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1: INDUSTRIEGEBIET ZECHENGLÜCK, MONTAG, 27.07.2013, 06:30 UHR

Angelika Makel fielen fast die Augen zu. Nur noch diese Runde, dann werde ich abgelöst. Sie hatte mal wieder die Nacht durchgearbeitet. Die Proben mussten in dieser Phase stündlich untersucht werden. Vorsichtig nahm sie eines der Reagenzgläser aus dem Ständer. Darin war eine dunkle Brühe, ein künstlicher Nährboden für das Virus. Sie balancierte das Röhrchen zum Mikroskop und fummelte es dort in die Halterung unter der Linse. Ihre Hände schwitzten unter den Gummihandschuhen und sie sehnte sich nach nichts mehr als ihrem Bett und vielleicht noch etwas Zeit mit sich selbst. Sie blickte vom Mikroskop auf. Im Glas hatte sich seit der letzten Stunde nichts getan, die Virenzellen wirkten immer noch leblos. Seltsam. Haben die Kollegen es beim Ansetzen versaut?

Sie stellte das Glas zurück und griff sich das nächste. Georg hatte heute Morgen diese Fuhre bearbeitet. Ob unser letztes Date ihm den Kopf vernebelt hat?

Angelika und Georg waren viermal miteinander ausgegangen. Das klassische Programm: Essen und dann Kino. Nur war es danach zu Angelikas Bedauern nicht klassisch weiter gelaufen. Das vierte Date und sie blieben noch immer auf der Gute-Nacht-Kuss-Stufe. Angelika wollte mehr und so war Georg zu ihrer Lieblingsfantasie beim Masturbieren geworden. Warum ist er nur so schüchtern? Ich könnte ihn einfach heute Abend fragen, ob er noch mit hochkommen will … Ich könnte … Oh Scheiße!

Das Glas zersplitterte in ihrer Hand. Die braune Brühe lief mit Scherben vermischt zwischen ihren Fingern hindurch auf die Tischplatte. Hektisch versuchte Angelika die Flüssigkeit aufzufangen, hantierte mit einer Hand im Regal auf der Suche nach einem Gefäß. Ein Gestank, wie sie ihn noch niemals gerochen hatte, erfüllte das Labor. Sie hielt sich den Ärmel vor die Nase und pantschte das Zeug in eine Schale. Die Scherben warf sie in den Müll und wusch sich die Reste von den Fingern. Sie war fast wieder sauber, da entdeckte sie zwischen Splittern und brauner Pampe noch etwas anderes in der Spüle: Blut.

Ihre Hektik wurde zur Panik, während sie den Handschuh herunter riss und ihre rechte Hand inspizierte. Zwischen Zeige- und Mittelfinger hatte sie einen feinen Riss. Ein Tropfen Blut war darauf zu sehen, den sie schnell abwusch. Wird schon nichts passiert sein. Die Proben scheinen ja sowieso tot zu sein. Sie versorgte den Finger mit einem Pflaster, räumte zu Ende auf, und besah sich die letzten Proben unter dem Mikroskop. Bei keiner tat sich etwas. Als ihre Kollegin Jennifer Lang kam, um sie abzulösen, war Angelika wieder gefasst und freute sich auf den Abend mit Georg.

Zu Hause unter der Dusche wurde ihr schwindelig. Aber Angelika war nach dem letzten Date mit Georg auf Wolke sieben und wollte sich das jetzt nicht durch Sorgen um eine Mini-Verletzung am Finger kaputt machen lassen. Um den Schnitt herum war eine bräunliche Verfärbung aufgetaucht. Sie verdrängte den Gedanken, drehte das Wasser kälter, um den Schwindel zu vertreiben und wusch sich den Schweiß der Nacht vom Körper. Den Vormittag verschlief sie, im nachmittäglichen Feierabendrummel kaufte sie sich ein neues Kleid, das sie abends mit leichtem Make-Up kombiniert zur ihrem Date-Outfit machte.

Das Date verlief dann ganz wunderbar, genau nach ihrem Geschmack: Georg war lieb, sah gut aus, hing im Restaurant an ihren Lippen und nahm im Kino ihre Hand wie ein schüchterner Teenager. Angelika fand das irgendwie unglaublich süß. Danach fuhr er sie nach Hause. Sie stellte die entscheidende Frage in dem beiläufigen Tonfall, den sie sich extra für diesen Moment antrainiert hatte:

„Willst du noch mit reinkommen?“

Er wollte, und nachdem sie ein paar Kurze gegen die Schüchternheit getrunken hatten, genoss Angelika den ersten Sex mit einem anderen Menschen seit Monaten. Sie schliefen gleich mehrere Male miteinander. Georg legte seine Zurückhaltung anscheinend mit seinen Kleidern ab und konnte gar nicht genug bekommen. Angelika hatte erst beim dritten oder vierten Mal einen Orgasmus und der war auch nur sehr klein, aber die Körperlichkeit, das Verlangen eines Mannes zu spüren, waren definitiv etwas, das ihr lange gefehlt hatte.

Am nächsten Morgen summte sie zufrieden vor sich hin, während sie sich für die Arbeit anzog. Georg stand unter der Dusche. Vielleicht war noch Zeit für einen gemeinsamen Kaffee, bevor sie zum Werk fahren müssten.

Auf der Arbeit fühlte sie sich innerlich beschwingt, aber körperlich schwach. Ihre Kollegen sahen sie an, als würde etwas mit ihr nicht stimmen. Durfte man nicht mal einen Abend Party machen? Die fragenden Blicke wurden ihr bald zu bunt und sie war froh, als sie endlich allein in ihrem kleinen Labor war. Vor dem Mittagessen, das sie immer in der Kantine einnahm, beschloss sie, ihr Make-Up aufzufrischen, um weniger aufzufallen. Vor dem Spiegel im Bad wurde ihr jedoch klar, dass es diesmal nicht reichen würde, die Augenringe zu verstecken: Ihr gesamtes Gesicht hatte eine graue Farbe angenommen. Sie war nicht einfach blass oder so, sie wirkte eher wie voller grauem Schimmel. Sie rieb ihre Wangen, um etwas Rot hervorzulocken, hatte aber keinen Erfolg. Sie streckte sich selbst die Zunge raus und fand auch diese grau belegt.

Und nun? Wenn sie zum Werksarzt ging, würde man sie wohl unter Quarantäne stellen. Ihrem Hausarzt konnte sie nicht von der Arbeit mit dem Virus berichten. Ich melde mich einfach krank, gehe nach Hause und warte ab. Vielleicht ist es nur eine Grippe. Die Wunde an ihrer Hand schmerzte nicht und war auch nicht geschwollen. Trotz der dunklen Färbung um den Schnitt, wertete sie dies als ein gutes Zeichen.

Sie huschte aus dem Bad auf den Flur in Richtung ihres Labors. Niemand war zu sehen, die meisten Kollegen saßen beim Essen in der Kantine. Sie öffnete ihre Tür, trat hindurch und atmete erleichtert auf, als sie hinter ihr ins Schloss fiel.

„Frau Dr. Makel?“

Angelika fuhr zusammen. Hinter ihrem Versuchstisch saß Jennifer Lang und schielte in ein Mikroskop.

„Schöne Arbeit. Diese Proben sehen gut aus.“

„Ich – hallo Frau Lang – gestern war noch nichts zu sehen.“

„Nicht?“ Lang musterte sie. „Sie sehen krank aus – geht es Ihnen nicht gut?“

„Also, nein, ich wollte gerade...“

Lang zog ihr Telefon aus der Tasche und drückte ein paar Tasten.

„Lang hier. Ich brauche Dr. Mangala in Labor 7.13. Sofort.“ Sie legte den Hörer weg. „Setzen Sie sich doch.“

Angelika gehorchte. Während sie warteten, hatte sie den Eindruck, von Lang ausführlich angeschaut zu werden. Sie musterte Angelika mit dem Blick eines Naturforschers, der eine neue Tierart betrachten würde.

Dr. Mangala stellte sich als ein freundlicher, älterer Herr heraus. Wie Angelika schon befürchtet hatte, bestand er darauf, dass sie in Quarantäne verlegt wurde, bis sie herausgefunden hatten, ob sie sich mit dem Virus angesteckt, oder einfach nur eine Grippe hatte.

In einem winzigen, bis zur Decke in weiß gefliesten Zimmer auf der Krankenstation spritzte er ihr ein Antibiotikum und ein Beruhigungsmittel, und wies sie an zu versuchen, etwas zu schlafen. Was sollte sie auch sonst tun? Hier gab es nicht mal einen Fernseher. Nur das Bett und eine Garderobe, auf der ihre Kleidung hing. Dr. Mangala hatte darauf bestanden, dass sie einen Krankenkittel anzog. Immerhin lief ihr Nickerchen noch unter bezahlter Arbeitszeit.

Sie wachte auf, weil jemand an ihrem Bett stand.

„Georg!“

„Wie geht’s?“

„Schlecht“, gab Angelika zu, „ich glaub, ich hab Fieber. Und meine Hand tut weh. Und ich hab Hunger.“

„Das wird schon wieder.“

„Du darfst gar nicht hier sein.“

Er winkte ab. „Habe mich eingeschlichen. Die können mir doch nicht verbieten, Dich zu sehen.“

Angelika lächelte ihn an. Endlich hatte sie jemanden wie ihn gefunden. Jemanden, der sie auch liebte, wenn es ihr schlecht ging.

„Danke.“

Er grinste schelmisch. „Ach, ich weiß schon, womit Du Dich revanchieren kannst.“

Er trat an ihr Bett und beugte sich zu ihr herunter. Sie roch seinen Schweiß, seinem Atem und in ihr erwachte etwas. Etwas dunkles, hungriger als sie. Georg strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und näherte seine Lippen den ihren. Nein, tu das nicht. Er öffnete den Mund ein wenig und sein Geruch ließ den Drang in ihr zu stark werden, um gegen ihn zu kämpfen. Sie erwischte mit ihren Schneidezähnen seine Unterlippe. Er zog den Kopf sofort weg.

„Was!?!“

Er tippte sich mit dem Finger gegen die Lippe. Sie hatte ihn nicht richtig erwischt und er war nicht ernsthaft verletzt, blutete aber etwas. Er bemerkte das Blut an seinem Finger, wurde blass und streckte den Finger nach ihr aus.

„Wenn Du mich liebst, dann sagst Du niemandem was hier passiert ist!“

Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Gurgeln hervor.

Er war an der Tür. „Niemandem – bitte.“

Angelika war wieder allein.

Wovor hatte er solche Angst? Es klopfte und Jennifer Lang trat mit einer Spritze in der Hand ein.

„Sie werden in ein Labor verlegt, Schätzchen. Sie erweisen ihrem Land einen großen Dienst.“

Infiziert : Die ersten zehn Tage

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