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Kapitel 2

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Dominik fuhr mit seinem Cafe Racer über die Landstraße. Er hatte den besten Arbeitsweg der Welt, davon war er überzeugt. Sein Freund Axel hatte ihm das alte Motorrad umgebaut. Es war perfekt auf seinen Geschmack zugeschnitten, und wenn er damit über die Landstraße brauste, weit vorgelehnt, die Hände auf dem Stummellenker, war da nur noch er, das Rauschen des Fahrtwindes und das Brummen der Maschine – sonst nichts.

Die Sonne stand noch tief über den Feldern, und nur ab und zu schob sich ein Bauernhof zwischen sie und Dominik. Er düste noch ein bisschen schneller. Absolute Freiheit war das. Er fuhr an Hoisbüttel und an Bergstedt vorbei, ließ die Felder hinter sich und kam in eine ruhige Wohngegend.

Jetzt machte es schon nicht mehr ganz so viel Spaß. Und bis in die City war es noch ein weiter Weg.

Am Anfang, als er den Cafe Racer gerade bekommen hatte, war Dominik jeden Tag mit dem Motorrad bis tief in die Innenstadt direkt vor das Theater gefahren. Aber seit er eine andere Lösung gefunden hatte, machte er das nicht mehr. Sein Freund Frederik hatte sich deswegen schon über ihn lustig gemacht: Er würde das mit seiner Maschine genauso handhaben wie mit seinen Frauen – einfach den Teil aussparen, der anstrengend ist, und nur den haben wollen, der Spaß macht. Dominik verstand überhaupt nicht, warum das etwas Besonderes war, und erst recht nicht, warum er dafür aufgezogen wurde. Wieso machte das nicht jeder so? War das nicht viel besser, als die Lust an dem zu verlieren, was man liebt und großartig findet, weil man sich zu viel davon gibt? Ob Frau oder Motorrad: Er ließ diese Dinge nie alltäglich werden, als wären sie nur praktische Gebrauchsgegenstände. Wie ein Toaster. Lieber ging er Situationen ein, die wohl auf andere etwas ungewöhnlich wirken mochten. Wie jetzt, auf seinem Arbeitsweg: Nach einer Weile fuhr er von der Hauptstraße ab. Zielsicher kurvte er durch ein paar Seitenstraßen und parkte dann auf einem großen, freien Parkplatz vor einem einstöckigen Geschäftshaus.

Der Parkplatz und das Haus gehörten Schorsch, dem Hessen. Dominik kannte ihn aus Kindheitstagen und hatte schon vier verschiedene Geschäftsmodelle erlebt, die Schorsch erfolgreich hier umgesetzt hatte. Alle paar Jahre erfand er sich, oder zumindest sein Geschäft, einfach neu. Aktuell verkaufte er Fische und Zubehör für Meerwasseraquarien. Das lief zwar bombig, aber fast nur online. Also blieb sein Kundenparkplatz größtenteils unbenutzt, was für Dominik eine gute Fügung war. Er zog seinen Oldtimer-Helm aus, hängte ihn an den Lenker und wollte gerade sein Skateboard aus seinem Rucksack holen, als er hinter sich schon die schlurfenden Schritte vom alten Schorsch hörte. „Mosche!“

Dominik drehte sich um. „Moin, Moin“, antwortete er.

„Käffsche?“, fragte Schorsch.

Dominik war ein bisschen spät dran, und er brauchte eigentlich auch gerade keinen Kaffee. Aber er wusste natürlich, dass Schorsch ihn nicht einlud, weil er sich um seinen Koffeinhaushalt sorgte. Er wünschte sich Gesellschaft. Das war der Nachteil des Online-Geschäfts: Alles lief über das Shop-System, fast wie von selbst, und auf jeden Fall „ohne Gebabbel“, wie Schorsch es nannte. Das war vielleicht praktisch, aber er bezahlte dafür: mit Langeweile und Einsamkeit. Dominik zog den Reißverschluss seines Rucksacks wieder zu.

„Klar, Kaffee geht immer“, sagte er mit einem Lächeln.

Schorsch freute sich. „Ich kann jetzt Cappuccino“, sagte er stolz und baute dabei viel „sch“ in das Wort ein, dass Dominik husten musste, um ein kleines Lachen zu vertuschen.

Eine halbe Stunde später verabschiedete er sich von Schorsch, ließ sein Skateboard auf den Asphalt fallen und rollte Richtung Bahn-Haltestelle.

Natürlich kam er jetzt viel zu spät beim Theater an. Und offensichtlich hatte er dadurch einiges verpasst. Als er in die Cafeteria kam, spürte er große Aufregung in der Luft, und seine Kollegin Claire, die tatsächlich mehr als nur eine Kollegin war, kam ihm freudestrahlend entgegen.

„Ich muss nicht mehr die dumme Anne spielen!“, sagte sie mit einer Stimme, die sie offensichtlich nur mit großer Mühe in Schach hielt – eigentlich hätte sie wohl gern laut geschrien, so aufgeregt, wie sie war. Sie glühte förmlich.

Am liebsten hätte Dominik sie sofort geküsst, aber sie waren sich erst vor Kurzem nähergekommen und vor dem restlichen Ensemble hatten sie sich noch nichts anmerken lassen. Also hielt Dominik sich auch jetzt lieber zurück – nicht weil es ihn kümmerte, was andere dachten, sondern weil er sich nicht sicher war, ob Claire wollte, dass sie sich vor den anderen wie ein Paar verhielten.

„Der Bonko ist gekommen, hat sich die Rollenverteilung angeguckt, und dann gab’s ein Donnerwetter!“, erzählte Claire ihm weiter.

Dominik war froh, dass Claire jetzt nicht die Rolle spielen musste, über die sie sich gestern noch so geärgert hatte, hörte das mit dem Donnerwetter aber trotzdem nicht gern. Er mochte es entspannt und unkompliziert. Donnerwetter hörte sich derweil nach Stress an, und er hatte keine Lust, dass dieser sich fortsetzen und irgendwann auch ihn treffen würde. Besorgt sah er sich also nach dem Regisseur um, der das Donnerwetter vom Chef abbekommen haben musste, aber er war nicht zu sehen.

Claire sprudelte währenddessen weiter: Bonko hatte ihr die Rolle gegeben, die sie von Anfang an hatte spielen wollen, er hatte auf sie gezeigt und gesagt: „Guck sie dir an! Claire spielt keine Dummchen, das geht doch nicht!“

Dominik legte währenddessen sein Skateboard weg, zog seinen Rucksack und seine Jacke aus und legte die Sachen auf den Tisch neben sich. „Du wirst großartig sein“, sagte er Claire. Ihre Wangen glühten jetzt noch mehr, das Erzählen hatte sie noch einmal mehr aufgeheizt als die Nachricht an sich, wie es aussah. Dominik lächelte sie an. Wieder wollte er sie eigentlich küssen. Und als er bemerkte, wie Claire ihn ansah, wie ihr Blick ein wenig kleben blieb, irgendwo bei seinen Haaren und dann bei seinem Hals, zuckte seine Hand. „Komm“, sagte er mit rauer Stimme. Er nickt noch einmal mit dem Kopf Richtung Ausgang, wandte sich dann ab und lief ohne zurückzublicken aus der Cafeteria raus. Hoffentlich kam sie mit. Er hörte nichts hinter sich, ging aber unbeirrt weiter, durch einen leeren Flur und dann nach einer Linksabbiegung durch einen weiteren. Er wusste, dass Claire laufen konnte, ohne das leiseste Geräusch zu machen. Sie schrieb das ihrer klassischen Ballettausbildung zu. Dominik sah ihre Beine vor seinem inneren Auge, ihre Gangart, und drehte sich dann doch nach ihr um. Da war sie. Direkt hinter ihm. Dominik grinste. Neben sich war auch schon die Tür, zu der er gewollt hatte. Er stieß sie auf, griff nach Claires Hand und zog sie mit sich, um direkt hinter ihr die Tür wieder ins Schloss fallen zu lassen.

Sie waren in einem schmalen langen Raum der Bühnentechnik, in dem lauter Seile hingen. Durch ein kleines Fenster, das zur Bühne ging, fiel Licht zu ihnen herein, aber kaum genug, um hinter den Seilen noch viel zu erkennen. Nicht, dass das für sie jetzt wichtig gewesen wäre.

Dominik umfasste Claire um die schmalen Hüften und küsste sie endlich. Es war wundervoll. Sie war wundervoll. Weiter als hierher hatte er nicht nachgedacht. Er hatte sie küssen wollen, das war alles. Aber Claire sah ihn jetzt noch einmal mehr so an wie gerade eben, und Dominik vergaß darüber, dass sie eigentlich bei der Arbeit waren, dass es Leute gab, die im Proberaum auf sie warteten und sich fragen würden, wo sie waren. Er dachte auch nicht darüber nach, dass sie auffälligerweise zu zweit fehlten und am Ende wahrscheinlich zusammen vor den anderen stehen und eine Erklärung – oder zumindest eine Ausrede – liefern müssten. Es war noch nie seine Stärke gewesen, daran zu denken, was später sein würde. Erst recht, wenn eine Frau, und dann auch noch eine Frau wie Claire, ihn so anguckte! Und es blieb ja nicht beim Blick. Sie schien genauso wie er zu vergessen, was sie eigentlich tun sollten und womit sie später würden rechnen müssen. Stattdessen zog sie in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung ihr Kleid über den Kopf und stand nur noch in Unterwäsche da. Er hätte gern noch ein bisschen mehr an ihr heruntergeschaut, aber sie zog ihn an sich, und dagegen hatte er natürlich auch nichts. Er fühlte, wie sich ihre Beine um seinen Körper wickelten, sie konnte sich aus eigener Kraft einfach so an ihm halten, als wäre nichts dabei – als wäre sie nichts weiter als die zarte, aber unnachgiebige Ranke einer Kletterpflanze. Während sie sich so an ihm hielt, hob er die Arme hoch und zog sich seinen ausgeleierten Pullover mitsamt T-Shirt aus. Danach griff er sie um ihre Beine und hob sie weiter hoch, immer höher, bis über seinen Kopf, sodass sie kichern musste.

„Was machst du?“, fragte sie unsicher. Aber dann schien sie zu verstehen: Über ihnen hingen die Seile. Schon griff sie über sich und stieg flink in eine Schlaufe. Dominik zog sich neben ihr hoch und sicherte sich, indem er das Seil professionell um sein Fußgelenk wickelte. Claire war – im Gegensatz zum ihm – keine gelernte Akrobatin. Dominik fand es dadurch umso spannender: Sie gab sich vollkommen in seine Hände. Im wahrsten Sinne des Wortes ließ sie sich von ihm einwickeln und dann auf sein Geheiß hin fallen. Sie jauchzte und erschrak, aber entweder hielt das Seil – oder er. Die Turnerei lenkte von der eigentlichen Sache natürlich ein bisschen ab, zu der sie aber trotzdem auch noch kamen. Sie nahmen sich Zeit. Das hatte gleich doppelt etwas Gutes: Zum einen das Offensichtliche, zum anderen umgingen sie so die potenziell ungemütliche Situation, in der sie zusammen verspätet in die Probe platzten. Denn sie kamen nicht zu spät zur Probe. Sie kamen überhaupt nicht zur Probe.

Als sie sich anzogen, funkelten Claires Augen. „Du bist ein schlechter Einfluss“, sagte sie leise.

„Findest du?“, fragte Dominik. Tatsächlich hörte er das nicht zum ersten Mal. Aber verstanden hatte er es noch nie. Er fand sich eigentlich ganz anständig. Zumindest nach seinen eigenen moralischen Vorstellungen. „Wir müssen ja nicht gleich heiraten“, sagte er scherzhaft.

„Auf gar keinen Fall!“, bekräftigte Claire, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn noch einmal leidenschaftlich.

Bianca saß im Volvo auf dem Beifahrersitz und sah aus dem Fenster, aus dem man schon keine hohen Gebäude mehr sehen konnte. Nur noch niedrige Mietshäuser und vereinzelte Villen. Die Innenstadt hatten sie schon lange hinter sich gelassen. Jetzt wurde es grüner, ruhiger, kleiner, bis schließlich nichts mehr ihren Blick verstellte: Zu beiden Seiten des Autos dehnten sich flache Felder aus, Bianca konnte den Horizont sehen, den Himmel, die untergehende Sonne. Sie atmete unwillkürlich tief ein, als wäre eine Last von ihr genommen worden, und staunte darüber, als sie sich dessen bewusst wurde.

„Zum Kotzen“, sagte John hinter ihr. „Jetzt werden wir so Landeier.“

„Quatsch“, sagte Bianca. Für mehr hatte sie gerade keine Kraft. Sie hatten einen Nachmittag bei IKEA hinter sich, wo sie vor allem für die neuen Zimmer der Kinder Schränke und Betten gekauft hatten. Hinter Biancas Stirn pochte es. Sie kramte in ihrer Lederhandtasche nach einem Aspirin.

„Hast du was zu essen dabei?“, fragte Richard neben ihr. Er ließ kurz die Straße aus den Augen, um zu sehen, was sie aus ihrer Tasche holte.

„Äh … ja …“, sagte Bianca. Sie hatte ein paar Brotdosen gepackt, wie immer.

„Ich habe auch Hunger!“, rief auch prompt ihre Tochter Leila von der Rückbank. „Wir durften ja keine Hotdogs haben“, schmollte sie.

„An mir lag’s nicht …“, murmelte Bianca, aber so leise, dass es vom Motorgeräusch und dem dudelnden Radio übertönt wurde. Sie holte ein belegtes Salami-Baguette für Leila aus der Brotbox und reichte es nach hinten. Richard verzog das Gesicht.

„Ohne Wurst gibt’s nichts?“, fragte er enttäuscht.

„Doch, klar.“ Für ihn hatte Bianca ein Dinkelbrötchen mit Tomatencreme und Avocado. Sie packte es zur Hälfte aus der Alufolie aus und gab es ihm dann so, dass er die Hälfte in die Hand nehmen konnte, die noch verpackt war. Er sollte sich ja auf das Fahren konzentrieren können und nicht davon abgelenkt werden, dass ihm Tomatencreme auf die Hände kam. Oder sonst wohin.

„Alufolie? Echt?“, fragte Richard aber nur, der ihre Überlegung offensichtlich nicht durchschaute.

„Ja“, sagte sie nur. Auch dafür hatte sie jetzt keine Kraft. Ein andermal, dachte sie sich.

„Die Salami schmeckt komisch“, sagte Leila.

„Echt?“ Bianca drehte sich um.

„Ja. Die schmeckt nicht.“

„Umso besser“, sagte Richard. „Dann kannst du mal auf etwas anderes umsteigen.“

„Sojawurst“, sagte John und machte ein Geräusch, als müsse er würgen.

Richard hörte auf zu kauen und sah strafend in den Rückspiegel zu seinem Sohn. „Du bist derjenige, der noch erleben wird, wie die Umwelt vollkommen kaputt ist!“, sagte er ernst. „Dann wirst du dich nicht mehr über mich lustig machen!“

John blieb unbeeindruckt. „Wenn ich erlebe, wie sie kaputt ist, obwohl du doch alles getan hast, um sie zu retten, dann werden deine Versuche ja erfolglos gewesen sein … Also werde ich mich immer noch darüber lustig machen“, folgerte er. Bianca entfloh ein kleines Lachen.

„Echt jetzt?“, fuhr Richard sie an.

„Komm schon“, sagte Bianca sanft.

„Will jemand mein Baguette?“, fragte Leila.

„Nein!“, sagten die beiden männlichen Familienmitglieder gleichzeitig.

„Ich nehm’s“, sagte Bianca. Eigentlich hatte sie keinen Hunger. Aber vielleicht wirkte es Wunder und ihre Kopfschmerzen würden durch die Salami verfliegen. Aspirin hatte sie nämlich nicht gefunden.

„Hier ist schon Ahrensburg“, sagte sie nach einer Weile.

„Schon“, sagte Leila auf eine Weise, die nahelegte, dass sie gleichzeitig mit den Augen rollte.

„Sag ich doch. Landeier“, meinte ihr Bruder.

„Ich bin hier aufgewachsen, nicht vergessen!“, erwiderte Bianca.

„Hm“, bemerkte John. „Eben.“

Jetzt kicherte Richard. Bianca sah ihn ungläubig an.

„Na, toll“, sagte sie. Sie packte das halb gegessene Salami-Baguette zurück in die Brotdose und holte ihre Wasserflasche unterm Sitz hervor.

„Seid nett zu Dominik, ja?“, bat sie dann. „Er ist es nicht gewöhnt, mit Leuten zusammenzuleben. Wir wollen ihm das nicht unnötig schwer machen, okay?“

„Das hast du doch schon gesagt“, entgegnete John.

„Aber ich sage es noch einmal, damit ihr es auch wirklich hört.“

„Als wären wir bescheuert“, maulte Leila.

Bianca seufzte. Richard sah kurz zu ihr herüber und zuckte dann mit den Achseln. „Du wiederholst dich wirklich ziemlich oft.“

Bianca sah wieder aus dem Fenster.

Sie fuhren durch den Ort hindurch, bis sie fast schon wieder draußen waren, und bogen dann in eine breite Allee, die von alten hohen Ahornbäumen gesäumt war. Niemand sagte mehr etwas, und Richard fuhr ohne weitere Anweisungen vor ein großzügiges altes Haus mit Tonnendach. Er kannte das Haus natürlich, Bianca und er waren schon ein Paar gewesen, als Biancas Eltern noch hier gelebt hatten. Wie immer zog es ein bisschen an Biancas Herz, als sie an diese Zeit und vor allem an ihre Eltern dachte.

Richard steuerte den Wagen in die Einfahrt und parkte direkt vor der Einliegerwohnung, die ihre Eltern gebaut hatten, um bedürftigen Studenten ein Zuhause geben zu können. Wenn sie wüssten, wie schick die Wohnung jetzt renoviert worden war und dass dort jetzt eine Frau wohnte, die alles andere als bedürftig war … Bianca wusste nicht, wie sie das finden würden.

Wie um diesem Gedanken auszuweichen blickte Bianca zur anderen Seite aus dem Wagen und sah dort den überwucherten Vorgarten, in dem man kaum noch eine einzelne Pflanze erkennen konnte. „Das sieht nach Arbeit aus“, sagte sie und spürte schon, wie sie bei dem Anblick etwas durchströmte. Vorfreude? Energie? Oder nur Pflichtgefühl? Auf jeden Fall kitzelte es sie in den Fingerspitzen, anzufassen und alles wieder schön zu machen.

Sie öffnete die Beifahrertür, stieg aus und blieb direkt stehen, um an der Villa hochzuschauen.

Richard stellte den Motor aus und kam ebenfalls aus dem Kombi. Er ging ein paar Schritte in den Vorgarten – sofern die Pflanzen es zuließen –, stemmte die Hände in die Hüften und schaute genauso zum Haus hoch.

„Hallo“, sagte Bianca leise, „altes und neues Zuhause.“ Während Richard schon den Kofferraum öffnete und IKEA-Pakete aus dem Auto zog, blieb sie noch eine Weile so stehen, hielt sich am Autodach fest und versank in Kindheitserinnerungen.

Ihre eigenen Kinder blieben derweil einfach im Auto sitzen. Sie hatten ihre Handys herausgeholt und checkten wohl, ob es WLAN gab. Bianca klopfte auf das Autodach und rief laut über ihre Schulter: „Wollt ihr mal rauskommen?“

Keine Reaktion. Zumindest nicht von den Kindern. Stattdessen ging die Haustür der Einliegerwohnung auf und eine sehr dünne Frau mit strengem Pferdeschwanz und hochhackigen Stiefletten kam aus dem Haus. Bianca lächelte und ging auf sie zu. „Hallo! Du musst Marina sein!“ Sie streckte die Hand aus, die Marina aber nicht entgegennahm. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Sie müssen Bianca sein“, sagte sie. „Haben Sie gerade hier rumgeschrien?“

„Äh …“

„Ich wollte nur gleich sagen: Ich fände es schön, wenn das hier jetzt kein Partyhaus für Jugendliche wird, wenn hier nicht rumgeschrien und sonst wie Lärm gemacht wird. Ich habe einen anstrengenden Job, und ich habe das hier extra gemietet, weil es ruhig ist … mehr oder weniger …“

„Ruhig? Mit Dominik?“, fragte Bianca belustigt. Richard kam schwer beladen an ihnen vorbei und nickte erst mal nur zur Begrüßung. Stöhnend setzte er das Paket, das er gerade getragen hatte, am Haus ab und lehnte es neben Marinas Tür gegen die Wand. Danach drehte er sich um und gesellte sich zu ihnen. „Hallo, ich bin …“, fing er an.

„Das ist meine Hauswand“, unterbrach Marina ihn unwirsch.

„Wie bitte?“, fragte Richard verdattert.

„Das da. Wo ausnahmsweise kein Efeu alles zuwuchert. Wo jetzt ihr Paket dranlehnt. Das ist meine Hauswand.“

Bianca und Richard sahen sprachlos zu dem Paket an der Hauswand, zu Marina und dann einander in die Augen. Bianca hüstelte. „Streng genommen ist es meine Hauswand. Die von Dominik und mir.“

Marina wedelte mit der Hand durch die Luft, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen. „Ich will, dass Sie respektieren, dass ich auch hier wohne. Und als Mieterin habe ich Rechte! Seien Sie bei Ihrem Einzug bitte vorsichtig, dass Sie meine – ja, meine! – Wohnung nicht beschädigen.“ Sie war offensichtlich wütend. Bianca konnte das überhaupt nicht nachvollziehen.

„Tut mir leid. Lass uns noch mal von vorn anfangen …“, versuchte sie, die Situation zu retten.

„Ah, ihr habt euch schon kennengelernt“, hörte Bianca die Stimme ihres Bruders. Mit einem Lächeln drehte sie sich um. Aus der eigentlichen Haustür, dem Haupteingang, war Dominik gekommen. Er trug keine Schuhe, dafür aber weiße Tennissocken, die nicht unbedingt dafür geeignet waren, die erdige Einfahrt entlangzulaufen, wie er es jetzt tat. Bianca fühlte sich bei dem Anblick, als würde in ihr ein Messgerät von 0 auf 100 ausschlagen. Wäre sie ein Roboter, würde jetzt ein rotes Blinklicht an ihr verrücktspielen und ein warnender Alarm würde aus ihren Lautsprechern schrillen … Aber sie war kein Roboter. Und Dominik war nicht ihr Kind. Also ignorierte sie die dreckig werdenden Socken – bemerkte aber gleichzeitig, das Marina umso unverhohlener und pikiert auf Dominiks Füße starrte. Dominik, der offensichtlich von alledem gar nichts mitbekam, schritt fröhlich auf Bianca zu und nahm sie in den Arm. Bianca drückte ihn fest an sich und lächelte glücklich.

„Onkel Dominik? Kannst du uns das WLAN-Passwort geben?“ Aus dem Nichts war Leila aufgetaucht. Auch John stand jetzt neben ihnen.

„Könnt ihr zuerst ‚Hallo‛ sagen?“, fragte Bianca genervt. Gäbe es wirklich so etwas wie ein erzieherisches Messgerät in ihr, hätte man jetzt sehen können, wie die Nadel darin nervös in die Mitte zuckte.

„Hallo, Onkel Dominik“, sagte John brav. „Kannst du uns das WLAN-Passwort geben?“ Bianca wandte sich zur Seite, um ihren Kindern auch Marina vorzustellen. „Und das hier ist …“ Sie sah ins Leere. „Wo ist sie?“

„Marina? Zurück in ihrer Hexenhöhle“, antwortete Dominik.

„Die ist ja echt schlimm!“, flüsterte Bianca.

„Hallo Dominik“, sagte jetzt auch Richard, und die beiden Männer umarmten sich schnell. „Danke, dass wir einziehen dürfen.“ Richards Lippen verzogen sich kurz, als wäre er darüber etwas zerknirscht. Als wäre es ein Versagen seinerseits, dass sie diesen Schritt taten. Bianca sah es mit Unbehagen.

„Jetzt hört doch mal auf damit“, sagte Dominik. „Ich habe mich auch noch nie bei euch dafür bedankt, dass ihr mich hier wohnen lasst! Das gehört doch euch genauso wie mir, das Haus!“ Bianca war froh, dass er das so sagte. Das war genau, was Richard jetzt hören musste. Tatsächlich lächelte er jetzt auch und sah viel entspannter aus. „Gut, gut“, antwortete er. „Ich hole mal den ganzen IKEA-Kram in die gute Stube.“

„Ich helfe dir“, bot Dominik sofort an.

„Schuhe?“, fragte Richard mit Blick auf die weißen Socken.

„Nö, geht schon“, meinte Dominik und ging, wie er war, um den Volvo herum. Richard lächelte Bianca belustigt an, und sie schmunzelte verstohlen zurück. So sahen sie sich auch an, wenn die Kinder etwas Dummes taten und nicht auf sie hörten, nur dass sie dann nicht so entspannt dabei bleiben konnten. Schade eigentlich.

„Hey John, Leila, packt ihr mit an?“, rief Richard, als er Dominik folgte. Die beiden Teenager, immer noch ohne WLAN-Passwort, aber trotzdem noch mit den Handys in den Händen, bewegten sich nicht.

„Hey! Helfen!“, rief Bianca. Dabei hasste sie es, dass man bei den beiden immer so reden musste, als würden sie keine ganzen Sätze verstehen.

„Du sollst doch nicht so laut sein“, sagte Leila, ohne die Miene zu verziehen. „Sonst kommt gleich wieder die Tante raus.“

„Sag nicht Tante“, entgegnete Bianca reflexartig.

„Die Hexe.“

„Leila, hör jetzt auf!“

„So hat Onkel Dominik sie genannt!“, rief Leila zu ihrer Verteidigung. „Oh, ’tschuldigung, ich meine natürlich … Herr Dominik.“

„Jetzt sei mal nicht so naseweis, natürlich darfst du Onkel Dominik sagen“, schimpfte Bianca.

„Das war doch nur ein Witz“, sagte John beschwichtigend. Bianca biss sich auf die Lippe und holte tief Luft. Natürlich wusste sie, dass Leila es nicht ernst gemeint hatte – trotzdem ärgerte sie sich. Seit Wochen lief das mit ihnen jetzt so. Sie schienen einfach keine direkte Verbindung mehr zueinander zu haben. Als hätte jemand ihre Frequenz blockiert, sodass keiner mehr die Signale des anderen empfangen konnte. Oder wenn, dann nur verzerrt und unvollständig.

„Wie geil!“, rief da Dominik. Er hatte gerade ein langes Paket aus dem Kofferraum geholt. „Den hatte ich auch früher! Mega!“

„Was? Was hattest du auch früher?“ Neugierig ging John zum Wagen, und Bianca entspannte sich direkt wieder. Sie freute sich, dass John so offen mit Dominik umging. Er konnte in letzter Zeit oft sehr verschwiegen sein. Dadurch hatte man mit ihm nicht dieselben Probleme wie mit Leila, aber es war auch nicht immer einfach.

„Auf geht’s …“, sagte Bianca zu Leila, um sie auch zu animieren. Sie lächelte extra besonders herzlich. „Dafür gibt’s dann auch gleich das WLAN-Passwort. Versprochen.“

„Und Abendessen?“, fragte ihre Tochter, die ja nun doch kein Sandwich gegessen hatte.

„Und Abendessen“, sagte Bianca milde.

Als Bianca später wie versprochen in der Küche stand und das Abendessen vorbereitete, baute Richard schon einmal ein paar der neuen Möbel auf. Dominik hatte eine Weile geholfen, sich jetzt aber verabschieden müssen, um zur Probe zu gehen.

Bianca schnitt gerade ein paar Karotten klein, um sie zur Soße für die Nudeln hinzuzugeben, als John von oben herunterkam. „Es fehlen drei Schrauben im Set von meinem Schrank. Papa fragt, ob du weißt, wo hier im Haus noch welche sein könnten.“

Bianca legte das Küchenmesser weg und nahm ein Geschirrtuch hoch, um sich die Hände zu trocknen. „Ich habe zumindest eine Idee …“, murmelte sie und ging schon los. „Dann kümmere du dich mal um das Essen“, sagte sie im Gehen.

„Äh … nee.“

Bianca blieb an der Küchentür stehen. „Äh … doch!“, sagte sie im selben Ton wie er gerade.

„Ich weiß doch gar nicht, was ich machen soll!“

„Stell dich nicht so an! Du bist fast erwachsen!“

„Ah, jetzt plötzlich“, meinte John, „aber wenn ich nach Nigeria will, bin ich noch ein Kind.“

Bianca hielt überfordert inne. „Du bist auch noch ein Kind“, sagte sie und ärgerte sich dann darüber. „Ich meine … Nudeln mit Soße ist nicht Nigeria. Schau … lass einfach nichts überkochen und wenn es klingelt, schüttest du die Nudeln ab. Und schneid noch etwas Rohkost auf!“

„Ey, diese fucking Rohkost immer …“

„John! Das bringt dich Nigeria schon mal nicht näher! Jetzt kümmere dich einfach mal um dieses kiki-einfache Essen und mach nicht so ein Theater!“ Fast hätte sie noch gesagt: „Du bist ja wie Leila!“, aber zum Glück hatte sie das gerade so noch runtergeschluckt.

Wütend wandte sie sich ab und machte sich aus dem Staub. Das Schlimmste an der Pubertät eigener Kinder war, dass sie einen zwangen, so zu sein, wie man nie hatte sein wollen.

Schnellen Schrittes lief Bianca in den ersten Stock hinunter und redete sich dabei gut zu. Sie sollte sich nicht die Laune davon verderben lassen, dass ihr Sohn mal fluchte. Er probierte sich nur aus. Genau wie Leila eben. Alles normal. Sie lief zur Kellertür, in deren Schloss ein rostiger Schlüssel steckte. Der war schon immer ein bisschen problematisch gewesen, und auch jetzt brauchte Bianca drei Anläufe, bis sie ihn erfolgreich im Schloss drehen und dann die Tür aufstoßen konnte. Sofort kam ihr ein kalter Luftzug entgegen. Es roch ein bisschen nach Gummi, nach Waschmittel und Holz. Nirgendwo anders war ihr jemals dieser spezielle Geruch begegnet, aber hier hielt er sich durch die unterschiedlichsten Zeiten. Bianca griff direkt hinter der Tür über sich, bekam eine Schnur zu fassen und zog an ihr, woraufhin mit einem lauten Klacken eine Pendelleuchte anging.

Während Bianca die Steinstufen hinabstieg, fühlte sie Kälte durch ihre Socken kriechen. Unten angelangt öffnete sie eine zweite schwere Tür, um in die Garage zu kommen. Hier war zumindest früher das ganze Werkzeug gewesen. So viel, das hier noch nie ein Auto Platz gehabt hatte. Sie knipste die Neonröhren ein, die erst mal nur müde flackerten, dann aber doch zuverlässig surrten und den Raum vollständig erhellten. Offensichtlich hatte sich nicht viel geändert: Nach wie vor war die Garage vollgestellt, genau wie früher. Sie ging an der Wand entlang, an der ein wackeliges Holzregal stand. Kisten und Behälter stapelten sich hier, mit Nägeln, Schrauben und anderem Kleinkram. Doof. Sie wusste doch gar nicht, was für Schrauben Richard für den Schrank brauchte! „Wahrscheinlich so 08/15“, murmelte sie sich selbst zu.

Sie ließ ihre Hand gedankenverloren über die verschiedenen Behälter streifen, über das Holz des Regals und über einen achtlos liegen gelassenen Schraubenschlüssel. „Hallo, Papa.“ Sie lächelte. Dann, als sie sich fühlte, als würde sie einen Kloß im Hals bekommen, griff sie nach ein paar der Kistchen, die Schrauben enthielten, und beeilte sich, wieder aus der Garage und zu den anderen zurückzukommen.

„Du hast ja ewig gebraucht!“, sagte John vorwurfsvoll, als sie wieder in die Küche kam. Er steckte das Handy weg, auf das er gerade gestarrt hatte.

„Wirklich?“, meinte Bianca. Es war ihr gar nicht lange vorgekommen. Sie zuckte mit den Achseln. „Es ist ein großes Haus. Hier.“ Sie gab ihm die Kisten mit den Schrauben. „Davon passt hoffentlich etwas.“ Zufrieden sah sie, dass die Nudeln in der Spüle in einem großen Sieb lagen. Dafür blubberte die Soße auf dem Herd noch fröhlich vor sich hin. Alle paar Sekunden bildete sich eine große Blase, die beim Platzen explosionsartig Soße quer über den Herd verteilte. Bianca nahm schnell den Topf von der Feuerstelle.

„John! Hast du keine Augen im Kopf?“

„Du hast gesagt, nicht überkochen lassen. Das ist doch nicht überkochen lassen, das kocht doch nur.“

Bianca seufzte. „Egal. Hier. Bring Papa die Schrauben und sag, dass es Essen gibt!“

John seufzte. „Warum muss ich eigentlich alles machen?“, murmelte er und stapfte davon.

Vier Stunden später waren sie wieder in ihrer Stadtwohnung. Bianca war froh, endlich im Bett zu liegen, immer noch mit leichten Kopfschmerzen. Sie streckte sich gerade herzhaft, als Richard vom Duschen ins Schlafzimmer kam, ziemlich nass, mit nur noch einem kleinen Handtuch in der Hand, um die Haare trocken zu rubbeln. Bianca sah zu, wie er das Handtuch beiseite warf und aus Gewohnheit die Schranktür aufmachte, um sich eine Boxershorts herauszuholen. Gähnende Leere starrte ihm entgegen. Morgen würden die Möbelpacker kommen und alles mitnehmen. Sämtliche Kleinigkeiten waren schon in Kisten und Koffern weggepackt. Bianca musste lachen, als er kurz völlig verdattert dastand.

„Ich habe keine Kleidung“, stellte er fest und drehte sich zu ihr um.

„Hm“, murmelte Bianca. „Macht doch nichts“, schmunzelte sie.

„Aha“, sagte Richard und freute sich. Ohne Umschweife stieg er zu ihr ins Bett und kroch unter die Bettdecke. „Kalt!“, rief er und kuschelte sich an sie. „Aaah, warm.“

Bianca fand das immer noch komisch: Ein Mann von zwei Metern, der sich zusammenrollt und kuschelt. Das war irgendwie ein Widerspruch.

„Ich habe Kopfschmerzen“, sagte sie vorsichtshalber, als er anfing, sie zu streicheln. Sie wollte wirklich nur schlafen.

„Was für ein Klischee“, sagte Richard und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Tatsächlich rückte er danach ein wenig ab, und sie sank dankbar tiefer ins Kissen.

„Das wird gut in dem Haus, oder?“, fragte sie, die Augen schon geschlossen.

„Ja, ich denke“, hörte sie ihn sagen.

„Es muss sich ja nicht alles ändern deswegen …“, meinte sie. Warum sage ich das?, fragte sie sich im selben Moment.

„Auf keinen Fall“, erwiderte Richard und zog sie noch einmal an sich, als wäre sie sein Teddybär. „Alles bleibt wie immer“, murmelte er schläfrig. Sie machte noch einmal die Augen auf und sah, dass er schon einschlief. Sie strich ihm liebevoll über den Oberarm, der aus der Decke herauslugte, und machte dann das Licht aus.

Duo war einmal

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