Читать книгу Infiziert : Die ersten zehn Tage - Felix Fehder - Страница 7

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5: STADTAUTOBAHN, DONNERSTAG, 30.07.2013, 22:00 UHR

Martina konnte es langsam nicht mehr hören: Michael stöhnte und fauchte im Kofferraum – ununterbrochen. Sie hoffte nicht mehr, dass er irgendwann damit aufhören würde. Als er aufgewacht war und sie die ersten Geräusche hörte, hatte sie angehalten, um nach ihm zu sehen. Martina war auf den Anblick vorbereitet, wusste vom Fabrikzaun, was sie erwartete. Dachte sie. Diesen hier hatte sie mal gekannt. Gut gekannt. Mittwochs hatten sie immer gemeinsam Billard gespielt, zusammen mit seiner Frau. Sie musste es ihr sagen. Wenn sie noch lebt.

Als sie die Haube öffnete und Michael ihr entgegen stöhnte, wusste sie gleich, dass er nicht mehr ansprechbar war. Die Infektion war schnell fortgeschritten, Michael sah aus wie die Leute hinter dem Fabrikzaun ausgesehen hatten. Sie hatte keine Angst, denn Michaels Fesseln ließen ihm so gut wie keine Bewegungsfreiheit und bei einem Zusammenstoß würde der Sack über seinem Kopf sie vor Bissen schützen. Durch den Sack sah er sie wahrscheinlich nicht einmal richtig. Trotzdem wurde er zusehends unruhiger, je länger Martina am offenen Kofferraum stand. Er spürte sie, roch ihr Fleisch, das Blut in ihren Adern, spürte ihr Lebendig-sein. Sie schlug die Klappe zu und fuhr weiter. Wenn sie erst die Polizeiwache erreicht hatte, würde man Michael schon irgendwie helfen können.

Die Stadt war gespenstisch. Die Häuser dunkel, die Straßen verlassen. Geflohen oder versteckt? Wenigstens kam sie gut voran.

Plötzlich sah sie vor sich ein Flackern. Es kam aus einem Haus vor ihr. Im Vorbeifahren sah sie, dass das Licht in einem Zimmer im ersten Stock an und aus ging. Wahrscheinlich ein Wackelkontakt. Im Rückspiegel wirkte das Blinklicht noch seltsamer, irgendwie rhythmisch. Erst blitzte das Licht dreimal schnell hintereinander auf, dann folgten drei langsamere Lichter, dann wieder drei kurze. Das ist kein Wackelkontakt, sondern ein SOS Signal. Martina überlegte kurz: Wie viele hilfebedürftige Menschen gab es im Moment wohl in der Stadt? Konnte sie von der Polizeiwache aus nicht besser helfen?

„Ach, verflucht“, murmelte sie, bremste so abrupt ab, dass Michael gegen die Rückbank knallte und wendete den Wagen. Sie verließ die Stadtautobahn, parkte vor dem Haus und stieg aus.

„Hallo? Jemand da?“, flüsterte sie dem Licht entgegen.

Das Gesicht eines Mädchens erschien am Fenster, kurz darauf auch das eines älteren Jungen.

„Habt Ihr SOS geblinkt?“

„HILFE“; schrie der Junge.

„Immer ruhig, wir kriegen das schon hin – ich komme zu Euch rein.“

„NEIN!“

„Nein? Ich dachte Ihr wollt meine Hilfe?!“

„Da sind Zombies im Haus“, brüllte der Junge, „ ... Infizierte meine ich.“

Martina wusste, was ein Zombie war und sie wusste auch, was ein Infizierter war. Wo der Junge den Unterschied sah, wusste sie nicht.

„Wo sind Eure Eltern?“

Das Mädchen quiekte und fing an zu weinen. Sie verließ das Fenster und Martina hörte sie im Inneren des Zimmers schluchzen. Falsche Frage. Sie sah wieder den Jungen an.

„Diese Infizierten – wo sind die genau?“

„Vor unserer Tür. Wir sind im Bad.“

„Ich bin gleich wieder da.“ Martina ging auf das Haus zu. Die Eingangstür stand offen, mit zerbrochenem Schloss. Vor ihr lag eine Diele, rechts ein paar verschlossene Türen, links blickte man ins Wohnzimmer, wo ein Fernseher ein schwarz-weißes Rauschbild zeigte. Geradeaus befand sich eine Treppe. Davor lag ein Mann, auf den unteren Stufen und dem Boden glitzerte eine große Blutlache. Martina hatte genug Tatorte gesehen, um zu wissen, was hier passiert war. Der Mann war angegriffen worden und gestürzt. Dabei hatte er sich den Schädel an der Treppe eingeschlagen. Sie befürchtete, dass es sich um den Vater der Kinder handelte. Die Treppe hinauf führte eine Blutspur. Der oder die Angreifer hatten ihren Weg nach dem Kampf nach oben fortgesetzt. Martina schlich leise ebenfalls die Treppe hinauf. Von oben drang das ihr schon von Michael bekannte Stöhnen und Fauchen. Sie bewegte sich auf Zehenspitzen bis zum Treppenabsatz und sah um die Ecke in einen Flur. Da waren mehrere Türen, vor einer lungerten drei Infizierte herum, zwei Männer und eine Frau. Ihre Mutter!?! Sie schnüffelten und fummelten an der Tür, konnten sie aber anscheinend nicht öffnen. Martina prägte sich die Szene ein und beeilte sich, um möglichst leise wieder draußen unter das Fenster zu kommen.

Der Junge wartete schon auf sie. „Sie sind noch da, oder?“

„Ja, sind sie, aber keine Sorge – ich habe einen Plan. Zuerst hol bitte deine Schwester zurück.“

Der Junge verschwand und kurz darauf erschienen wieder zwei Köpfe im Fenster.

„Also wir machen das so: Ich lenke sie ab und locke sie aus dem Haus. Wenn Ihr seht, dass wir draußen sind, lauft Ihr zu meinem Auto dort, steigt ein und schließt die Türen. Wartet auf mich, bis ich zurückkomme.“

Die Kinder sahen sich an.

„Ok?“

„Ok!“, rief der Junge.

„Wie heißt Ihr?“

„Ferdinand“, er deutete auf das Mädchen, „und das ist Lea, meine Schwester.“

„Ich bin Martina. Also gut Ferdinand und Lea, es geht los!“

Martina ging wieder ins Haus und diesmal gab es keinen Grund leise zu sein. Sie stieg die Treppe hoch und stellte sich oben mitten in den Flur.

„Hey! HEY IHR!“

Die Infizierten ließen von der Tür ab, wussten aber wohl nicht so recht, ob sie die neue Mahlzeit sofort wollten oder lieber erst zum Nachtisch.

„Kommt schon, an mir ist viel mehr dran“, lockte Martina. „Guckt her, genug für euch alle.“ Sie streckte ihnen ihre Hüften entgegen, von denen sie schon immer fand, dass sie der Leckerbissen ihres Körpers seien, und wackelte mit dem Po. Das schien die Infizierten zu überzeugen, dass sie lecker schmecken würde. Zwei von ihnen kamen jetzt auf sie zu. Der dritte kratzte wie in Trance am Türrahmen. Unter ihm lagen eine Menge Holzsplitter. Einer Eingebung folgend zog sie ihre Dienstwaffe und schoss ihm ins Bein. Das war zwar normalerweise eine Methode, um Gegner am Angriff zu hindern, dies hier war aber nicht normal und so wurde der Infizierte aus seiner Trance gerissen und kam nun auch auf sie zu.

Angesichts von drei Infizierten, die sich zwar humpelnd und stolpernd aber doch stetig näherten, trat Martina lieber den geordneten Rückzug an. Selbstverständlich nicht ohne eine Menge Krach und Gebrüll, um ihre drei Verehrer auf Kurs zu halten. Brav folgten sie ihr die Treppe herunter und aus dem Haus. Im Vorgarten blieb sie stehen und sah zum Fenster. Die Kinder guckten zurück. Sie wartete ein paar Atemzüge, dann hatten die Infizierten den Eingang passiert, und kamen den Weg entlang.

„JETZT!“, schrie sie den Kindern zu, wandte sich zur Straße und rannte an ihrem Auto vorbei, sich ständig vergewissernd, dass sie noch immer verfolgt wurde. Ein Stück die Straße hoch hatte sie vorhin im Vorbeifahren eine U-Bahn Haltestelle gesehen. Der Plan sah vor, durch einen Eingang hinein zu laufen, unter der Straße die Infizierten abzuhängen und auf der anderen Seite wieder raus zu kommen. Sie erreichte den Tunneleingang, die Infizierten zehn, fünfzehn Meter hinter sich. Sie nahm die ersten paar Stufen und wartete. Auf der Treppe würden die Infizierten mit ihrem Stolper-Torkel-Mix Probleme haben und es war wichtig, dass sie Martina weiter verfolgten.

Der Tunnel lag vollkommen dunkel unter ihr. Sie nahm ihre Taschenlampe vom Gürtel und ließ den Lichtkegel die Treppe herunter wandern. Sie sah nichts außer Stufen, die in die Dunkelheit hinab führten. Langsam drang sie weiter vor. Stufe für Stufe für Stufe. Sie erreichte das Treppenende und leuchtete in den Tunnel. Da ist jemand, schoss es ihr durch den Kopf. Das Licht der Taschenlampe wurde von einem Augenpaar reflektiert. Dann noch eines und noch eines und noch eines und … –

Martina schaltete schnell. Noch bevor das erste Stöhnen ertönte, stürmte sie die Treppe wieder hinauf. Nach den ersten paar Stufen war das Stöhnen hinter ihr zu einem dröhnenden Chor angeschwollen. Sie verdrängte ihre aufkeimende Angst und leuchtete die Stufen entlang. Ihre drei Verfolger taumelten durch das Licht. Zu versuchen, an ihnen vorbei zu kommen, erschien ihr recht riskant, außerdem lief ihr die Zeit davon. Die ersten Infizierten hinter ihr erklommen bereits ebenfalls die unteren Treppenstufen. Scheiß drauf, wenigstens sehen die Kinder das nicht. Sie zog ihre Waffe, nahm die Lampe in die linke Hand und stützte die Waffenhand darauf. Nach etwas Herumleuchten erschien der erste Kopf im Lichtkegel. Sie legte an. PAFF – und der erste war Matsch. Nochmal leuchten, anlegen, PAFF, leuchten, anlegen, PAFF; und sie setzte über ihre ehemaligen Verfolger hinweg, stürmte aus dem Schacht und hinaus auf die Straße. Sie schaute sich nicht um, sondern rannte, rannte, rannte so schnell ihre Füße sie trugen zum Auto.

Die Kinder standen daneben auf dem Bürgersteig.

„Seid ihr verrückt?“, rief sie im Rennen, „ich sagte IM AUTO warten.“

„Da ist jemand drin“, brüllte der Junge zurück.

Michael! Martina erreichte den Wagen. „Dafür ist jetzt keine Zeit, rein mit euch.“

Sie öffnete die hintere Tür und drängte die Kinder auf die Rückbank, wirbelte ums Auto, nahm hinterm Steuer Platz und raste los.

Ihr Herz hämmerte auch nach ein paar Kilometern zielloser Flucht noch wie wild. Martina sorgte sich, einen Unfall zu bauen, wenn sie sich nicht bald beruhigte. Michael machte die Sache nicht besser, indem er im Kofferraum stöhnte. Die Kinder hielten sich an den Händen und sprachen kein Wort.

„Keine Angst, Ihr beiden. Ihr seid jetzt sicher. Ich bringe Euch zu Polizeiwache, ok?“, erklärte sie.

Im Rückspiegel sah sie Ferdinand nicken.

„Das im Kofferraum ist mein Kollege Michael. Er ist krank geworden, kann Euch aber nichts tun.“

„Wo sind unsere Eltern?“, fragte Ferdinand.

„Ich habe sie weggelockt und in der U-Bahn abgeschüttelt. Die kommen schon zurecht.“ Das war gelogen, aber was sollte sie sagen? Die liegen ohne Köpfe auf der U-Bahn Treppe?

„Sie sind auch krank, oder?“

Martina zögerte. „Ja – sind sie. Aber bestimmt finden die Ärzte bald heraus, wie man alle Kranken retten kann.“ Und die nächste Lüge.

Ferdinand sah aus dem Fenster.

„Da war jemand – an der Tür“, begann er stockend, „ ... Papa hat uns ins Bad geschickt. Ich bin nachsehen gegangen und da waren …“ Er sah zu seiner Schwester und brach ab. „Wurden sie krank, weil sie gebissen wurden?“

Ihre Augen trafen sich im Rückspiegel. „Ja, ich denke schon“, antwortete Martina. Zur Abwechslung mal die Wahrheit.

„Blöde Beißer.“

Lea sprach das erste Mal, seit sie sich getroffen hatten und zum ersten Mal seit dem Durchbruch der Infizierten am Fabrikzaun musste Martina grinsen.

Sie hielten vor der Polizeiwache, auf der Martina ihren Dienst versehen hatte. Nirgendwo brannte Licht. Meine Überstunden zu zählen, kann ich mir wohl sparen.

„Bleibt im Wagen und verriegelt die Türen, ich will erst nachsehen, ob die Luft rein ist“, wies sie die Kinder an.

Martina stieg aus, ging zum Eingang der Wache und drückte die Tür auf. Niemand war zu sehen. Sie ging über den ihr vertrauten Gang und spähte in ein paar Büros. Keine Menschenseele. Sie durchsuchte das komplette Gebäude, von den Büros in den oberen Stockwerken bis zu den Lagerräumen und Labors im Keller. Alles war vollkommen verlassen. Erst im Gefängnisbereich traf sie auf einen Menschen: In einer der Zellen saß ein Mann!

„Hallo!“, grüßte Martina.

Der Gefangene erhob sich von der Pritsche, auf der er gesessen hatte, und meinte:

„Wurde auch Zeit! Ich will sofort mit meinem Anwalt sprechen!“

Der Mann sah aus wie ein Rockstar. Er trug schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, war sehr muskulös und an den Armen voller Tattoos. Dazu ein Jungengesicht, das kaum zu seinem gestählten Körper passte. Martina gefiel der Kerl sogar irgendwie.

„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen, ich bin nicht wegen Ihnen hier.“

„Haben Sie eine Ahnung, wie lange man mich hier schon sitzen lässt?“

„Nein.“

„Und wie lange mir keiner mehr was zu essen gebracht hat?“

„Nein.“

Martina überlegte: Sie hatte vorgehabt, Michael in einer der Zellen zu verwahren. Da die Station aber nur wenige davon hatte, die sich alle im selben Gang befanden, kam es ihr widerlich vor, den Mann die Nacht neben Michael verbringen zu lassen.

„Ich bin sofort wieder da.“

Sie ging zurück nach oben. Ihr Büro lag im vierten Stock. Hinter den Fenstern ging die Fassade glatt herunter. Keine Chance zu klettern. Sie holte ihren Schlüsselbund hervor, schloss ab und testete die Tür. Wie üblich war sie billig und dünn, damit sperrte man niemanden ein. Aber auf dem Gang stand doch der Getränkeautomat! Sie rückte die Maschine unter gewaltiger Anstrengung neben die Tür. In der leeren Wache kam ihr der Krach, den sie damit verursachte, vor, als müsste die ganze Stadt sie hören.

Zurück im Zellentrakt, teilte sie dem Mann mit:

„Sie werden verlegt.“

„Was? Wieso verlegt? Ich sollte schon draußen sein.“

„Darüber reden wir morgen.“

Sie zog ihre Waffe und entsicherte sie.

„Ich werde sie nun rauslassen, dann gehen wir beide nach oben. Wenn Sie irgendwas versuchen, wird das Konsequenzen haben, die Ihnen nicht gefallen werden.“

„Aber ...“

„Verstanden?“

„Aber ich …“

„VERSTANDEN?“

„Schon gut. Verstanden.“

Martina öffnete die Zellentür und ließ ihn voran gehen. Sie dirigierte ihn bis in ihr Büro, nahm eine Schachtel Kekse, die sie als Notvorrat in einer Schublade aufbewahrt hatte, und warf die ihm hin. Dann zog sie auf dem Gang eine Apfelschorle, stellte die Flasche in den Raum, schloss die Tür und rückte den Getränkeautomat davor.

„Ich sehe morgen nach Ihnen“, versprach sie und beeilte sich, zurück zum Wagen zu kommen, um nach den Kindern zu sehen.

Ihre Sorge war unbegründet. Die Türen des Wagens waren verriegelt, die Geschwister schliefen auf der Rückbank, Lea im Arm ihres Bruders. Martina entschied, sie dort zu belassen und sich zuerst um Michael zu kümmern. In der Wache fand sie einen großen Aktenwagen, den sie vor der Kofferraumhaube parkte. Als sie den Kofferraum öffnete, wurde sie mit einem Fauchen belohnt.

„Na, freust Du Dich auch, mich zu sehen?“

Er stöhnte dumpf unter dem Stoffsack und versuchte, sie trotz seiner Fesseln zu erreichen. Martina versuchte ihn aus dem Kofferraum und auf den Aktenwagen zu bugsieren, doch es war aussichtslos. Er war einfach zu schwer und sein ständiges Gehampel machte es nicht leichter. Kurz überlegte sie, ihn einfach an Ort und Stelle zu lassen. Aber wie sollte sie das seiner Frau Jana erklären? Was sollte sie ihr überhaupt sagen?

Das Geräusch der Autotür schreckte sie auf. Ferdinand stieg aus dem Wagen und rieb sich das Gesicht. Martina schlug die Kofferraumhaube zu und sah ihn an.

„Na, gut geschlafen?“

Er zuckte die Achseln. „Lea schläft noch.“

„Lassen wir ihr noch eine Weile. Und Du solltest auch wieder einsteigen, ich habe hier noch was zu tun.“

Ferdinand ging ums Auto und deutete auf den Kofferraum. „Da drin ist ein Beißer, oder?“

„Er ist mein Kollege.“

„Oh.“ Ferdinand deutete auf den Aktenwagen. „Soll ich helfen?“

„Auf keinen Fall – weißt du überhaupt was du da sagst?“

„Da ist ein Infizierter im Kofferraum und Lea schläft im selben Wagen. Wir müssen schnell einen Platz zum Schlafen in der Wache finden, weil hier bald noch mehr Infizierte auftauchen könnten. Weil der Infizierte im Kofferraum Ihr Kollege ist, wollen Sie ihn mitnehmen.“

Martina starrte ihn an. „Wie alt warst Du nochmal?“

„Ich bin fast fünfzehn“, sagte Ferdinand stolz.

Was soll's, Kindheit war vor der Infektion.

„Also gut. Dann nimm seine Beine.“

Martina öffnete den Kofferraum und Ferdinand sog hörbar Luft ein.

„Wir können jederzeit abbrechen.“

„Schon ok, los jetzt.“

Er packte Michaels Beine und gemeinsam hoben sie ihn trotz heftigen Strampelns auf den Aktenwagen und Martina fixierte ihn mit Handschellen an Händen und Füßen. Unter Stöhnen und Fauchen schoben sie ihn in das Gebäude. Die Treppe hinunter zum Gefängnisbereich war nochmal ein Kraftakt, dann stand Michael endlich in seiner Zelle. Martina schickte Ferdinand zurück ins Treppenhaus, bevor sie Michaels Handschellen öffnete. Er ging sofort auf sie los. Sie verwarf den Gedanken, ihn auch von den restlichen Fesseln und dem Sack zu befreien, stieß ihn zurück und schloss ihn in der Zelle ein.

Lea war wach und hatte Angst, weil sie so plötzlich allein in einem fremden Auto saß, als sie zurückkamen. Ferdinand konnte sie jedoch schnell beruhigen. Im Ruheraum der Polizeiwache standen ein paar Liegen, zu denen Martina die Kinder führte. Danach plünderte sie den Getränke- und Süßigkeitenautomaten, trug alles zu den Geschwistern und verschloss die Tür zum Pausenraum von innen. Ferdinand und Lea fielen über Schokoriegel und Weingummis her, Martina fielen die Augen zu, sobald sie sich gesetzt hatte und sie schlief ohne einen Bissen zu essen ein.

Am nächsten Morgen wurde Martina von Leas Weinen geweckt. Ihr Bruder hielt sie im Arm und streichelte ihren Kopf. Martina wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Diese Kinder hatten letzte Nacht nicht nur ihre Eltern verloren, sondern auch ihr gesamtes Leben, ihr Weltbild, einfach alles.

Also sagte sie nur „Bin gleich wieder da.“ und verließ das Zimmer. Michael hielt sie für sicher verwahrt, daher holte sie nochmal Snacks und eine Flasche Limonade aus dem Automaten und ging nach dem Gefangenen in ihrem Büro sehen. Als sie eintrat, saß er hinter ihrem Schreibtisch und las einen Fallbericht.

„Einer Ihrer Kollegen?“, wollte Martina wissen.

Er lachte. „Nein, ein Mordfall. Ich bin nur ein kleiner Fisch.“

Martina legte Limonade und Schokoriegel auf den Tisch. „Ihr Frühstück. Warum hat man Sie eingesperrt?“

Der Mann griff zu einem Snickers und biss hinein. „Gras“, sagte er kauend, „ich habe etwas gedealt.“

„Sie sind jetzt frei.“

Er sah sie zwischen zwei Bissen an. „Frei? Um wohin zu gehen? Was zur Hölle ist da draußen los? Warum war es die ganze Nacht dunkel? Keine Laternen und so? Wo sind alle Leute? Und Autos?“

„Wie lange haben Sie dort unten gesessen?“

„Zwei Tage.“

„Oh.“

Martina berichtete ihm von der Infektion, vom Chaos in der Stadt. „Ich denke, dass sie den Strom abgedreht haben – Ausnahmezustand und so“, endete sie.

„Aber warum gibt es hier Licht?“

„Die Wache hat einen eigenen Notgenerator. Aber bestimmt haben sie die normalen Kraftwerke dicht gemacht, um keine Infizierten darin zu riskieren.“

„Wieso kommt keine Hilfe? Wo sind denn ihre Kollegen?“

„Das versuche ich rauszufinden. Kommen Sie mit, wenn Sie wollen.“

Sie öffnete die Tür und trat auf den Gang. Im Stockwerk unter ihnen befand sich die Einsatzleitstelle. Dort liefen auch Berichte und Meldungen aller Dienststellen des Landes ein. Der gefangene Dealer folgte ihr. Sie glaubte ihm, dass er nur ein kleiner Fisch war. Martina hatte viele Gewaltverbrecher erlebt und von diesem Mann hier schien keinerlei Aggression auszugehen. Trotzdem nahm sie sich vor, wachsam zu bleiben.

„Wo wir jetzt sozusagen im selben Boot sitzen – wie heißen Sie eigentlich?“

„Martina Kraft. Und wir sitzen NICHT im selben Boot. Ich teile mein Boot nicht mit Dealern.“

„Hey, es war nur ein bisschen Gras, ok!?“ Er streckte ihr seinen tätowierten Arm hin. „Ich bin Oliver Fuchs. Die meisten sagen „Olli“.“

Sie nahm seine Hand und schüttelte sie. Sein Händedruck war kräftig und warm.

Der Computer der Leitstelle war an den Notstrom angeschlossen und surrte vor sich hin. Martina loggte sich ein und überflog die aktuellsten Meldungen. Alle drehten sich um die Infektion:

Es begann mit dem Ausbruch der Infizierten vom Fabrikgelände. War das wirklich erst vorletzte Nacht? Danach gab es vor allem Meldungen zu Sichtungen von Infizierten. Ein Angriff hier, ein Opfer dort. Vergebliche Versuche, Infizierte in Gewahrsam zu nehmen. Martina scrollte weiter. Eine rot markierte Warnung informierte alle Einheiten beim Kontakt mit Infizierten gegebenenfalls von der Dienstwaffe Gebrauch zu machen. Stunden später wurde der Strom abgestellt und das Militär um Hilfe gebeten, danach gab es nichts mehr.

Martina wechselte zu den Meldungen für das gesamte Bundesgebiet. In allen größeren Städten dasselbe Bild, wenn auch etwas verspätet. Das Ruhrgebiet war sozusagen die Quelle, schien ihr. Von hier aus hatte sich die Seuche schnell über das gesamte Land ausgebreitet. Martina vergrößerte ihren Suchradius noch einmal und keuchte erschrocken: Ganz Europa schien Probleme mit Infizierten zu haben. Und in ganz Europa brachen die Polizeimeldungen nach den ersten paar hundert Sichtungen ab. Als wäre die Institution Polizei einfach stillgelegt worden. Martina saß mit offenem Mund vor dem Bildschirm und konnte es einfach nicht glauben.

„Ganz schön heftig“, kommentierte Olli.

„Du warst ja noch nicht draußen. Hast diese Dinger ja noch nicht gesehen.“

„Ich weiß langsam nicht mehr, ob ich nicht lieber wieder in meine Zelle will.“

Martina wusste, dass sie keine andere Wahl hatte: „Das geht nicht, ich brauche Deine Hilfe.“

Er sah sie fragend an.

„Ich bin nicht allein hier.“

Sie erzählte von Lea und Ferdinand, der Rettungsaktion und sogar von Michael in der Zelle.

„Und nun soll ich helfen, diese Kinder zu beschützen?“

„Wirst Du es tun?“

„Ehrlich gesagt, bin ich heilfroh, nicht allein da raus zu müssen. Aber ich muss meinen Bruder finden.“

„In Ordnung, aber vorher will ich zur Familie meines Kollegen.“

Martina klickte noch etwas herum, fand aber keine weiteren Meldungen, die irgendwas erklärt hätten. Frustriert gab sie es auf. Wie es aussah, waren sie für den Moment auf sich allein gestellt.

„Das hier hilft uns nicht weiter.“ Sie stand auf. „Komm, sehen wir nach den Kindern.“

Ferdinand beäugte Olli vorsichtig, nachdem er ihm vorgestellt wurde, Lea hatte offensichtlich Angst vor ihm. Aber Olli hatte so eine Art, mit der er schnell das Eis brach. Er witzelte herum, lachte viel und war einfach so freundlich und herzlich, dass selbst Martina ihre Wachsamkeit ihm gegenüber ein Stück weit ablegte. Dennoch wurde es langsam Zeit, dass sie weiter kamen.

Zu viert gingen sie in die Kantine und bedienten sich bei allem, was nicht verderblich war. Sie luden die Vorräte in einen neuen, vollgetankten Polizeiwagen; Martinas Wagen vom Vortag hatte kaum noch Sprit und stank nach Michael.

Ihr letzter Gang an ihrem alten Arbeitsplatz führte Martinas in die Waffenkammer. Sie packte Munition für ihre Pistole ein und bediente sich zusätzlich bei den MP5s. Die Standardausrüstung der Polizei für ernsthafte Gefechtssituationen. Sie war schon wieder an der Tür, überlegte es sich dann aber nochmal anders. Schadet nichts, etwas mehr Feuerkraft dabei zu haben. Sie öffnete einen Schrank und nahm zwei Schrotflinten und Munition heraus. Selbst ein unerfahrener Schütze würde damit einigen Schaden verursachen können, wenn er die Waffe nur in die richtige Richtung hielt und den Abzug durchzog.

Martina verstaute ihre Beute im Kofferraum. Dann fuhren sie los durch die totenstille Stadt, um Michaels Frau zu erzählen, dass ihr Mann ein Menschen fressendes Monster geworden war, das gefesselt in einer Zelle schmorte.

Infiziert : Die ersten zehn Tage

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