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Neuer Start an einem Oberstufenzentrum
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Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne ... (H. Hesse)
Ende Oktober ging es in der Schule los. ich meldete mich bei dem Abteilungsleiter der Abteilung III der Fachoberschule zum Dienstantritt. Die Schulleiterin fragte mich schon am ersten Tag, ob ich zusätzlich auch in einer anderen Abteilung Berufsschüler unterrichten wolle, was ich begrüßte, denn ich wollte ohnehin lieber eine volle Stelle haben. Somit wurde ich für 26 Unterrichtsstunden eingeplant, obwohl ich laut Vertrag nur eine Zweidrittelstelle, was zu dem Zeitpunkt 16 Stunden bedeutete, denn mit 23 Stunden hatte man eine volle Stelle, für ein Jahr hatte. Ich wurde unter anderem in einer Wiederholer-Klasse, der WW, was für Wiederholer Wirtschaft stand, die durch die Fachhochschulreifeprüfung gefallen waren und in einem Jahr erneut antreten sollten und in einigen Berufsschulklassen einer anderen Abteilung eingesetzt. Die Wiederholer sollte ich im Fach Mathematik, insbesondere in der Differenzial- und Integralrechnung sowie den Anwendungen dieser Gebiete, also in den ökonomischen Funktionen unterrichten. Diese Schüler hatten ein Jahr Unterricht gehabt, absolvierten dann ein halbjähriges Praktikum, hatten ein letztes Halbjahr Unterricht zu absolvieren, um dann die Fachhochschulreifeprüfung abzulegen, durch die sie eben gefallen waren. Außerdem sollte ich in der anderen Abteilung Berufsschüler, die eine Ausbildung zum Bürokaufmann bzw. zur Bürokauffrau angefangen hatten, im Fach Sozialkunde unterrichten sowie BVL-Schüler, BVL steht für berufsvorbereitender Lehrgang, die Ärmsten der Armen, wie die Schulleiterin sagte. Insgesamt hatte ich über dreihundert Schüler und Schülerinnen zu unterrichten. In manchen Klassen unterrichtete ich alle zwei Wochen einen Block, also neunzig Minuten, deshalb kannte ich deren Namen selbst nach einem halben Jahr noch nicht.
Ich ging mit viel Elan an die neue Aufgabe und wollte endlich wieder etwas Gutes und Sinnvolles leisten, denn vorher hatte ich eine Zeit von fünfeinhalb Jahren der Arbeitslosigkeit mit ABM, Umschulung etc. absolviert. Davor hatte ich eine erkleckliche Karriere in der Verwaltung im höheren Dienst in Berlin als EU-Referent und kurz nach dem Fall der Mauer ebenfalls als EU-Referent in der Hansestadt Rostock in meiner Vita. In Rostock hatte 2 Wochen vor meinem Dienstantritt ein Asylantenheim gebrannt, ich war dem Oberbürgermeister direkt unterstellt, dieser musste wegen des Brands zurücktreten, ich ging zurück nach Berlin.
Wir schrieben das Jahr zwanzig nach meinem Zweiten Staatsexamen für das höhere Lehramt an Gymnasien, niemand wurde damals in den Schuldienst eingestellt, auf Jahre nicht, denn das Berliner Stadtsäckel war zum wiederholten Male implodiert. Wie sagte mein damaliger Seminarleiter für Mathematik: Es ist immer wieder dasselbe, in zehn Jahren nehmen sie wieder jeden, der eine Zahl schreiben kann! Ich konnte mehr als das.
Der kommissarische Oberstufenkoordinator und auch kommissarische Fachbereichsleiter für Mathematik der Abteilung III bat mich in sein Büro mit den Worten: >>Na, Felix, komm mal rein, ich zeig dir mal was.<< Für mich klang das so, als ob er mir seine Briefmarkensammlung zeigen wollte, aber er zeigte mir stolz seine Listen der Fünfen und Sechsen, die er bei seinen Schülern in den Klausuren erzielt hatte, sein Notenschnitt im Fach Mathematik lag bei etwa fünf Komma drei, dabei fuhr er mit dem Handrücken über die Liste der Namen und Noten, gerade wie ein italienischer Stoffhändler über die edelsten Stoffmuster fährt, um die höchste Qualität dieser Stoffe zu dokumentieren, als wollte er fragen, guck mal, hab ich das nicht gut hingekriegt? Er schlug eine Seite nach der anderen auf, jedes Mal von einem Laut begleitet: ´haa, hee, mmhh ... ` Er wurde immer schneller, denn er hatte wohl Angst, er könnte es nicht mehr schaffen, mir alle seine mühsam errungenen Fünfen und Sechsen bis zum nächsten Klingeln zu zeigen. Nun sollte ich also wissen, wie an dieser Schule zu benoten sei.
Da die Schülerinnen und Schüler der Berufsschulklassen schon etwas älter waren, dachte ich, ich sollte ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst für ein Thema, das im Unterricht besprochen werden sollte, zu entscheiden. Fast ahnt man es, entschied sich die Klasse für das spannendste aller Themen, nämlich dafür, ob die Todesstrafe wieder eingeführt werden sollte oder nicht. Nun, warum nicht auch dieses Thema? Ich fürchtete allerdings, die Diskussionen könnten in die Richtung „Rübe runter“, die Argumente in die Kategorie wie man sie, so man möchte, in der Blödzeitung (oder so ähnlich) lesen kann, „totschlagen und zwar sofort“, etc. abgleiten, aber vielleicht habe ich ja die Chance, durch geschickte Steuerung des Unterrichtsverlaufs, derartiges abzuwenden. Das war mein erster großer Irrtum. Die Schüler erteilten mir eine erste Lektion Demut in Sachen Gruppendynamik. Es wurde laut, die Stimmen überschlugen sich, die ersten nahmen es mit den Formulierungen nicht mehr allzu genau, der Lehrer wurde unsichtbar und stumm, weil chancenlos durchzudringen. Einige Schülerinnen fingen an zu schreien und mir wurde die sicherlich unvermeidliche Frage gestellt: >>Was würden sie denn machen, wenn ihre Tochter oder ihre Frau vergewaltigt worden ist, würden sie dann auch so reden? Die machen doch heute auf irre, machen zwei Jahre eine Therapie auf Staatskosten und werden dann wieder freigelassen und machen dasselbe noch einmal!<< Etc. etc. . Zu fortgeschrittener Stunde schrie mich eine Schülerin an: >>Manche morden aus Geiiiilheit, Herr Gentil !! << Bei der ersten Silbe des obszönen Wortes überschlug sich ihre Stimme. Ein Schüler wollte mir wohl helfen, denn er hatte gemerkt, dass ich strikt gegen die Todesstrafe bin und meinte: >> Ich bin ja auch absolut und rigoros gegen die Todesstrafe ...<< Ich atmete auf und dachte, endlich ein Vernünftiger in der Klasse, den ich vielleicht mit meinen Argumenten auf meine Seite gebracht habe, obwohl ich es gerade ihm nicht zugetraut hatte. >>Jedoch ...<<, so fuhr er fort, >>bin auch ich im Falle eines Mordes oder der Vergewaltigung dafür, denn schließlich kostet ein Langzeithäftling sehr viel Geld, das kann man mir als Steuerzahler doch nicht zumuten.<< >>Also sind sie doch für die Todesstrafe?<< >>Nein, deshalb bin ich doch nicht für die Todesstrafe, ich sag ja nur, man muss es eben wirklich beweisen können.<< Sprachs und schüttelte den Kopf in Richtung seiner Nachbarin, fing an mit ihr zu tuscheln und grinste in meine Richtung als wollte er sich über meine fehlende Logik amüsieren.
Bald bildeten sich zwei Gruppen innerhalb der Klasse heraus, jedoch hatte ich den Eindruck, beide waren für die Todesstrafe, aber genau konnte ich das nicht mehr heraushören. Eine Schülerin schien persönliche Erfahrungen zu haben, denn sie wurde extrem emotional, vulgär und laut. >>... wenn du keinen guten Rechtsanwalt hast, kannst du einpacken, du blöde ...<< (was genau sie an dieser Stelle sagte, habe ich allerdings vergessen, wohl irgendetwas mit einem V vorne), erwiderte sie lautstark auf die Aussage einer Mitschülerin.
Mein zarter Versuch, die beiden Gruppen friedlich zu trennen, scheiterte kläglich, ich war auch nicht mehr zu hören, folglich wurde ich ignoriert. Da es immer vulgärer und lauter wurde, schlich ich mich zur Tür und warf einen Blick auf den Gang. Meine Befürchtung, vor der Tür könnte es bereits einen größeren Auflauf, zum Beispiel zusammengesetzt aus dem Schulrat, den man eilig als Zeugen herbeigerufen haben könnte, der Schulleiterin, dem Abteilungsleiter und anderen Honoratioren, die unserer kleinen Diskussion mehr oder minder entsetzt begeistert lauschten, gebildet haben, bestätigte sich zum Glück nicht, der Gang war wie leergefegt und totenstill.
Weiter ging es: >>Die kommen nach zwei Jahren aus dem Gefängnis raus und vergehen sich an kleinen Kindern!<<. >>Das ist doch aber kein Argument für die Todesstrafe, wenn sie der Meinung sind, dass diese Täter zu früh entlassen werden, dann fordern sie doch die Abschaffung vorzeitiger Entlassungen<<, versuchte ich mich erneut ins Spiel zu bringen – es half nichts, ich hatte gleich dem Zauberlehrling den Besen zum Tanzen gebracht und schaffte es nun nicht mehr, ihn wieder in die Ecke, also zur Ruhe zu bringen.
Wie bei einem angeschlagenen Boxer, so rettete auch mich der Gong, an dieser Schule gab es keine Klingel, sondern einen Gong zum Stundenende. Meine Kenntnisse der Unterrichtsführung und -steuerung, wie ich es im Referendariat gelernt oder wahrscheinlich eben doch nicht gelernt hatte, waren offen-sichtlich nicht mehr vorhanden, meine Unterrichtserfahrungen lagen ja auch schon 20 Jahre zurück. Es war nicht möglich, diesen jungen Menschen klarzumachen, dass zum Beispiel Geld niemals dafür entscheidend sein darf, ob ein Mensch leben darf oder nicht, somit das Argument, die kosten doch bloß Geld, warum soll man einen Mörder jahrelang durchfüttern, keine Relevanz haben darf. Mein Eindruck war, ich hatte völlig bornierte Menschen vor mir sitzen, die auch logischen Argumenten nicht zugänglich waren. War ich so alt geworden, hatte ich mich in den letzten zwanzig Jahren so weit von den jungen Menschen entfernt? Für die Schülerinnen und Schüler schien klar zu sein, jeder, der eine andere Ansicht zum Thema Todesstrafe hatte als sie, würde lediglich die Täter verteidigen und die Opfer verhöhnen. Wie sollte das aussehen, wenn wir über Themen wie Sozialhilfe, Hartz IV oder dergleichen reden, gerade in einer Berufsschulklasse, in der überwiegend Mädchen sitzen, die später vielleicht alleinerziehend sein werden, also zu der Bevölkerungsgruppe zählen werden, die von diesen Sozialtransferleistungen am häufigsten betroffen sind, was wird wohl sein, wenn sie erfahren, dass ich zwei Wochen vorher auch noch arbeitslos war?
Wenig später war es natürlich auch so, viele Schülerinnen und Schüler ließen ihre sehr einfachen Ansichten los. Sozialhilfe wird sowieso nur versoffen, etc. . >>Sehen sie sich doch die Penner an, die versaufen doch ihr ganzes Geld, das soll ich von meinen Steuergeldern bezahlen ...?<<
Wenn man derartiges lange genug mitangehört hat, kann man es irgendwann nicht mehr hören. Vom Stammtisch kann man sich entfernen, wenn es die eigenen psychischen Kräfte übersteigt, den Klassenraum kann man nicht einfach verlassen, um sich dem zu entziehen. Überzeugen konnte ich diese Schüler jedenfalls nicht.
Da ich natürlich Noten für die Schüler brauchte, ließ ich in einer der nächsten Stunden über dieses spannende Thema `Wiedereinführung der Todesstrafe` einen Test schreiben. Ich verteilte einen Text mit der Überschrift: `Den falschen gehenkt`, die Schüler sollten Stellung nehmen. >>Dürfen wir auch für die Todesstrafe schreiben?<< Fragte mich ein Schüler. >>Natürlich dürfen sie das, ich werde nicht ihre Meinungen bewerten, sondern ihre Argumente, mit denen sie ihre Meinungen untermauern.<< Die Schüler schrieben den Test und zuhause machte ich mich sogleich dran, diese Arbeiten zu korrigieren, ich war gespannt ...
Mich packte das kalte Entsetzen, denn was ich las war noch furchtbarer als das, was ich im Unterricht zu hören bekam. Die meisten Schüler waren aus Brandenburg, und in der ehemaligen DDR gab es die Todesstrafe noch, wenngleich sie nicht mehr angewendet wurde. Wie zu erwarten, fiel dieser Test katastrophal aus.
Zwei Tage später hatte ich einen Zettel in meinem Fach mit der Bitte um Rücksprache, unterschrieben von der Schulleiterin. Ich ging zu ihr und fragte, worum es ginge, sie gab mir wortlos einen Brief von einer empörten Mutter aus Brandenburg, die sich nicht erst an mich, sondern sofort an die Schulleiterin gewandt hatte. In diesem Brief hieß es:
Sehr geehrte Frau ...,
Ich möchte hiermit mein Unverständnis ausdrücken und bezweifle, dass für dieses sensible und sehr umstrittene Thema eine objektive Benotung vorgenommen werden konnte und bitte diesbezüglich um Stellungnahme oder Streichung der Note, zumal die Lehrkraft im Vorfeld bereits seine individuelle Meinung der Klasse kund tat und diesbezüglich schon in der Klasse Diskussionen auftraten, dass bei „seiner Meinung“ die Benotung bei einer konträren Ansicht in keinem Fall positiv ausfallen würde.
Dies hat sich nun bestätigt. Im Übrigen habe ich den relevanten Kommentar des Lehrers angestrichen, den ich zum einen unverschämt und unqualifiziert finde zum anderen äußerst unsensibel. Was ist, wenn in einer Familie Ihrer Schüler bereits ein solches Gewaltverbrechen geschehen ist und dieses die Einstellung über die Todesstrafe geprägt hat? Der Lehrer scheint entweder noch sehr lebensunerfahren oder sehr blauäugig zu sein.
Ich finde Diskussionsrunden über derartige Themen richtig und wichtig, aber bitte ohne Benotung, da die Ansichten hierüber immer nur subjektiver Art sein können.
Im Übrigen ist meine Tochter mit Sicherheit etwas am Thema vorbeigeglitten, dies will ich gern zugestehen, aber ich bin ebenfalls der Meinung, dass unter besonderen Umständen und in Einheit mit der völligen Nachweisbarkeit des Verbrechens, die Todesstrafe wieder eingeführt wird.
Mit freundlichen Grüßen ...
Flugs wurde der Fachbereichsleiter hinzugezogen, der sich fast außer Atem sogleich dranmachte, die Arbeit der Schülerin und den Brief der Mutter durchzulesen und kam sofort zu dem Schluss: Die Mutter hat Recht, das ist eine Unverschämtheit, dieser Satz, den sie dran geschrieben haben.
Dieser so heftig kritisierte Satz, den ich an die Arbeit der Schülerin geschrieben hatte, lautete: `Hoffentlich geschieht ihnen nicht einmal ein solches Unrecht`. Vielleicht war dieser Satz ja überflüssig, aber ich hatte mich darüber geärgert, dass die Schülerin den Fall, wie er in dem Text geschildert worden war, nämlich dass ein falscher gehenkt worden war, mit den Worten abgehandelt hatte: Dies sei eben ein peinlich makabrer Irrtum und man hätte eben nicht genug geprüft. Dieser Satz bezog sich also nicht auf ein Verbrechen, das der Schülerin hoffentlich niemals zustoßen sollte, sondern auf ein richterliches Fehlurteil. Ich wurde von der Schulleiterin aufgefordert, schriftlich Stellung zu beziehen und der Mutter zu antworten.
Sofort setzte ich mich zu hause hin und schrieb der Mutter eine Antwort auf ihren Beschwerdebrief:
Sehr geehrte Frau ...,
Ihre Behauptung, ich hätte der Klasse bereits im Vorfeld meine individuelle Meinung kundgetan, und deshalb sei eine objektive Beurteilung durch mich nicht gewährleistet gewesen, ist mit folgender Begründung falsch:
Ich habe den Schülern und Schülerinnen bestimmt fünfmal unmissverständlich dargelegt, dass mich die Meinung, die in der jeweiligen Arbeit zum Ausdruck kommt, bei der Ermittlung der Zensur nicht beeinflussen wird. Es geht nur und ausschließlich um die Argumente und die Untermauerung derselben, egal ob für oder gegen die Todesstrafe. Außerdem habe ich nachweislich gute und sogar sehr gute Noten für Arbeiten von Schülern oder Schülerinnen vergeben, die sich für die Todesstrafe ausgesprochen haben und umgekehrt – schlechte Noten trotz Ablehnung der Todesstrafe. Sie können es mir zutrauen, dass ich während des Referendariats gelernt habe, dass nicht die Meinung zählt, sondern die Argumentation dafür.
Ein Herstellen des Bezugs zu dem von mir vorgelegten Text kann ich nicht erkennen. Da Ihre Tochter nicht ein einziges Argument gegen die Todesstrafe genannt hat, kann von einer Gegenüberstellung der Argumente (Diskussion) nicht die Rede sein. Es bleibt nur der Punkt: Eigene Stellungnahme und Argumentation dafür. Die Argumente, die Ihre Tochter angeführt hat, sind in der Diskussion während des Unterrichts sehr deutlich entkräftet worden.
Um Ihrer Tochter auch nur ein „ausreichend minus“ geben zu können, hätte sie von den 60 möglichen Punkten laut Tabelle 30 Punkte erzielen müssen, dieses erscheint mir ungerechtfertigt.
Dass Ihre Tochter am Thema vorbeigeglitten ist, wie Sie es selbst formulieren, entspricht den Tatsachen, jedoch nicht, wie Sie meinen, weil sie sich für die Todesstrafe ausgesprochen hat, sondern wegen der oben angeführten Defizite, die ich in der Arbeit Ihrer Tochter feststellen musste.
Dieses Thema ist nicht so umstritten, wie Sie vermuten oder sogar behaupten, denn bereits 1949 haben die Väter unseres Grundgesetzes mit Schaffung des Artikels 103 GG die Todesstrafe für abgeschafft erklärt, außerdem gibt es kein einziges europäisches Land der EU, in dem die Todesstrafe noch existiert. In allen Kulturen des christlichen Abendlandes ist man zu der Erkenntnis gekommen: Du sollst nicht töten! Warum sollte dieser Grundsatz für einen Scharfrichter oder einen Richter nicht gelten, nur weil er Jura studiert hat?
Es gibt keine volle (100%) Nachweisbarkeit für eine Tat, selbst wenn es diese gäbe, wäre dennoch nicht mit vollkommener Sicherheit die Schuld eines Täters ermittelt noch ermittelbar, so dass ein nicht wieder rückgängig zu machendes Todesurteil berechtigt wäre. Man denke an fingierte „Beweise“, die jemand am Tatort hinterlässt und somit die Justiz bewusst auf die Spur eines Unschuldigen lenkt. Selbst Gentests sind wegen möglicher Fehler nicht anerkannt. Auch im Falle eines Geständnisses ist kein hundertprozentiger Beweis erbracht, denn es hat schon oft wegen psychischen Drucks Geständnisse gegeben, die später widerlegt wurden!
All dies ist im Unterricht besprochen und diskutiert worden – übrigens auch von anderen Schülern so beurteilt und nicht etwa von mir so „festgelegt“ worden! Mein Kommentar, den ich unter die Arbeit Ihrer Tochter geschrieben habe: „Hoffentlich geschieht Ihnen nie ein solches Unrecht“, bezog sich darauf, dass Ihre Tochter, trotz des von mir verteilten Textes, der von einem Justizirrtum berichtet, eben einen solchen Justizirrtum mit den Worten „peinlich und makaber“ offenbar billigend in Kauf nimmt, also das wohl schlimmste Unrecht, das einem Menschen widerfahren kann, duldet. Ihre Tochter hat die schlechte Zensur von mir nicht wegen ihrer Meinung bekommen, sondern wegen der fehlenden Ernsthaftigkeit, mit der Ihre Tochter dieses, wie Sie zu Recht schreiben, sensible Thema, behandelt hat.
Um Ihre Tochter nicht zu entmutigen und um sie anzuspornen, habe ich ihr ein „ausreichend“ auf dem Zeugnis gegeben, was ich aus pädagogischen Gründen für vertretbar halte.
Zu Ihrer Aussage, ich sei lebensunerfahren und/oder blauäugig:
Dass ein direkt oder indirekt Betroffener über die Todesstrafe anders denkt als eine neutrale Person, ist selbstverständlich. Auch diesen Aspekt habe ich im Unterricht anhand des folgenden Beispiels dargelegt: Eine Richterin, die vergewaltigt wurde, wird wegen Befangenheit niemals über ihren Peiniger richten dürfen. Trotzdem noch einmal: Nicht die Meinung, sondern die Argumente, die die Meinung untermauern, zählen. Was meine Sensibilität angeht, möchte ich die Frage stellen: Was ist, wenn jemand lange Zeit unschuldig im Gefängnis saß, und derartig oberflächliche Forderungen nach der Todesstrafe bei gleichzeitiger flapsiger Ignoranz eines derartigen Unrechts liest? Und was ist mit den Familienangehörigen eines schuldig oder sogar unschuldig Hingerichteten? Diese werden automatisch mitbestraft! Demnach müsste man jede noch so undifferenzierte und unreflektierte Meinung akzeptieren, denn diese Meinung könnte in jedem Falle durch persönliche Erfahrung beeinflusst worden sein. Kurz: bevor man jemanden unsensibel nennt, sollte man sich selbst diesbezüglich prüfen.
Als fünfzigjähriger Mann verfüge ich über die Gelassenheit, um über Ihre Äußerung, ich sei unverschämt, lebensunerfahren oder sehr blauäugig, großzügig hinwegzusehen.
Ihr kleiner Hinweis, dass Ansichten über die Todesstrafe immer nur subjektiver Art sein können, deshalb eine Benotung bitte unterbleiben sollte, nehme ich gern als Ihre Meinung zur Kenntnis, muss aber dazu anmerken, dass Ansichten, egal zu welchem Thema, immer subjektiv sind. Das „Training“, subjektive Ansichten mit Argumenten zu untermauern, ist eine Aufgabe des Sozialkundeunterrichts. Ob ich in Zukunft Arbeiten zu diesem Thema benoten werde oder nicht, wollen Sie bitte mir überlassen.
Mit freundlichem Gruß ...
Dieser Brief ging über die Schulleiterin sofort zum Fachbereichsleiter, der nun plötzlich nicht mehr der Ansicht war, dass mein Satz, den ich der Schülerin an die Arbeit geschrieben hatte, unverschämt sei, denn er suchte mich im Lehrerzimmer auf und sagte: >>Ja, ich glaube, das ist wasserdicht, da kann die Mutter nichts gegen sagen, ihr Antwortschreiben ist sehr gut, ich glaube, davon hören wir nichts mehr.<<
So war es auch, allerdings fiel mir einmal mehr auf, dass die Angst, etwas könnte nicht „wasserdicht“ sein, bei Lehrern weit verbreitet ist.
Als ich nach etwa zwei Monaten in der Klasse WW die erste Klassenarbeit im Fach Mathematik schreiben ließ, erzielte ich einen Durchschnitt von zweikommasechs. Es ist an allen Schulen so üblich, dass jeder Lehrer eine gute, eine mittlere und eine schlechte Arbeit beim Fachbereichsleiter einreichen muss, was ich auch tat. Dieser Notenschnitt der WW wirkte etwa so, als ob ich ihm, den kommissarischen Fachbereichsleiter, einen Tritt ins Gemächt verpasst hätte. Er rief mich in sein Büro, ließ sich alle Arbeiten von mir vorlegen und überarbeitete meine Korrekturen noch einmal. Danach zeigte er mir, wie eine Klausur seiner Ansicht nach zu korrigieren sei und sagte, dass der Notenschnitt mit seinem Korrektursystem sicherlich locker auf vierkommaacht zu bringen sei.
Nachdem ich die Klausuren noch einmal überarbeitet hatte, es waren sicherlich auch einige Kleinigkeiten zu kritisieren, meine letzten Korrekturen im Fach Mathematik lagen zwanzig Jahre zurück, hatte ich einen Notenschnitt von zweikommaacht. Die Schüler der WW waren bitter enttäuscht, nicht nur wegen der schlechteren Noten, sondern auch von mir, weil ich mich so habe belatschern lassen. Vielleicht hatten die Schüler recht, aber ich glaubte auch, der kommissarische Fachbereichsleiter würde sich in Zukunft in jedem Falle alle Klassenarbeiten geben lassen, um diese zu kontrollieren, deshalb sollte er ruhig das erste Mal seine Duftmarken setzen, wenn er mich danach in Ruhe lässt, ist ja alles in Ordnung. Hinzu kam, dass ich mich partout nicht wieder mit Vorgesetzten anlegen wollte, denn ich war wieder in der Probezeit, hatte zudem nur einen Vertrag für ein Jahr und vertraglich nur eine Stelle mit Zweidritteln der Stundenzahl.
Es ist auch seltsam, dass Schüler und Schülerinnen glauben, der Lehrer müsse sich bedingungslos für sie einsetzen, obwohl sie sich wiederum oft genug so verhalten, dass es alle Grenzwerte überschreitet. Einige kleine Beispiele dazu sollen erwähnt sein:
Weil die Wände der Klassenräume sehr verschmutzt waren, wurde an der Schule verabredet, dass an einem Tag für die Renovierung der Klassenräume kein Unterricht stattfindet. Die Wandfarbe wurde von der Schule besorgt, die Schüler sollten in Eigeninitiative die Wände rollen, was sie auch ohne zu klagen hinnahmen, denn dafür fiel der Unterricht aus. Man sollte meinen, Renovierungen von Schulen sollten nicht von den Schülern durchgeführt werden, sondern von der Schulbehörde beauftragt und von einer Malerfirma durchgeführt werden. Aber Berlin war wieder pleite. Nach etwa zwanzig Minuten stellte ich fest, dass die Hälfte der Schüler meiner Klasse WW fehlte. Folglich ging ich auf die Suche nach diesen Schülern und fand sie auch draußen auf dem Rasen liegend. Als sie mich kommen sahen, sprangen sie auf und kamen mir entgegen, jeder von ihnen hielt eine Dose Bier in der Hand und sie riefen mir zu: >>Wir kommen gleich, wir haben nur eine kleine Pause eingelegt!<< Ich sagte sehr deutlich, dass Alkoholgenuss in der Schule verboten sei, woraufhin sie die Bierdosen schnell hinter dem Rücken versteckten, als ob ich sie noch nicht gesehen hätte.
Mittwochs unterrichtete ich in der achten Stunde in dieser Klasse, was jedoch meistens ein sinnloses Unterfangen war, denn oft schwänzten einige Schüler in der Stunde davor den Unterricht und rauchten Haschisch, was dazu führte, dass sie in der Mathematikstunde nur noch herumalberten oder völlig weggetreten vor sich hin dösten. In beiden Fällen, sowohl beim Alkoholgenuss als auch beim Konsum anderer Drogen während der Schulzeit hätten einige der Schüler, wenn ich diese zu einem Drogentest geschickt hätte, sofort die Schule verlassen müssen. Eigentlich wäre es meine Pflicht gewesen, einen solchen Test zu veranlassen, ich habe es nicht getan, was die Schüler und Schülerinnen als Schwäche des Lehrers Gentil auslegten. Die Schüler aber erwarteten, dass ich mich gegenüber dem kommissarischen Fachbereichsleiter sowie der gesamten Schulleitung zu ihren Gunsten durchsetze und mich für sie stark mache, mich mit der gesamten Schulleitung, unter deren Regie ich die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre an dieser Schule arbeiten wollte, zu ihren Gunsten überwerfe, obwohl sich diese Schüler mir gegenüber wie die Axt im Walde benahmen und in spätestens neun Monaten die Schule verlassen werden. Es war diesen Schülern auch völlig egal, ob sie noch einmal durch die Prüfung fallen oder nicht, ein erneutes Wiederholen hätte es nicht gegeben.
Viele Schüler, die an diesem Oberstufenzentrum unterrichtet wurden, kamen von einem Gymnasium und mussten dieses nach dem mittleren Schulabschluss verlassen. Oft wurden diese Schüler von den Eltern zuerst in die Abteilung vier des Oberstufenzentrums geschickt, also in die gymnasiale Oberstufe, wenn sich das Probehalbjahr auch dort als unüberwindliche Hürde herausstellte, kamen sie zu uns in die Abteilung drei, also in die Fachoberschule, damit das Söhnchen oder Töchterchen aus gutem Hause doch noch studieren kann. Einer aus dieser Spezies, dessen Eltern, wie ich später erfuhr, beide Rechtsanwälte mit eigener Kanzlei waren, saß direkt vor mir, Kaugummi kauend, das Baseballkäppi auf dem Kopf und schwatzte mit seinem Nachbarn. Ich bat ihn in höflichem Ton, den Kaugummi herauszunehmen und die Mütze herunter zu nehmen. Nach einigem Hin und Her, wieso und weshalb oder: >>was stört sie daran?<< tat er dies auch und sagte zu seinem Nachbarn: >> So ein Arsch ey.<< >>Diesen Ton wollen wir hier nicht an dieser Schule, sagte ich, gehen sie bitte zum Abteilungsleiter und sagen sie ihm, dass ich sie wegen Beleidigung des Raumes verwiesen habe.<< Der Abteilungsleiter hatte ausdrücklich darum gebeten, Problemschüler zu ihm zu schicken.
Nach der Stunde kam dieser Schüler sehr zügig auf mich zu, die Mütze auf dem Kopf, den Kaugummi wieder im Mund und rief mir von weitem beim Gehen zu: >>Was habe ich vom Abteilungsleiter gehört, sie haben sich über mich beschwert?<<
Diese so gestellte Frage klang fast so, als sei er erstaunt darüber. Ich forderte ihn erneut auf, die Mütze herunter zunehmen und den Kaugummi herauszunehmen, wenn er mit mir spricht, da er anscheinend nichts aus seinem schlechten Benehmen lernt, lehne ich es ab, mit ihm weiter zu reden und ging ins Lehrerzimmer. >>Sie können mich doch nicht einfach so stehenlassen!<<, rief er mir empört hinterher. Doch, konnte ich!
Später wurde wegen dieses Schülers eine Klassenkonferenz einberufen, denn ich war bestimmt der fünfte Lehrer, der sich von diesem Schüler beleidigen lassen musste. Dieser Schüler bekam einen schriftlichen Tadel, was für ihn allerdings keinerlei negative Konsequenz hatte, geändert hat er sein Verhalten nie.
Eine Kollegin, sie war aus der ehemaligen DDR, wurde sofort verbeamtet. Mein Staatsexamen lag zwanzig Jahre zurück, niemand wurde damals eingestellt, später ging ich in den Osten unseres Landes, um die Verwaltung mit aufzubauen, dabei verlor ich meinen Job und war über fünf Jahre arbeitslos, um nun endlich im Schuldienst als für zu alt für die Verbeamtung eingestuft zu werden. Schüler baten mich, ich solle ihr Nachhilfeunterricht erteilen, denn sie hätte von Mathematik keine Ahnung. Im Lehrerzimmer sagte sie: >>Stalin hat een Fehler jemacht damals bei de Berlinblockade, als er den Amerikanern nachjejeben hat, er hätte hart bleiben sollen damals.<<
In einem anderen Gespräch sagte sie: >>Ick war in der DDR Leistungssportlerin jewesen und bin ohne meen Wissen jedopt worden. It jeht ma von Zeit zu Zeit sehr schlecht, denn muss ick mindestens eenmal im Jahr ne Kur machen.<<
Über solche Äußerungen war ich empört, denn sie hält Stalin für einen menschenfreundlichen Politiker, den sie anscheinend verteidigte, wurde vom System der DDR ausgenutzt und die Kuren, die für sie aus gesundheitlichen Gründen notwendig wurden, bezahlen die Menschen der Bundesrepublik, zudem kommt sie in eine unkündbare Situation inklusive einer Pensionsberechtigung. Für sie war die Bundesrepublik die DDR light - Version, allerdings durfte man die Bundesrepublik beschimpfen wie man wollte, was man in der DDR nicht durfte. Dass sie auf das Grundgesetz der Bundesrepublik einen Eid abgelegt hatte, schien sie vergessen zu haben.
Während der Prüfung der Anwesenheit in einer Klasse hörte ich einen türkischen Jungen zu einem Mädchen sagen: >>Halt doch das Maul, du blöde ( )otze!<< (der erste Buchstabe ist für den Leser). >>Gehen sie zum Abteilungsleiter, sagen sie ihm, dass ich sie wegen Beleidigung einer Mitschülerin zu ihm geschickt habe, und sagen sie ihm auch, was sie gesagt haben.<< Nach der Stunde fragte ich den Abteilungsleiter, ob sich der Schüler bei ihm gemeldet hätte. >>Ja, hat er, ich habe bei ihm zu hause angerufen, um den Eltern mitzuteilen, was vorgefallen ist. Die Mutter war am Apparat, allerdings konnte sie kein Wort Deutsch, daraufhin wurde die Tochter ans Telefon gerufen, um zu übersetzen. Ich erzählte ihr alles und bat sie darum, es den Eltern zu übersetzen, jedoch weigerte sich die Tochter, dieses den Eltern zu übersetzen. Sie sagte, Bei uns werden die Jungens nicht gemaßregelt! Damit war das Gespräch zu ende.<< Der Abteilungsleiter kam später ganz aufgeregt ins Lehrerzimmer und berichtete von seinem Gespräch mit diesem Schüler. Er sagt, für ihn seien Mädchen eben nichts, man könne sie auch nicht beleidigen, denn eigentlich seien sie gar nicht existent, ja wenn überhaupt, dann seien Mädchen einfach Dreck für ihn, daran werde sich für ihn auch nichts mehr ändern. So etwas sagt ein siebzehnjähriger Schüler, der wahrscheinlich in Berlin geboren wurde, der eine Schwester hat, der hier in Berlin eine Realschule besucht hat und nun die Fachhochschulreife erlangen möchte, um danach zu studieren, kurz: Das sagt ein junger Mann, von dem man meinen sollte, dass er gut integriert ist, der auch ordentlich Deutsch spricht, die Werte des Christlichen Abendlandes kennengelernt hat, aber seinen kulturellen Hintergrund niemals aufgeben wird, weil er es aus familiären Gründen einfach gar nicht darf. Mit der Fachhochschulreifeprüfung soll dieser junge Mann eben eine Reifeprüfung ablegen. Ich würde einem Menschen, der ein derart verschrobenes und mieses Bild vom anderen Geschlecht, selbst von seiner eigenen Mutter oder Schwester hat, die Reife absprechen. Als Lehrer ist man allerdings verpflichtet, solchen Schülern gegenüber neutral, offen und höflich zu reagieren, man ist verpflichtet, derartige Informationen, die man nun einmal über diesen Schüler hat, völlig außer Acht zu lassen, Neutralität walten zu lassen. Daran verzweifeln viele Lehrer und Lehrerinnen. Man denke insbesondere an Grund- Haupt- und Realschullehrerinnen, die wie Prostituierte behandelt und beleidigt, manchmal sogar von Dreizehnjährigen angegrabscht werden, nur weil sie einen Minirock tragen oder weil sie im Sommer in einem dünnen Trägerhemd in die Schule kommen. Wie können Schüler mit einer solchen Erziehung Respekt vor Lehrerinnen haben?
In der Zwischenzeit wurde der kommissarische Oberstufenkoordinator offiziell in seinem Amt bestätigt, er bekam nun eine A-15- Besoldung und war unkündbar auf Lebenszeit, außerdem brauchte er nur noch eine stark reduzierte Stundenzahl zu unterrichten. Wegen dieses Anlasses gab es einen kleinen Umtrunk im Lehrerzimmer. Ich gratulierte ihm und er sagte nur dreimal hintereinander: >>Mir kann jetzt nichts mehr passieren, Felix, mir kann jetzt nichts mehr passieren, mir kann jetzt nichts mehr passieren.<<
So ganz klar war mir nicht, was er mit `passieren` meinte, jedoch schien es mir unangebracht, jetzt danach zu fragen. Dass er und nicht ein anderer Kollege diese Stelle bekommen hatte, lag daran, dass wir, das Kollegium, ihn mehrheitlich gewählt hatten. Die meisten von uns waren der Meinung, dass, wenn er es schon viele Jahre vorher kommissarisch gemacht hat, er die Stelle auch kriegen sollte. Viele Kollegen bedauerten es im Nachhinein, sich so entschieden zu haben, denn es dauerte nur wenige Wochen, bis dieser Mensch die Maske regelrecht herunterriss und den Hardliner herauskehrte. Es wurde von Monat zu Monat schlimmer, er wurde immer unsympathischer in seinem Verhalten den meisten Kollegen gegenüber. Man konnte darauf warten, wenn es gerade zur Stunde geklingelt hatte, erschien dieser Mensch aus dem gegenüberliegenden Raucherlehrerzimmer, er war in den letzten sechs Monaten zum starken Raucher geworden, riss die Tür auf und brüllte in das Lehrerzimmer: >>Herrrschaften, es hat geklingelt!!<< Obwohl es nicht zu seinen Aufgaben gehörte, sich um derartige Dinge zu kümmern. Da er als Schreiber der Stundenpläne auch die Klassenraumaufteilung unter sich hatte, beides gehörte ja zusammen, legte er seinen Klassenraum, in dem er unterrichtete, immer so, dass er bei geöffneter Tür die Treppe im Auge hatte und somit immer sehen konnte, ob ein Kollege oder eine Kollegin zu spät in den Klassenraum ging. Es muss anstrengend für ihn gewesen sein, der arme Kerl, denn er musste das sich selbst verschriebene ehrgeizige Programm durchhalten, die Klasse und die Treppe im Auge behalten und kontrollieren.
Laut Schulgesetz darf es nicht sein, dass ein sogenannter Funktionsträger, der zur Schulleitung zählt, mit einer Kollegin in derselben Abteilung arbeitet, wenn er mit dieser verheiratet ist. Um dieses Problem zu umgehen, also zu vermeiden, dass seine Frau in eine andere Abteilung musste, bewahrten beide Stillschweigen über die Hochzeit und behielten ihre Namen bei. Wen wundert es, unterrichtete diese Kollegin auch nur noch bei offenstehender Klassenzimmertür, jedoch gegenüber dem anderen Aufgang. Übrigens gab es drei Aufgänge, aber Bigamie war schon damals verboten.
Später erfuhr ich, dass seine Frau eine hochdotierte Stelle in der Schulverwaltung erhalten hatte, die Stellenausschreibung hatte aber niemand in der Schule gesehen, obwohl diese für alle Kollegen sichtbar hätte aushängen müssen.
Bei seiner Kontrolle gegenüber den Kollegen war der Koordinator sehr akribisch, selbst wenn es sich um Dinge handelte, die ihn als Koordinator gar nichts angingen, er sich diese aber einfach anmaßte, niemand hätte sich gewagt, ihn deshalb zu kritisieren, denn der nächste Stundenplan kommt bestimmt, außerdem wusste er natürlich, dass der Abteilungsleiter hinter ihm stand, was die Kontrolle des Kollegiums anging. Er war es, der von allen Kollegen verlangte, zwei Klausuren pro Halbjahr schreiben zu lassen, selbst im Prüfungshalbjahr, in dem ja auch die Abschlussklausur sowohl von den Schülern geschrieben, als auch von den Lehrern korrigiert werden mussten, wogegen nichts zu sagen ist, denn das fällt sicherlich in sein Aufgabengebiet, jedoch versteht es sich von selbst, dass er sich dann auch selbst daran zu halten hat. Ich habe jedenfalls nur noch eine Klausur im Prüfungshalbjahr schreiben lassen, seit sich eine Schülerin „verplapperte“ und sagte, Wir schreiben in Mathe doch auch nur eine Klausur. Man, das sollten wir doch nicht sagen, sondern für uns behalten! Fuhr ein Mitschüler ihr in die Parade. In dieser Klasse unterrichtete der Koordinator Mathematik. Vielleicht hatte er selbst keine Lust, die zweite Klausur zu korrigieren?
Ähnlich verhielt er sich auch in Bezug auf die Hausordnung. Diese sah im gesamten Schulgebäude und dem Schulgelände ein striktes Rauchverbot vor. Geraucht werden durfte nur außerhalb des Schulgeländes. Die Lehrer waren aufgefordert, darauf zu achten, dass kein Schüler diese Regel der Hausordnung verletzt, es sollte sogar streng bis zum Schulverweis geahndet werden. Dieses galt anscheinend für den Koordinator nicht, denn er rauchte am offenen Fenster des Lehrerzimmers oder zündete sich noch auf dem Schulhof seine Zigarette an. Natürlich ist das eine Nichtigkeit, jedoch wie können die Lehrer und Lehrerinnen von den Schülern die Einhaltung der Hausordnung verlangen, wenn sich Mitglieder der Schulleitung selber nicht daran halten? Einem Kollegen erging es so, dass er einen Schüler höflich darum bitten wollte, die Zigarette, die der sich eben noch auf dem Schulgelände angezündet hatte, erst vor dem Schulhoftor anzuzünden, jedoch reagierte dieser Schüler mit den Worten: >>Mensch, fick dich alter!<<, zeigte ihm den Stinkefinger und ging weiter. Der Kollege daraufhin: >>Bleiben sie doch einmal stehen und lassen sie mit sich reden.<< Der Schüler: >>Du kannst eine paar auf die Fresse bekommen, wollen wir mal eben hinter das Haus gehen?<<
Dieser Kollege berichtete, dass er daraufhin eine ganze Woche nicht schlafen konnte, so habe ihn dieses Verhalten des Schülers aufgebracht. Er hatte das Glück, dass zufällig ein anderer Kollege als Zeuge dazu kam, so dass er wenigstens der Beweispflicht nicht nachzukommen brauchte, gebracht hat ihm das allerdings auch nichts. Die Lehrer und Lehrerinnen sollen sich mit derartigen Flegeln herumärgern, sich vielleicht noch von ihnen bedrohen lassen, nur um die Hausordnung zu verteidigen wie eine Löwenmutti ihre Jungen, aber der Koordinator hält sich nicht daran und qualmt schon auf dem Hof, obwohl er dann lautstark die Kollegen auffordert, dafür zu sorgen, dass die Hausordnung eingehalten wird.
Es stimmt zwar, auch ihm hatte man von der Senatsschulverwaltung übel mitgespielt, man hatte ihn jahrelang die Arbeit als Koordinator kommissarisch verrichten lassen, bis man ihm dann endlich, nachdem die Kollegen der Abteilung drei darüber abstimmen mussten, offiziell in dieses Amt berief, jedoch: Musste er diesen Frust, den er vielleicht deshalb hatte, an uns, den Kollegen, auslassen?
Da das Fach Mathematik an diesem Oberstufenzentrum für die meisten Schüler ein Horrorfach war, gab es auch selten Klassen, die mit dem Mathematiklehrer wirklich zufrieden waren, denn es ist nun einmal üblich bei Schülern, bei eigener Leistungsschwäche den Lehrer dafür verantwortlich zu machen. Es war auch sicherlich ein enormes Pensum für die Schülerinnen und Schüler, große Teile der Differenzial- und Integralrechnung und die Anwendungen auf die Ökonomischen Funktionen und auf Extremwertaufgaben in den anderthalb Jahren zu bewältigen. Deshalb war es wichtig, dass die Schüler und Schülerinnen sich möglichst an einen Lehrer oder eine Lehrerin gewöhnten. In einer Klasse hatte ich sehr nette Schülerinnen und Schüler, eine gute Kommunikation und auch ordentliche Leistungen der Klasse. Vor den Klausuren trafen sich die Schülerinnen und Schüler am Nachmittag im Klassenraum und rechneten Aufgaben, ich kam später dazu, um Fragen zu beantworten. Die Klasse mochte mich, auch ich freute mich auf den Unterricht in dieser Klasse. Am Ende des Schuljahres setzte sich die Klasse hin und schrieb einen Brief an den Oberstufenkoordinator mit der Bitte, im letzten Halbjahr nach dem Praktikum wieder bei dem Lehrer Gentil Mathematikunterricht haben zu können, allerdings war mir von diesem Brief nichts bekannt. Zwei Monate vor dem Beginn des neuen Schulhalbjahres fragte ich den Koordinator, ob er mir diese Klasse wieder zuteilen könne. >>Ja, das lässt sich bestimmt machen, denn die Klasse war auch mit dir zufrieden und hat dies schriftlich zum Ausdruck gebracht.<< Ich freute mich darüber, auch auf das Wiedersehen mit der Klasse nach deren Praktikum.
Zwei Monate später sollte es losgehen. Als ich meinen Stundenplan aus dem Fach holte, suchte ich vergeblich den Eintrag darin, der mir diese Klasse zuordnete. Auf meine Frage, weshalb denn diese Klasse nicht in meinem Stundenplan aufgeführt sei, bekam ich lapidar zur Antwort: >>Ja, das ließ sich nicht anders machen.<< Übernommen hat die Klasse der beste Freund des Koordinators, mit dem er sich auch oft nach der Schule traf. Ich bekam stattdessen eine Klasse, die ich noch niemals vorher gesehen hatte, die sich aus mehreren Teilklassen zusammensetzte, deren Namen ich noch nicht kannte, deren Leistungen ich nicht einschätzen konnte, eine Klasse, bei der es zu erwarten war, dass ich als Lehrer allenfalls einen mittelmäßigen Erfolg nachhause tragen werde. Der Koordinator hatte einfach Angst davor, die Schüler könnten den Lehrer Gentil bei der Abschlussfeier und der Zeugnisausgabe ja positiv erwähnen, was ihn sicherlich sehr geschmerzt hätte, denn er hatte derartigen Erfolg niemals, weshalb er auch den Abschlussfeiern meistens fernblieb. Selten habe ich einen Menschen kennengelernt, der dermaßen resistent war bezüglich Kritik und Enttäuschung, vorgebracht gegen ihn durch Kollegen oder ganze Klassen, sollte diese Resistenz nur gespielt gewesen sein, so war er Oscarverdächtig. Natürlich fängt man als Lehrer sofort an zu grübeln, weshalb diese Entscheidung, die Klasse gegen ihren Wunsch, bei einem bestimmten Lehrer Unterricht haben zu dürfen, so getroffen wurde. Darüber habe ich mich monatelang sehr geärgert, denn wehren konnte man sich dagegen nicht, selbst wenn ich in aller Zurückhaltung nachgefragt habe, wurde es als Nörgelei und notorische Unzufriedenheit des Kollegen Gentil mit allem ausgelegt und im Kollegium so verbreitet.
Es gab noch mehrmals solche oder ähnliche Bemühungen ganzer Klassen, über den Koordinator die Zuteilung des Lehrers Gentil zu bewirken, jedoch lief es immer wieder gleich ab, diese Klassen wurden jedes Mal von bestimmten Kollegen, die ihm nahestanden, übernommen oder einfach aufgelöst.
Im letzten Jahr meiner Tätigkeit an dieser Schule praktizierte er genau das gleiche wieder. Eine Klasse wurde einfach aufgelöst, obwohl oder vielleicht weil diese Klasse darum gebeten hatte, von mir unterrichtet zu werden, den Rest der Klasse mit den guten Schülern bekam wieder der Freund. Verletzend war für mich eben auch, dass der Koordinator anscheinend glaubte, ich hätte mit den Schülern dieser Klasse eine Art Gentleman Agreement getroffen, die Schüler sind lieb zu mir und ich gebe ihnen gute Noten, denn anders konnte ich mir partout diese Entscheidungen nicht erklären, sein Lieblingskollege sollte sozusagen Feuerwehrmann spielen und das, was Gentil verbockt hatte, wieder richten, jedenfalls kommt man auf derartige Gedanken bei diesen Verhaltensweisen des Koordinators. Zudem kam noch, dass es von diesem Schuljahr ab erstmals in unserer Abteilung möglich sein sollte, das reguläre Abitur, die allgemeine Hochschulreife erlangen zu können. Da die meisten Lehrer in unserer Abteilung Handelslehrer waren und nicht Philologen, rechnete ich mir gute Chancen aus, einen solchen Abiturkurs unterrichten zu dürfen, denn ich bin Philologe. Wieder hatte ich mich geirrt, denn die Lieblingslehrer des Koordinators bekamen diese Kurse zugeschlagen. Als eine Art Ersatz bekam ich mehrere sogenannte BF-Klassen, die wegen fehlender Disziplin als schwer zu unterrichten galten, meistens auch vom Arbeitsamt geschickt worden waren, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten oder die wegen des Kindergeldes, das die Eltern für sie bekamen oder wegen anderer Gründe an unserer Schule waren. Selbstverständlich sollen auch diese Schüler und Schülerinnen unterrichtet werden, gern auch von mir, aber nicht in der hohen Anzahl an Stunden. Ich empfand es als Affront, als eine Art Bestrafung gegen mich und so war es auch vom Koordinator gemeint. So entschieden, raubte es mir den Schlaf, machte es mich krank, denn ich sah keine Möglichkeit, mich dagegen zu wehren. In solchen Fällen wird meine Seele steif wie ein Schienenschweller. Wenn ich mich in eine Ecke gedrängt fühle, aus der ich nicht ohne weiteres herauskomme, in eine Situation komme, die ich nicht aus eigener Kraft beeinflussen kann, neige ich zu emotionalen und dadurch vielleicht manchmal unbedachten Entscheidungen und mache taktische Fehler in Bezug auf meine eigenen Interessen. Um einen Ausweg zu finden, schrieb ich einen Brief an den Schulrat, legte ihm die Situation dar und bat um die Umsetzung an eine andere Schule, weil ich keine Chance sah, jemals eine Gleichbehandlung durch den Koordinator zu erfahren. Dieses Schreiben musste den Dienstweg, also über den Schulleiter gehen. Der Schulleiter rief mich sofort in sein Büro, um mir mitzuteilen, dass er mich unbedingt an unserer Schule halten möchte, das bekommen wir schon hin. >>Können sie sich vorstellen, in der Abteilung Zwei, also in den Berufsschulklassen, Textverarbeitung zu unterrichten?<<, wollte er wissen. Ich zweifelte an seinem Verstand. >>Natürlich nicht, wie kommen sie darauf?<< >>Nun, die brauchen gerade Lehrer für dieses Fach. Aber ich werde einmal mit dem Abteilungsleiter und mit dem Koordinator der Abteilung Drei reden und sehen, was ich tun kann, damit sie die Klasse, die sie gern unterrichten wollen, doch noch kriegen, ich möchte sie aber in jedem Falle an unserer Schule halten.<<
Noch am selben Abend rief er bei mir zuhause an und teilte mir mit, er hätte mit dem Oberstufenkoordinator und dem Abteilungsleiter gesprochen, das Ergebnis dieses Gesprächs sei, dass ich in jedem Falle die Klasse, die von mir unterrichtet werden wollte, bekommen werde. Zu dem Zeitpunkt glaubte ich noch, er sei doch ein guter Schulleiter. Was er mir nicht gesagt hatte war, dass er das Schreiben, das ich an den Schulrat über ihn schicken wollte - besser musste - dem Koordinator gegeben hatte. Dass ich in diesem Schreiben auch über das Verhalten des Koordinators geklagt hatte, denn der war ja der Dollpunkt des Geschehens, liegt auf der Hand. Als ich wieder in der Schule erschien, teilte mir der Koordinator mit, dass ich die Klasse natürlich nicht bekommen werde, außerdem sei es eine Unverschämtheit, was ich in dem Brief an den Schulrat geschrieben hätte. Noch am selben Tag stellte ich einen erneuten Antrag auf Umsetzung beim Schulrat, diesmal ohne Begleitbrief, somit ohne Begründung.
Einen mieseren Vertrauensbruch konnte man sich bei einem Vorgesetzten wohl nicht vorstellen. Erst versucht er mein Vertrauen zu gewinnen, indem er sagte, er wolle alles in Ordnung bringen und mich unbedingt an der Schule halten, um dann hinter meinem Rücken den Spieß umzudrehen und den an den Schulrat gerichteten Brief meine, in dieser Angelegenheit Gegenspieler, über den Inhalt des Briefes zu informieren, obwohl der Brief ja weder an den Schulleiter, nur auf dem Dienstweg über ihn, noch an den Koordinator, auch nicht an den Abteilungsleiter, sondern an den Schulrat persönlich gerichtet war.
Als ich den erneuten Umsetzungsantrag abgegeben hatte und wieder im Lehrerzimmer war, fand ich einen Antrag auf Teilnahme an der Heinzenburg-Marathon-Staffel, an der ich in den Jahren davor mehrmals teilgenommen hatte, in meinem Fach, dort hatte ihn der Abteilungsleiter, der begeisterter Läufer war, reingelegt. Ich empfand es als sehr unsensibel, denn er hatte ja auch diesen ganzen Ärger, den es unmittelbar vorher gab, wenigstens teilweise mit eingefädelt, und jetzt glaubte er, ich würde mit ihm wieder Staffel laufen, als ob nichts gewesen sei, vielleicht war es ja auch nur eine Art Bewältigung seines schlechten Gewissens, denn er hatte mir wenige Tage vorher noch deutlich gesagt, dass ich diese Klasse natürlich bekommen werde. Da der Koordinator demonstrativ das „Es ist mir doch egal, wer unter mir Abteilungsleiter ist“ praktizierte, hatte das Wort des Abteilungsleiters allerdings wenig Gewicht. So war es meistens, das, was der Abteilungsleiter zu entscheiden hatte, wurde in ruppiger Weise vom Koordinator entschieden, der Abteilungsleiter gab dann vor, beide hätten es zusammen entschieden. Ich schrieb auf dieses Antragsformular drauf, dass ich nie wieder für diese Schule eine Staffel mitlaufen werde und legte es in das Fach des Abteilungsleiters.
Der Schulleiter rief mich noch einmal in sein Büro um mir mitzuteilen, dass er noch einmal mit der Klasse gesprochen hätte, diesmal seien es aber nur noch ganz wenige Schüler und Schülerinnen gewesen, vielleicht zwei oder drei, die sich nach einer erneuten Abstimmung für mich ausgesprochen hätten, deshalb sollte ich das Ganze einfach vergessen. Ich empfand diese Aussage als so nieder-schmetternd mies, wie er dabei auch noch unsicher an seinen eigenen Fingern fummelte, so dass ich ihn am liebsten geohrfeigt hätte, so sehr verachtete ich ihn in diesem Augenblick. Er versuchte seine Schwäche gegenüber dem Koordinator im Nachhinein für mich doch noch als pädagogischen Misserfolg hinzustellen, die Sympathie der Klasse für einen Lehrer als eben einen Irrtum, eine trügerische Wahrnehmung des Lehrers hinzustellen. Warum hatte er denn noch einmal abstimmen lassen, was wollte er denn damit feststellen? Wenn er gerade erst neu in seinem Amt als Schulleiter tätig gewesen wäre, hätte ich vielleicht noch Verständnis dafür gefunden, allerdings ging er wenige Wochen später in den Ruhestand. Bei einigen Kollegen war er sehr beliebt, meiner Einschätzung nach aber deshalb, weil er sich von denen mit Vornamen anreden ließ und abends mit ihnen Fußball spielte und ein kumpelhaftes Verhältnis pflegte. Kumpaneien mit Vorgesetzten widern mich an.
Der Schulleiter ging nach den Sommerferien in Pension, sein Nachfolger war ein typischer Macher, jedenfalls gab er dieses vor. Der Stundenplan, den ich nun erhielt, war der Gipfel, denn dass es sich um die blanke Rache wegen des Briefes handelte, war nicht zu übersehen, mehr als die Hälfte meiner Stunden sollte ich in BF-Klassen im Fach Sozialkunde unterrichten.
Hier einige ganz gewöhnliche Beispiele für das Niveau, das in vielen BF-Klassen vorherrschte, wieder nur bedingt durch einige wenige Schüler, die es aber in fast allen Klassen gab und die den Ton angaben, die manchmal die ganze Klasse auf ihre Seite zogen:
In einer BF-Klasse unterrichtete ich in einer neunten Stunde das Fach Sozialkunde. Es war so laut in der Klasse während der Stunde, dass wir auch gar nicht mitbekamen, dass nebenan in einem Klassenzimmer eine Konferenz stattfand, geregelter Unterricht war nicht möglich. Als es zu heiter wurde, weder meine natürliche, noch meine künstliche Autorität halfen, denn beide registrieren viele Schüler nicht, stürzte mit sehr lautem Knall ein Tisch um. Plötzlich klopfte es an der Tür und eine sehr fein gekleidete ältere Dame stand in der Tür, sah, was geschehen war und bat sehr höflich mit leiser Stimme darum, etwas leiser zu sein, denn man hätte ja doch nebenan eine Konferenz und würde sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Daraufhin lachte der Schüler, der den Tisch umgestoßen hatte, extrem schrill und rief mit etwa doppelter Lautstärke wie unsere Besucherin ihre Bitte formuliert hatte: >>Können sie mir mal einen Blasen.....tee machen?<< Die Dame tat so, als ob sie es nicht gehört hätte, obwohl es ihr so laut zugerufen worden ist, dass es nicht zu überhören war, nickte freundlich in meine Richtung und ging wieder. Wieder rettete mich der Gong zum Rundenende. Es war Winter und schon dunkel draußen, auch ich hätte nun nachhause fahren können, jedoch hätte ich mit eben jenen Schülern der BF-Klasse in einem Bus sitzen müssen, jeder von ihnen sein Handy in der Hand, mit dem wichtigen Gesichtsausdruck: mal sehn, welches zuerst die vier Jahreszeiten oder den Flohwalzer von sich gibt, das wollte ich nun doch nicht, ich habe eben kein wirklich pädagogisch nettes Verhältnis zu meinen Schutzbefohlenen, also wartete ich noch mindestens einen Bus ab, um dann, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass keiner der Schüler mehr da war, nachhause zu fahren. Es blieb nicht aus, dass ich mir im Bus die Frage stellte, ob ich wirklich den richtigen Beruf habe oder ob ich nicht gerade dabei bin, mich von dem relativ sicheren Job und einem besseren Facharbeitergehalt korrumpieren zu lassen.
Übrigens habe ich die Gehaltsnachzahlung für die Mehrstunden, die ich unterrichtet hatte, etwa neun Monate später überwiesen bekommen, natürlich unverzinst. Mit Lehrern kann man das machen. Während meiner Arbeitslosigkeit habe ich eine Rate meines Studiendarlehns zu spät überwiesen, daraufhin habe ich eine Zahlungsaufforderung in Höhe von mehreren Hundert Euro über die gesamten Zinsen der noch ausstehenden Darlehnssumme erhalten.
Eine Woche später unterrichtete ich in einer anderen BF-Klasse, alles verlief normal, also chaotisch, bis nach etwa siebzig Minuten, also etwa zwanzig Minuten vor dem Ende der Stunde, die Tür aufging, ein Schüler grinsend das Klassenzimmer betrat und sich in seiner dicken Winterjacke und seinem weißen, gehäkelten Mützchen auf dem Kopf an den Tisch setzte. Mir fiel auf, dass er keine Schultasche dabei hatte, sondern die Hände in den Taschen hielt. Nun, junge Menschen sind sensibel, deshalb wartete ich noch etwas, bis ich ihn ansprach, was mir ja auch noch etwas Zeit gab, mir den richtigen Tonfall zu überlegen, in dem ich ihn ansprechen wollte. Ich hatte ihn noch nie vorher gesehen. Nach fünf Minuten richtete ich das Wort an ihn: >>Ziehen sie doch bitte die Jacke aus, sonst werden sie sich erkälten, wenn sie nachher wieder nach draußen kommen.<< >>Nein, mir ist aber kalt!<<, erwiderte er kurz aber entschieden. >>Nehmen sie bitte die Mütze ab<<, bemühte ich mich in höflichem Ton. >>Nein, die lasse ich auf! << >>Haben sie keine Schulsachen dabei, keine Tasche?<< >>Die brauche ich nicht, ich merke mir alles so.<< Widerspruch meinerseits war zwecklos, also versuchte ich meinen Unterricht weiterzuführen und war ein wenig erleichtert, als er endlich Anstalten machte, wenigstens eine Hand aus der Tasche zu nehmen, jedoch war diese nicht leer, sondern er bugsierte sein Handy aus der Tasche und legte es sehr akkurat, ja fast liebevoll akribisch vor sich auf den Tisch. Um die Aufmerksamkeit der anderen Schüler nicht unnötig auf ihn zu lenken, tat ich so, als ob ich dieses gar nicht gemerkt hätte. Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich den Wettlauf gegen ihn und die Zeit verlieren werde, denn es waren noch über zehn Minuten bis zum Stundenende, die ich nicht durch Ignorieren dieses Neuankömmlings überbrücken konnte. Plötzlich schlug sein Handy an. Er nahm es auf und sprach türkisch mit dem Anrufer. >>Das Telefonieren ist im Schulhaus verboten!<< Erinnerte ich ihn. Keine Reaktion dieses Schülers, er redete weiter, als ob er sich alleine in seinem privaten Bereich befände. >>Hallo, junger Mann, das Telefonieren ist laut Hausordnung im Schulgebäude verboten!<< Diesmal stand ich direkt vor seinem Tisch, somit war das Vortäuschen, den Lehrer nicht gehört zu haben, zwecklos - wieder nichts, er sprach einfach weiter. Ich hätte versuchen können, ihm das Handy abzunehmen, jedoch hätte dies bedeutet, dass ich Gefahr lief, eine physische Auseinandersetzung mit ihm eingehen zu müssen, hierbei hätte ich den Kürzeren gezogen, denn er war jung und ich alt, außerdem zeigte er ja gerade mit seinem Verhalten, dass es ihm wohl vollkommen egal war, ob er der Schule verwiesen wird oder nicht, hinzu kommt, dass ich es später hätte beweisen müssen, dass er angefangen hatte, physische Gewalt an den Tag zu legen, was nicht ganz einfach gewesen wäre, Zeugen gab es zwar genug, aber bestimmt nicht auf meiner Seite. Nach etwa fünf Minuten beendete er das Gespräch, legte das Handy wieder vor sich auf den Tisch, so, als ob er noch andere Anrufe erwartete und wandte sich mir zu. >>Isch muss schließlich mein Kunden versorgen, darf isch das etwa nisch bei ihn?<<, fauchte er mich an und zeigte sich empört über meine Verständnislosigkeit. Ich wollte nicht wissen, um welche Kunden, die er von der Schule aus zu versorgen hatte, es sich handelte.