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Ein gutes Gymnasium

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Im tiefsten Winter hatte ich schon den herrlichen Duft der Waldesluft in meiner „geistigen Nase“, denn diese Schule war mitten im Wald gelegen und bestand aus vielen kleinen Pavillons, in denen der Unterricht stattfand, für mich war es schon Sommer, ich genoss diese kleine Sinnestäuschung.

Ich freute mich sehr, denn gerade diese Schule war für mich die allererste Wahl, es galt als sehr gutes Gymnasium, hatte einen guten Ruf, in einem gutbürgerlichen Bezirk der Stadt Berlin gelegen.

Schon dreißig Jahre früher, wenn ich im Wald Sport trieb und an dieser Schule vorbei kam, dachte ich, es wäre schön, wenn du hier einmal unterrichten könntest.

Der Schulleiter machte einen netten Eindruck, er sprach recht leise und wirkte sehr ruhig und sensibel. Er gab mir sofort meinen Stundenplan und wollte, es war Freitag, dass ich am Montag um acht anfange, was ich aber ablehnte, denn ich wollte mich erst noch von meinen Schülern des Oberstufenzentrums verabschieden, deshalb erst am Dienstag anfangen.

Die Kollegen des Oberstufenzentrums, an dem ich über acht Jahre unterrichtet hatte, wünschten mir alles Gute. Einer jedoch riet mir: Such dir möglichst schnell einen guten Rechtsanwalt, den wirst du gut gebrauchen können, denn du wirst mit Sicherheit Ärger mit den Eltern bekommen.

Er war vor Jahren an einem Berliner Gymnasium als Lehrer tätig gewesen und hatte ständig Auseinandersetzungen mit den Eltern gehabt, meistens auf den Elternabenden, deshalb ist er froh, dass er jetzt an einer Schule tätig ist, an der die allermeisten Schüler volljährig sind, deshalb keine Elternabende stattfinden.

Ich nahm also den umgekehrten Weg, vom Oberstufenzentrum zum Gymnasium, viele Kollegen erklärten mich deshalb für verrückt, hauptsächlich wegen damit drohenden Ungemachs mit den Eltern. Ich aber war froh, denn ich wollte weg, in den über acht Jahren am OSZ hatte ich fünf Schulleiter kennengelernt, einer schlechter und unfähiger als der nächste, einer unaufrichtiger als sein Vorgänger, das Vertrauen der Kollegen missbrauchend und tricksend auf unterstem Niveau, ganz zu schweigen von den Abteilungsleitern. Allen ging es nur darum, als Schulleiter oder Funktionsträger nicht mehr unterrichten zu müssen und darum, jetzt endlich selber das zurückzahlen zu können, was sie selber als Lehrer erdulden mussten, jetzt austeilen zu können, statt einstecken zu müssen. Und - natürlich – die deutlich höhere Besoldung. Der Oberstufenkoordinator nutzte seine Position schamlos aus, denn er machte, was er wollte, niemand hätte es gewagt, aufzumucken, denn das hätte er über den Stundenplan geahndet, für die Stundenpläne hatte er sich die alleinige Zuständigkeit angeeignet, obwohl es eigentlich auch Sache des Abteilungsleiters war. Ein offenes Mobbing durch Anzweifeln der Kompetenz unliebsamen Kollegen gegenüber war selbstverständlich und an der Tagesordnung, Lehrer können sich dagegen nicht wehren. Eine Kollegin hatte zum Beispiel fünf verschiedene Fächer zu unterrichten, nur weil sie sich irgendwann einmal das „Maul“ verbrannt hatte oder aus anderen Gründen.

Meinem Wechsel hatte ich natürlich, fast ahnt man es, der Fürsprache des Koordinators zu verdanken, jedenfalls behauptete er dieses, alles verlogener, durchtriebener Mist.

Ich war auf die Schülerinnen und Schüler der neuen Schule gespannt.

Von einem auf den anderen Tag sollte ich also an diesem Gymnasium anfangen zu unterrichten. Der plötzliche Wechsel kam dadurch zustande, dass ein Kollege dieser Schule harte Probleme in einigen Klassen hatte und resigniert aufgegeben hatte, oder man ihn für nicht mehr tragbar hielt.

„Schule macht krank“, stand auf einem Plakat, das an der Innenseite der Lehrerzimmertür von Lehrern angebracht worden war.

Laut meinem neuen Stundenplan sollte ich zwei Kurse der dreizehnten Klasse in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, ein Fach, das ich seit über 25 Jahren nicht mehr unterrichtet hatte, damals war dieses Fachgebiet der Mathematik auch noch nebensächlich, in wenigen Monaten zum Abitur führen und zwei Kurse der Jahrgangsstufe zwölf, ebenfalls im Fach Mathematik, unterrichten.

Der Lehrer, der bis zu diesem Freitag diese Kurse unterrichtet hatte, wollte oder durfte nicht mehr weitermachen, anders ist es nicht zu erklären, dass ich ihn mitten im Schul-Semester und drei Monate vor dem Abitur ersetzen sollte. Ich lernte ihn auch kennen, denn er sollte mir die Schülerlisten übergeben und erzählen, was er bis zu dem Zeitpunkt mit den Schülern besprochen hatte. Dieser Lehrer, Herr Legrand (Name geändert), war schon aus großer Distanz als konservativ zu erkennen, er hatte einen Haarschnitt wie Julius Cäsar und eine Nilor-Brille auf der Hakennase, die nur an der Oberkante der Gläser einen schmalen goldenen Steg als Rahmen hatte, eine Brille, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren von Studenten und Intellektuellen getragen wurde. Er war extrem dünn und sprach sehr schnell und sehr laut, also genau das Gegenteil des Schulleiters, der sehr groß und sehr schwer war und sehr behäbig und leise sprach. >>Die Schüler essen während des Unterrichts und telefonieren mit dem Handy<<, warnte er mich. >>Das stimmt doch gar nicht, wenn man ihnen sagt, sie sollen es sein lassen, dann lassen sie es auch sein!<<, wandte der Schulleiter ein und machte dabei eine Handbewegung in seine Richtung, die andeuten sollte: Hören Sie doch auf damit, diese Diskussion hatten wir schon viel zu oft. >>Nein, dann lassen Sie es trotzdem nicht!<<, kam die Replik des Kollegen. Mir fiel dazu ein: Warum muss man Schülern der zwölften oder gar dreizehnten Klasse überhaupt sagen, dass es im Unterricht nicht gestattet ist, zu essen oder gar mit dem Handy zu telefonieren, das sollten diese in den zwölf Schuljahren davor doch gelernt haben. Aber ich verkniff mir die Frage.

Der Schulleiter ging mit mir über das riesengroße Schulgelände und erzählte: >>... ihr Vorgänger mag ein guter Mathematiker sein, aber der Umgang mit Schülern liegt ihm nicht, aber sie werden ja selber sehen, die Schüler sind an und für sich ganz nett. Nur auf eines sollten Sie achten, wenn ich ihnen noch einen Rat geben darf, die Schüler dieser Schule kommen meist aus Akademikerfamilien, deshalb fehlt so etwas wie ein Aufstiegswunsch, ein Aufsteiger-Denken, ich habe früher im Bezirk Wedding, dem traditionellen Arbeiterbezirk unterrichtet, dort waren die Schüler fleißiger und strebsamer.<<

Ich hatte jedoch den Eindruck, dass es zwischen Herrn Legrand und dem Schulleiter heftige Auseinandersetzungen gegeben haben muss, was mein zukünftiges Dasein an diesem Gymnasium erklärte.

Normalerweise finden Schulwechsel zum neuen Schuljahr statt, dann hat man in den großen Ferien Zeit, eventuelle Defizite oder Wissenslücken aufzuarbeiten, wenn man ein neues Fach oder eine Jahrgangsstufe unterrichten soll, die man vorher noch nicht unterrichtet hat und man kann eine Grobplanung für das Schuljahr erstellen, außerdem hatte ich keine Vorstellung davon, was Abiturienten können oder können sollten. Auch das ärgert mich, wenn ein Lehrer an einer Schule unglücklich und unzufrieden ist, wird man ihm sagen, ein Schulwechsel sei jetzt vollkommen ausgeschlossen, umgekehrt werden Versetzungen von Lehrern binnen 24 Stunden vorgenommen, wenn es notwendig ist. Dieser Wechsel fand sechs Wochen nach Beginn der zweiten Hälfte des Schuljahres statt, deshalb war es ein hartes Stück Arbeit für mich, den Stoff drauf zu kriegen, aber ich hatte ja noch das ganze Wochenende.

Die Schüler erzählten sofort, dass Herr Legrand Sprüche der schlimmsten Art losgelassen hätte, zum Beispiel soll er immer Frauenfeindliches von sich gegeben haben. Vielleicht wollte oder konnte er nicht mehr und wollte deshalb in den Ruhestand und hat sich deshalb daneben benommen, so vermutete ich, vielleicht stimmte auch nichts von dem, was die Schüler behaupteten.

Eines Tages, als ich vor der Gruppe des Kurses der zwölften Klasse stand und unterrichtete, klopfte es an der Tür, es war Herr Legrand, der sich von seinen Schülern verabschieden wollte. Urplötzlich setzte ein tosender Applaus ein, der nicht enden wollte. >>Es ist erstaunlich, wie leise es in ihrem Unterricht ist, so war es bei mir nie. Ich wollte mich nur von euch verabschieden, wie es aussieht, habt ihr ja nun einen kompetenten Lehrer gefunden<<, brachte er etwas stockend hervor. Aus diesen Worten schloss ich, dass man seine Kompetenz als Lehrer angezweifelt hatte. >>Ach, sie fehlen uns sehr<<, sagte eine Schülerin im wehmütigen Tonfall. >>Na, na, so schlimm wird es nicht sein, wiegelte er ab. Also, auf wiedersehen und alles Gute!<< Sprachs und ging. Wieder setzte zu meiner Verwunderung tosender Applaus ein. >>Nun, ich bin ein wenig Überrascht, sie haben kein gutes Haar an ihm gelassen, jetzt, wo er vor ihnen stand, klatschen sie heftigen Beifall und applaudierten, das wundert mich schon, was stimmt denn nun?<< >>Aha, Herr Gentil ist eifersüchtig<<, stellte ein ganz Aufgeweckter fest. >>Haben sie denn die Ironie nicht gemerkt, wir haben geklatscht, weil er endlich gegangen ist, nicht weil wir seinen Unterricht mochten oder weil er uns sympathisch wäre, so reagieren wir, wenn wir jemanden nicht mögen.<<

Nun, das war eine Methode, Ablehnung zu zeigen, die ich erst noch zu verstehen lernen muss. Somit waren mir auch seine Worte: ´Na, na, so schlimm wird es nicht sein`, klar, die auf die Aussage der Schülerin, sie fehlen uns sehr, erfolgt waren, denn er kannte offensichtlich diese Ironie, wie sie an dieser Schule üblich war, schon.

Nach wenigen Tagen erhielt ich den kompletten Stundenplan, der auch Unterricht in den Jahrgangsstufen sieben und acht und da mein zweites Fach Politikwissenschaft ist und ich deshalb auch Geschichte unterrichte, diesen Unterricht in den Jahrgangsstufen sieben und zehn. Insgesamt hatte ich etwa 270 Schülerinnen und Schüler in drei Fächern zu unterrichten.

In der achten Klasse, war die Disziplin katastrophal. Immer, wenn ich den Klassenraum betrat, sah dieser Raum völlig verdreckt aus, und die Schüler waren durch den Wind, wie man unter Lehrern zu sagen pflegt. Also ließ ich jeden Tag zu Beginn einer jeden Unterrichtsstunde den Klassenraum erst einmal säubern.

Einige Schüler beklagten sich bei mir gleich nach dem Unterricht über Herrn Hirte, den Fachbereichsleiter, einen Diplommathematiker, der hätte nur Geschichten erzählt und würde ein pädagogisches und didaktisches Konzept verfolgen, das sie sehr gestört hätte, denn bei ihm sollten sie alles selber herausfinden. Darüber, dass die Schüler dies als störend empfanden, staunte ich, denn gerade dieses wurde während meines Referendariats als Ideal vermittelt, wenn die Schüler alles selbst herausfinden und der Lehrer nur lenkend eingreift, nur „anpieksen“ habe ich in dem Zusammenhang noch als Begriff in Erinnerung.

Jede Stunde war ein brutaler Kampf mit dieser Klasse, denn einige Schüler waren derart undis-zipliniert, dass von Unterricht nicht die Rede sein konnte. Es gab den Kasper, der nur Faxen machte, aber nichts von dem verstand, was ich erklärte, es gab den Rotzigen, der mich nur mit Blicken der Verachtung strafte, den Schleimer, der immer nach der Stunde zu mir kam und mir versicherte, dass es ihm unheimlichen Spaß mache und all die anderen Variationen menschlicher Charaktereigenschaften.

Natürlich gab es auch den Wichtigtuer. Am Ende der Stunde wollte ich den Schülern Hausaufgaben aufgeben, was zu einer Art Tumult führte, denn „... wir schreiben morgen eine Deutscharbeit ...“, sagten sie.

Also gut, dann gebe ich euch heute keine Hausaufgaben auf. Daraufhin kam der Wichtigtuer nach vorne und sagte zu mir, in der Lautstärke, dass ich es gerade noch verstehen konnte: >>Das enttäuscht mich aber, Herr Gentil, dass sie sich von denen so bescheißen lassen.<< Beim Sprechen zuckte er bei dem Wort ´denen` mit dem Kopf in Richtung der Klasse und zeigte mit dem Daumen in Hüfthöhe in die Richtung seiner Klassenkameraden, mit seiner Gestik wollte er wohl eine Art Verachtung gegenüber seinen Klassenkameraden zum Ausdruck bringen. Vermutlich meinte er, ich hätte erst einmal prüfen müssen, ob es überhaupt stimmt, mit der Klassenarbeit im Fach Deutsch. Genauso gut hätte er fragen können: „Wäre es nicht besser gewesen, sie hätten mich erst einmal gefragt, ob es vernünftig ist, in dieser Situation Hausaufgaben aufzugeben?“.

Ich betrat den Klassenraum einer siebten Klasse, in der ich Mathematik unterrichtete und stellte mich vor die Kinder, die sich für das „Guten Morgen, Herr Gentil“ erhoben. Gerade als ich zum Gruß anstimmte, biss ein zwölfjähriger Knirps in einen großen roten Apfel und fing an zu kauen. >>Pack jetzt bitte den Apfel weg, der Unterricht hat bereits begonnen!<< >> Dann ist er aber nachher braun, wenn ich ihn erst in der Pause weiter essen kann!<<, gab er mit vollem Mund zur Antwort. Für ihn war also klar, als er zu Beginn der Stunde in den Apfel biss, dass er diesen Apfel auch vollständig aufessen könne, was wahrscheinlich zehn Minuten gedauert hätte. >>Das Macht überhaupt nichts, er schmeckt genau so gut wie im hellen Zustand.<< Kauend ging er nach vorne, holte aus und wollte den Apfel mit voller Wucht in die Mülltonne werfen. >>Stopp! Du willst doch jetzt den Apfel nicht wegwerfen, oder?<< >>Doch!<< Ich forderte diesen Schüler auf, den Apfel in seine Brot-Box zu legen und diese in seiner Schultasche zu verstauen, damit er ihn in der Pause aufessen kann. Um ihn ein wenig nachdenklicher zu stimmen, denn er wollte ja gerade einen fast vollständigen Apfel wegwerfen, fragte ich ihn: >>Weißt du, dass jeden Tag über zwanzigtausend Kinder verhungern?<< >>Nee, aber wissen sie auch, wie viele Kinder jeden Tag geboren werden?<< Sprachs und knallte den Apfel mit voller Wucht in die Mülltonne. Das haute mich fast aus den Pantinen, und ich musste schlucken, aber ich ging nicht darauf ein, weil ich fürchtete, er könnte sich noch zu einer Aussage versteigen, die mich vollends umhauen würde, zum Beispiel etwas von ausgleichender Gerechtigkeit oder dass es ohnehin zu viele Menschen auf dem Erdball gäbe etc. etc. . Ich empfand diese Aussage des Schülers als zynisch, was ich allerdings diesem Zwölfjährigen nicht vorwerfen konnte. Einer wusste es sogar noch genauer, denn er sagte ungefragt: >>Es stimmt, alle drei Sekunden verhungert ein Mensch, aber alle zwei Sekunden wird einer geboren!<<

So eine Überlegung wächst nicht auf dem Mist eines Zwölf- oder Dreizehnjährigen, sondern, um im Bilde der Apfelgeschichte zu bleiben: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Die Eltern sind die sogenannte Elite der Nation, und diese Kinder, die da vor mir sitzen, werden es in nächster Zukunft auch sein. Diese Kinder habe ich zu unterrichten, genau diesen Kindern habe ich dazu zu verhelfen, dass sie in zehn oder zwölf Jahren auch über andere Bevölkerungsschichten, meist ärmere oder weniger gebildete, einfache Leute, die sich nicht oder nur schlecht wehren können, zu befinden haben, sei es als Richter oder Rechtsanwälte oder als Ärzte, Lehrer oder Politiker, alles andere ist nicht meine Sache.

MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN!

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