kein Junkie. Dominik riss die Tür weit auf: „Bianca!“

Seine Schwester lächelte ihn an, nicht ganz so offen, wie es üblicherweise ihre Art war, sondern eher verkniffen, aber bevor Dominik das richtig registrierte, nahm er sie schon in den Arm.

„Moin“, sagte sie noch in der Umarmung, und als sie sich voneinander lösten, zog sie eine Tüte aus ihrer Umhängetasche. „Ich habe Steaks dabei.“

„Im Ernst?“

„T-Bone.“

„Nein!“

„Und Bier.“

„Wow. Ich habe die beste Schwester von der Welt!“ Dominik umarmte sie gleich noch mal. „Du rettest mein Abendessen! Ich war gerade dabei, mir ein weich gekochtes Ei zu machen.“

„Ein Frühstücksei? Zum Abend?“

„Ja. Hier herrscht totale Anarchie.“

Bianca lachte. „Frederik wäre stolz“, murmelte sie. Denn eigentlich war Frederik ja der große Aussteiger. Allerdings hatte die Liebe ihn nach München geführt, wo er es mit dem Aussteigen eher schwer hatte. Dominik war seinerseits nie aus dem Norden weggekommen, und selbst Bianca war nach ihrem Studium in Italien zurück nach Hamburg gekommen. Eigentlich hätten sie wohl alle nach Berlin gepasst – aber es kann ja nicht jeder in Berlin leben. Dominik jedenfalls würde niemals sein geliebtes, wenn auch etwas mitgenommenes Elternhaus verlassen. Und ebenso wenig das Meer, das wenigstens gefühlt immer irgendwie in der Nähe war.

Er ging mit Bianca dicht hinter sich nach oben, direkt in die Küche, wo er sofort das Ei vom Herd nahm, um stattdessen feierlich eine Pfanne aufs Gas zu stellen.

Bianca gab ihm die Steaks und machte dann zwei ihrer mitgebrachten Bierflaschen auf.

„Seit wann stehst du denn einfach so mit Bier und Fleisch vor der Tür?“, fragte Dominik.

„Ich habe mich von Dexter inspirieren lassen. Da macht das die Schwester immer, wenn sie ein bisschen Quality-Time mit ihrem Bruder braucht. Also … wenn sie über etwas sprechen müssen.“ Bianca sah kurz zur Seite, als wäre es ihr unangenehm, fing sich aber sofort wieder und lächelte Dominik an. „Hier.“ Sie reichte ihm eine Flasche und stieß mit ihm an.

„Du und deine Serien immer“, murmelte Dominik. „Prost!“ Er nahm einen ersten Schluck und erinnerte sich dann an den Titel, den sie gerade genannt hatte. „Dexter“, wiederholte er, „das ist doch … diese Serie, die so blutig ist.“

Bianca nickte. „Der Bruder ist ein Psychopath und Serienmörder.“ Sie stellte ihre Flasche auf den Küchentisch und setzte sich. „Aber er ist ein Guter … wie du.“

„Klar! Genau wie ich.“ Dominik gab die Steaks ins heiße Öl und öffnete das Fenster, weil der Dunstabzug nicht mehr funktionierte. Dann wandte er sich Bianca wieder zu. „Wäre ich Dexter, gäbe es die Tussi von unten nicht mehr“, flüsterte er. Mit gespielter Aggression schnitt er mit dem Pfannenwender durch die Luft. Bianca schüttelte unbeeindruckt den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Marina in Dexters Raster fällt. Der hat doch so einen strengen Codex, wen er umbringen darf und wen nicht.“

„Dann ist das nicht meine Serie“, schloss Dominik enttäuscht.

Bianca lachte herzlich. „Aber da kommt die Steak-Idee her! Stell dir vor, ich hätte mich von … hmm … Sex and the City inspirieren lassen.“

„Das verstehe ich nicht. Was essen die?“

„Nichts, vermute ich. Die reden nur dauernd über Sex. Magste? Also gestern haben Richard und ich …“

Dominik hielt sich sofort die Ohren zu. „Wuah, wuah, wuah, wuah, ich höre nichts, ich höre nichts!“, schrie er.

Bianca lachte wieder und hörte auf zu reden. Dominik nahm die Hände von den Ohren und sah sie strafend an. „Das ist eklig. Du bist meine Schwester und hast keinen Sex.“

„Genau. Und meine beiden Kinder habe ich unbefleckt empfangen.“

„Sag ich doch.“

„Du bist so prüde. Ich würde total gern mit dir über intime Dinge sprechen – also: unter anderem. Ehrlich jetzt mal. Gerade dir, wo ich dir doch mehr vertraue als sonst irgendwem! Und das würde uns bestimmt noch näher zusammenbringen!“

„Wenn du gekommen bist, um mit mir über intime Dinge zu sprechen, hättest du was Härteres mitbringen sollen als Bier.“ Er drehte die Steaks in der Pfanne um und wich den heißen Fettspritzern aus. Bianca nahm währenddessen noch einen großen Schluck aus ihrer Flasche und atmete danach tief ein.

„Ich bin gekommen, weil ich mit dir über das Haus reden muss“, sagte sie dann in ernstem Ton. „Oder eher … also … ich sag’s jetzt einfach, ohne viel drum herumzureden: Ich muss einziehen, Dominik. Die haben uns die Wohnung gekündigt. Und ich finde in der Stadt nichts, was wir uns leisten können. Die Kinder brauchen mittlerweile ihr eigenes Zimmer, jeweils, und Richard braucht Platz, um auch mal zu Hause in Ruhe arbeiten zu können. Aber finde du mal eine Stadtwohnung mit mindestens fünf Zimmern für das Geld, das uns zur Verfügung steht! Selbst wenn wir weiter rausziehen: Es ist nichts auf dem Markt, zumindest nichts, was uns nicht todunglücklich machen würde. Und wenn wir eh schon aus der Stadt rausgehen … na ja … warum dann nicht hierhin, wo wir keine Miete zahlen müssen? Die Kinder sind schon in einem Alter, in dem sie auch mal allein irgendwohin könnten, erst recht hier draußen, wo alles ruhiger ist …“ Bianca redete schnell und gestikulierte dabei hektisch. Dominik beobachtete sie mehr, als dass er ihr wirklich zuhörte. Früher hatte er sich immer vorgestellt, der Genpool der Eltern sei genau das: ein Pool, also ein Topf, aus dem verschwindet, was man aus ihm herausnimmt. In seiner Vorstellung hatte Bianca sämtliche Energielieferanten aus dem Topf genommen, sodass für ihn, zwei Jahre später, keine übrig geblieben waren. Alles, was sie machte, hatte etwas Zackiges, Flinkes – und alles, was er machte, war entspannt und langsam. Auch jetzt dachte er manchmal, die Biologen seien auf dem falschen Dampfer: Vieles, was Bianca hatte, hatte er eben nicht, als könnten zwei Kinder nicht gleichermaßen damit ausgestattet werden: Ehrgeiz zum Beispiel. Ausdauer. Ein gutes Gedächtnis. Räumliches Vorstellungsvermögen.

Während Bianca weiter über die Bedürfnisse ihrer Kinder und die ihres Mannes sprach, nahm Dominik die Steaks aus der Pfanne. Dann holte er mit großer Genugtuung die Steaksoße aus dem Kühlschrank. Wer zuletzt lacht …, dachte er und stellte sie feierlich auf den Tisch. Bianca redete immer noch.

„Und was ist mit dir?“, unterbrach Dominik sie endlich.

„Was?“

„Du sprichst dauernd nur von Richard und den Kindern. Was brauchst du denn?“

Bianca sah ihn so verwundert an, als wäre seine Frage absurd. Sie musste erst mal kurz nachdenken. Dominik hob dazu nur die Augenbrauen, aber das schien sie nicht zu bemerken.

„Ich brauche eine Familie, die glücklich ist“, sagte sie schließlich. „Und das heißt im Moment: Ich brauche eine Wohnung.“

Dominik zuckte mit den Schultern. „Kannste haben. Zweieinhalb Etagen sind leer. Wenn man das Dach mitzählt.“ Bianca sprang sofort auf und fiel ihm um den Hals. Dominik legte ihr überrascht die Hand auf den Rücken. „Was hast du denn gedacht? Dass ich Nein sage?“

„Nein. Ich weiß nicht. Ich bin einfach nur so froh, dass du Ja sagst.“

„Klar.“ Dominik wunderte sich. Das Haus gehörte seiner Schwester doch genauso wie ihm.

„Wenn ich richtig gehört habe, wirst du mir aber keine Miete zahlen“, murmelte er.

Bianca trat einen Schritt zurück und blinzelte verwundert.

Dominik winkte schnell ab. „Ist nur schade“, erklärte er. „Dann bin ich nach wie vor auf Marina angewiesen. Die würde ich doch zu gern rauswerfen. Wenn ich sie schon nicht abschlachten darf.“ Während Bianca noch strafend guckte, hob er die Teller mit den Steaks hoch. „Wenigstens sind die schön blutig … hmm!“

Bianca nahm einen Teller entgegen und setzte sich. „Richard ist jetzt Veganer. Mit so Sprüchen hältst du dich dann in Zukunft lieber zurück.“

Dominiks Teller rutschte ihm samt Besteck aus der Hand – zum Glück nur wenige Zentimeter von der Tischoberfläche entfernt. Bianca ließ sich von dem lauten Scheppern nicht stören und fing ungerührt an zu essen. Als Dominik immer noch wie festgefroren neben dem Tisch stand, zeigte sie mit der Spitze ihres Messers auf ihn. „Du hast schon Ja gesagt!“

„Ich war nicht umfassend informiert! Also auch nicht entscheidungssicher.“

„Entscheidungsfähig“, korrigierte Bianca ihn so schnell, dass es wie ein Reflex wirkte. Wahrscheinlich war es genau das auch. Seit ihrem Studium machte sie das so, also gefühlt schon eine halbe Ewigkeit. Er setzte sich ihr gegenüber. „Du immer mit deiner Goldwaage“, murmelte er und widmete sich seinem Steak.

Bianca zuckte ungerührt mit den Achseln. „Übersetzung meets Jura“, sagte sie und zeigte dabei auf sich. „Ich habe doppelt und dreifach eingetrichtert bekommen, immer genau das richtige Wort zu benutzen! Einen juristischen Text übersetzt man nicht nur so … ungefähr.“ Ihre Lippen wurden schmal. „Zumindest nicht, wenn man danach noch weitere Aufträge haben will“, fügte sie hinzu.

„Apropos … deine Waage muss doch total eingerostet sein“, sagte er. „Die wurde doch schon seit Jahren nicht mehr austariert.“ Er liebte es, in Bildern zu sprechen, und musste ob seiner eigenen Worte lächeln. Bianca sah allerdings plötzlich ein wenig zerknirscht aus. Vielleicht hatte er einen wunden Punkt berührt? Klar, er würde nicht jeden so auf eine abgebrochene Karriere ansprechen. Aber Bianca gegenüber erlaubte er sich immer eine gewisse schonungslose Ehrlichkeit. Er wusste, dass sie das von ihm auch erwartete. Das war einfach die Ebene, auf der sie sich schon immer begegnet waren. Er war froh zu sehen, dass Biancas Blick jetzt auch schnell wieder selbstbewusst wurde, als sie konterte: „Ein schwerer juristischer Text würde mich heute vielleicht mehr herausfordern als früher, aber das schlechte Deutsch meines kleinen Bruders werde ich bis ans Ende meines Lebens ohne Probleme korrigieren können. Im Schlaf.“

„Haha“, machte Dominik.

„Also … du warst entscheidungsfähig und dass Richard Veganer ist, ändert nichts!“, kam sie zum Thema zurück.

Dominik spielte den Ausgetricksten, der seine Niederlage nur widerwillig und trotzig zugab. „Na gut“, sagte er in entsprechendem Ton, „Richard kann sich dann direkt zu Marina gesellen.“

„Hey!“ Bianca gab ihm einen Stoß auf den Oberarm.

„Was denn? Passen bestimmt gut zusammen, die zwei. Was ist das Gegenteil von Laisser-faire?“

„Bevormunden.“

„Genau. Die können da unten dann Bevormundungs-Orgien feiern.“

„Hört sich nach Sex an.“

„Was ist eigentlich los mit dir?“

„Ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich bin an einem Punkt, wo ich …“

„Nein! Ich will’s gar nicht hören! Lass uns einfach in Ruhe essen.“

„Okay.“ Bianca verfiel in Schweigen. Für zehn Sekunden vielleicht. „Schon krass, nur so’n Steak, ganz ohne Beilagen“, sagte sie dann.

„Ich hätte noch ein weich gekochtes Ei.“

„Schon gut, Danke.“

Duo war einmal

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