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3: HAUS VON FAMILIE BORN, NORDSTADT, DONNERSTAG, 30.07.2013, 19:55 UHR

Ferdinand Born starrte zwischen zwei Bissen auf den Fernseher – wie jeden Abend. Früher hasste Mama das, beim Essen wurde bei Familie Born nie ferngesehen. Nun lief der Fernseher sowieso den ganzen Tag und blieb beim Abendessen einfach an. Mama setzte sich mit dem Rücken zum Durchgang zum Wohnzimmer an den Esstisch, Papa, Ferdinand und seine kleine Schwester Lea ihr gegenüber, sodass sie freie Sicht auf den Bildschirm hatten. Mama gab zwar ihr Bestes, um sich zu verstellen, aber Ferdinand wusste, dass sie Angst hatte. Ständig kam sie zu den Geschwistern nach oben, um nach ihnen zu sehen, immer unter irgendeinem Vorwand. Mal wollte sie wissen, was sie essen wollten, mal brachte sie ihnen geschnittenes Obst nach oben oder sagte, sie müsse dringend mal ihre Betten abziehen. Wenn ihre Frage beantwortet, das Obst dankend angenommen oder die Betten gemacht waren, blieb sie beim Gehen stets in der Tür stehen, betrachtete mit verklärtem Gesicht ihre Kinder und vergewisserte sich, ob sie eigentlich wüssten, wie lieb sie sie habe. Genervt versicherten die Geschwister ihr, dass sie davon nach den ganzen Beteuerungen eine ganz gute Vorstellung hätten und Mama verließ seufzend das Zimmer.

„Sie haben gesagt, dass es mehr geworden sind“, berichtete Ferdinand seiner Familie. „Sie haben das Industriegebiet abgeriegelt.“ Ferdinand wusste alles über den Verlauf der Katastrophe. Anfangs hatte ihn das Alles nicht groß gekümmert: In irgendeiner Fabrik war irgendein Unglück passiert. Sowas hörte man dauernd. Als dann alle Schulen, Behörden und Geschäfte geschlossen wurden, und alle aufgefordert wurden, ihre Häuser nicht zu verlassen, nahm plötzlich jeder die Sache sehr ernst. Ferdinand verfolgte alles am Bildschirm. Die Medien stürzten sich erneut auf den Unfall, neues Material darin findend, dass Auslöser und Folgen des Unglücks noch immer vom Chemiekonzern, der die Fabrik betrieb, verschleiert wurden. Eigentlich wusste niemand so genau, was eigentlich passiert war. Nur, dass es gefährlich war, sich auf die Straße zu begeben. Der Konzern betrieb Werke in ganz Europa und es wurden an mehreren Stellen infizierte Mitarbeiter gemeldet, manche von ihnen befanden sich sogar auf freiem Fuß und versteckten sich, um der Quarantäne zu entgehen. Ferdinand sah aus dem Fenster, wo nun die Straßenlaternen angingen. Mama wechselte das Thema und versuchte Lea zu zwingen, ihr Gemüse zu essen.

„So lass sie doch, Katharina – wenn sie es doch nicht mag“, beschwichtigte Papa.

„Es ist wichtig, dass du das ist.“ Mama blieb hart, wie immer. Am Ende würde Lea ihren Brokkoli essen.

Vor dem Fenster flackerte eine Laterne und ging dann ganz aus. Auf der Straße war es gespenstisch still. Aus dem Fernseher ertönte der vertraute Jingle der Abendnachrichten, gefolgt von dem Hinweis: „Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.“

„Ruhe, jetzt“, verlangte Papa.

„Infektionsgefahr. Die Behörden versichern alles zu tun, um die Lage schnellstmöglich wieder unter Kontrolle zu bekommen“, erzählte der Moderator im Fernsehen.

Alle starrten zum Fernseher.

„ ... Das Seuchengebiet wurde nach der letzten offiziellen Stellungnahme um die nördlichen Außenbezirke erweitert. … Alle Bürger werden dringend gebeten, ihre Häuser weiter nicht zu verlassen …“

„Nördliche Außenbezirke – es kommt auf uns zu“, flüsterte Mama.

„Psst,“ machte Vater.

„ … In anderen Städten des Landes wurden heute in frühen Abendstunden Vorkommnisse gemeldet, die möglicherweise in Zusammenhang mit infizierten Mitarbeitern des Konzerns stehen. Ein Junge soll auf einem Spielplatz in Frankfurt einem anderen Kind in den Hals gebissen haben. In der Nähe von Hamburg haben Wanderer ein vollständiges, menschliches Skelett auf einem Waldweg gefunden. „Niemand sollte nun in Panik geraten, wir haben die Situation unter Kontrolle und gehen jeder Spur nach“, äußerte sich der Leiter der Sondereinheit „Menschenhunger“ Christopher Steiner.“

Papa schlug mit Wucht auf den Tisch. Lea und Ferdinand zuckten zusammen.

„Das darf doch nicht wahr sein!“

„Was denn?“, erkundigte sich Ferdinand.

„Schon gut.“ Sein Vater winkte ab. „Nicht deine Sache. Für euch ist es nun Zeit fürs Bett.“

„Kein Nachtisch?“ Lea zog ein enttäuschtes Gesicht.

„Ich konnte heute leider nicht einkaufen, mein Schatz, aber vielleicht liest Dein Bruder Dir ja noch was vor.“

Lea blickte mit großen Kinderaugen zu ihrem Bruder, genau wissend, dass bei diesem Blick niemand „Nein“ zu ihr sagen könnte.

Ferdinand lächelte. Was sie nicht wusste war, dass ihm die abendliche Vorlesestunde fast ebenso gut gefiel wie ihr.

„Wenn es sein muss“, sagte er.

Die Geschwister putzten sich die Zähne und Lea legte sich in ihr Bett. Ferdinand setzte sich neben sie, nahm „Alice im Wunderland“ vom Nachttisch und begann zu lesen. Für ihre 9 Jahre war Lea eine sehr ausdauernde Zuhörerin. Von unten hörten sie Mama in der Küche hantieren. Wahrscheinlich füllte sie wieder irgendein Nahrungsmittel in Marmeladen- und Einmachgläser um. Auch das war eine ihrer neuen Beschäftigungen. Ständig füllte sie Gläser mit Zeug, trug sie in den Keller und stapelte sie sorgsam in den Regalen dort, die sich langsam immer weiter unter dem Gewicht durchbogen.

Auch Papa hatte viel zu tun. Er hatte begonnen, das ganze Grundstück mit einem hohen Lattenzaun zu umzäunen. Mehr als die Hälfte war bereits fertig.

Da seine Eltern so beschäftigt waren, hatte Ferdinand es sich zur Aufgabe gemacht, seine Schwester zu unterhalten. Sie sollte sich keine Sorgen machen, obwohl alle sich so seltsam verhielten. Also musste Ferdinand sie so gut es ging ablenken, damit sie ja nicht auf die Idee kam, Angst haben zu müssen. Seine kleine Schwester sollte niemals in ihrem Leben Angst haben müssen.

Ferdinand las und las. Irgendwann fielen ihm die Augen zu und das Buch klappte zusammen. Lea nahm es ihm vom Bauch und legte es auf den Nachttisch. Sie zog ihr Tagebuch aus der Schublade und schrieb einen Eintrag. Dann versteckte sie das Buch wieder, kuschelte sich an ihren Bruder und schlief mit einem zufriedenen Seufzer auf den Lippen ein. Den Gute-Nacht-Kuss, den Mama und Papa ihren Kindern noch brachten, bekamen die beiden schon nicht mehr mit.

LEAS TAGEBUCH

Ohne Schule ist das Leben schön. Ferdinand und ich durften nun schon den dritten Tag zu Hause bleiben. Das einzig Doofe ist, dass wir nicht raus dürfen und Mama und Papa mit uns keine Ausflüge machen wie sonst in den Ferien. Aber es sind ja auch keine richtigen Ferien, sonst würden wir sicher an die Nordsee fahren.

Ich darf auch meine Freunde nicht sehen. Susi hat mich heute angerufen, aber ihre Eltern lassen sie auch nicht mit anderen spielen. Immerhin habe ich Ferdinand. Susi hat keinen Bruder.

Langsam haben wir schon Langeweile. Auf Brettspiele hat Ferdinand keine Lust mehr, weil ich immer gewinne, Malen findet Ferdinand auch doof. Am schlimmsten langweile ich mich, wenn er an seinem Computer spielt. Bei Ferdinands Spielen muss man immer nur Monster abschießen und sowas und Mama sagt, ich darf dabei nicht zugucken.

Heute haben wir aber im Haus Verstecken gespielt. Ferdinand wollte, dass ich mich so gut irgendwo verstecke, dass er mich nicht findet. Ich habe mich im Bad unter die Sachen im Wäschekorb gelegt. Ferdinand hat sehr lange suchen müssen. Er sagt es sei wichtig, dass ich weiß wo ich mich verstecken kann. Aber hier sucht mich doch niemand außer ihm.

Mama und Papa gucken die ganze Zeit Nachrichten. Ich finde Nachrichten langweilig, aber sie sagen, die Kindersachen werden nicht mehr gezeigt. In den Nachrichten geht es immer um so eine Krankheit. Ich hoffe, ich stecke mich nicht an. Dann muss ich wieder zu Dr. Strahl und der tut mir immer weh, obwohl er jedes Mal wieder verspricht, dass es nicht wehtun wird.

Ferdinand meint, uns kann nichts passieren, wenn Mama und Papa das sagen. Ich glaube ihnen aber nicht so einfach. Wenn sie sich so komisch angucken, sind sie fast so wie Dr. Strahl, wenn er sagt „es tut nicht weh“. Und alle haben Angst. Heute war Herr Foster hier. Er und mein Vater wollen den Zaun an unseren Häusern besser machen. Herr Foster ist wie ein großer starker Bär und macht mir immer die Haare wuschelig. Heute wollte er aber nur mit Papa reden und war ganz zappelig. Er lief immer in der Küche vor Papa herum. Ich soll immer still am Tisch sitzen. Bestimmt muss Herr Foster auch sein Gemüse nicht essen.

Ich hasse es, dass Mama mich immer zwingt das eklige Gemüse zu essen. Das ist so glibberig. Ich wünschte, es würde eine Welt geben, in der es egal ist, ob Kinder ihr Gemüse essen.

Sie konnten noch nicht lange geschlafen haben, als Ferdinand durch ein Geräusch geweckt wurde. Er horchte. Es kam von unten. Jemand war an der Tür.

Schritte! Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe.

„Wer ist da?“ hörte er Papa rufen.

Keine Antwort. Er lauschte so fest er konnte. Nichts. Dann hämmerte etwas dumpf gegen die Haustür. Ein lautes Stöhnen ertönte und er sah zu seiner Schwester hinüber.

Lea saß kerzengerader im Bett und starrte ihn entsetzt an.

„Was ist das?“ flüsterte sie.

Schnelle Schritte näherten sich. Ferdinands Herz klopfte wie wild. Dann wurde die Tür aufgerissen und Papa stand im Türrahmen.

„INS BAD!“, schrie er.

Wie von der Tarantel gebissen sprangen die Kinder aus den Betten und rannten ins Bad.

Sie sahen Mama, wie sie mit einem großen Fleischmesser zur Haustür eilte. Papa schubste sie weiter, knallte die Tür hinter ihnen zu und kommandierte „ABSCHLIESSEN!“

Ferdinand gehorchte. Er schloss von innen ab, sie setzten sich auf den Boden und nahmen sich zitternd in die Arme.

Sie hörten, wie Papa wieder nach unten ging und irgendwas zu Mama sagte. Danach war es einige Sekunden lang still und dann brach die Hölle los: Mama schrie, Papa fluchte. Sie hörten lautes Krachen, Möbel wurden umgestoßen, jemand fiel zu Boden. Mama schrie noch einmal laut auf. Ein gequälter Schrei, den Ferdinand niemals wieder vergessen würde.

Die Geschwister starrten sich entsetzt an. Einige Momente vergingen in völliger Stille, dann sagte Ferdinand:

„Ich gehe nachsehen.“

„Aber Papa hat gesagt, wir sollen hier bleiben.“

„Ich gucke nur von der Treppe, du bleibst hier und lässt mich wieder rein.“

Lea sah in diesem Moment unglaublich klein und verängstigt aus. Normalerweise hätte Ferdinand sie nun zu beruhigen versucht, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Also nickte er nur und wandte sich zur Tür.

Er schloss die Tür hinter sich wieder und sah den Gang hinab. Nichts zu sehen. Auf Zehenspitzen schob er sich weiter vor, immer an der Wand entlang. Sein Herz und seine Atmung kamen ihm wahnsinnig laut vor. Noch ein paar Meter und er würde den Treppenabsatz erreicht haben und in die untere Etage gucken können. Und da waren Geräusche. Er konnte sie nicht einordnen und sie waren nur leise, aber sie waren auf jeden Fall da.

Langsam schob er sich weiter vor. Eine Ewigkeit verging, bis er das Ende der Wand erreicht hatte und um die Ecke sehen konnte. Unten vor der Treppe lagen seine Eltern. Seine Mutter lag auf dem Rücken, sein Vater bäuchlings auf ihren Beinen, einen Baseballschläger in der Hand. Ferdinand wusste sofort, dass sie tot waren. An Mamas rechtem Arm nagte ein Infizierter, an Papas Beinen machte sich ein weiterer zu schaffen. Sie sahen genauso aus wie auf dem Bild, das Ferdinand im Fernsehen gesehen hatte. Man hatte ein paar Kennzeichen aufgezählt, an denen man Infizierte erkennt, Ferdinand hätte diese Informationen aber gar nicht benötigt. Die Wesen am Treppenabsatz waren so bizarr und furchteinflößend, dass jeder sofort an den nahenden Tod denken musste.

Im Fernsehen hatten sie auch gesagt, man solle beim Anblick von Infizierten sofort die Flucht ergreifen. Aber Ferdinand konnte sich nicht rühren. Er starrte auf seine Eltern, die immer weniger wurden, während die beiden Infizierten ihren Hunger stillten. Er hätte wohl noch bis zum Ende der Mahlzeit dort gestanden, wenn nicht plötzlich Bewegung in die Tafelrunde gekommen wäre: Mama regte sich noch. Ferdinand wagte sich einen Schritt weiter. Tatsächlich, Mama bäumte sich auf, stöhnte laut und schüttelte den Infizierten von ihrem Arm.

„MAMA!“, schrie Ferdinand.

Sie drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich und Ferdinands Hoffnung verflog sofort wieder – seine Mutter hatte sich infiziert. Ferdinand konnte es in ihren Augen sehen.

„Mama? Ich bin‘s?“, versuchte er.

Ihre Augen blieben vollkommen leer. Keine Spur von Erkennen. Keinerlei Regung. Nicht einmal Schmerz sah er in ihrem Gesicht trotz ihrer klaffenden Wunde am Arm. Sie machte einen Schritt Richtung Treppe, die anderen beiden Infizierten erhoben sich ebenfalls. Du musst hier weg! schrie eine Stimme in seinem Kopf. Mama streckte die Arme aus und bewegte sich torkelnd auf ihn zu. Sie wendete die Augen nicht vom ihm ab, während sie versuchte, die Treppe zu erklimmen. Die Koordination ihrer Glieder machte ihr auf den Stufen sichtlich Probleme. Sie sank auf alle Viere, und krabbelnd ging es schneller voran. Einer der anderen Infizierten tat es ihr nach, der Dritte entschied sich für die leichtere Variante und widmete sich wieder Papas Bein.

Mama hatte Ferdinand fast erreicht, an ihrem Arm konnte er deutlich die Bisswunden erkennen. Und nun sah er auch etwas in ihren Augen: Hunger.

Hinter ihm ertönte ein schriller Schrei. Lea! Ferdinand wurde aus seiner Trance gerissen, wirbelte herum, rannte den Gang zurück und drückte Lea die Hand aufs Gesicht. Sie darf sie nicht so sehen. Er drängte sie zurück ins Bad und verschloss die Tür.

„Was ist los?“, winselte Lea.

„Mama und Papa … sie … die Infizierten …“, stammelte Ferdinand, kam aber nicht weiter.

Lea sah ihn lange an und nickte. In ihrem kleinen Kopf wurde der Gedanke installiert, dass es ihre Eltern nicht mehr gab. Sie sprach kein Wort, fing lautlos zu weinen an und drückte sich an ihren Bruder. Auch Ferdinand weinte jetzt und so standen die beiden umschlungen auf der Badematte und ließen ihren Tränen freien Lauf.

Bis es an der Tür klopfte. Kein gezieltes, menschliches Klopfen, sondern jemand rummste einfach gegen die Tür. Ferdinand löste sich aus der Umarmung und spähte durchs Schlüsselloch. Seine infizierte Mama stand direkt hinter der Tür und kratzte wie wild am Rahmen. Immer wieder fuhren ihre Nägel über das Holz und hinterließen blutige, tiefe Kratzspuren. Der andere Infizierte holte gerade zum nächsten Schlag gegen die Tür aus. Ferdinand sah zum Fenster und überlegte: Zum Springen war es eigentlich zu hoch, vor allem für Lea. Sie würden sich sicher die Beine brechen. Aber blieb ihnen ein anderer Ausweg?

Lea schien das alles nicht mehr zu kümmern. Sie stand einfach da und weinte vor sich hin, während die Tür unter den Schlägen immer lauter krachte und knarrte.

Infiziert : Die ersten zehn Tage

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