Читать книгу MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN! - Felix Gentil - Страница 6

Ein neuer Schulleiter

Оглавление

Der neue Schulleiter hielt eine lange Ansprache vor allen etwa 130 Kolleginnen und Kollegen, forderte uns alle auf, doch ordentlich beim Kuchenbuffet, das er uns spendiert hatte, zuzulangen. Er war sehr darauf bedacht, uns das Gefühl zu geben, er sei einer von uns. Er sprach über seine Hobbies und über seine Vorstellungen, wie er diese Schule leiten wolle, vorher hatte er in einer Bank gearbeitet. Eine Bitte hatte er allerdings an uns, nämlich er wollte, dass wir bei einem Kollegen vorbeigehen und uns fotografieren lassen, was nur den Grund hätte, dass er uns kennenlernen wolle und er sich schnell unsere Namen einprägen wollte. Dagegen war nichts zu sagen und alle taten, was er wünschte. Wenn es nur darum ging, uns mittels der Fotos kennenzulernen, kam es auch nicht so darauf an, möglichst vorteilhaft auf dem Foto zu erscheinen. Ich ging also zu dem benannten Kollegen und ließ mich ablichten. Als ich etwa zwei Wochen später das Schulhaus betrat, traute ich meinen Augen nicht. An einer Wandfläche hing eine riesige Tafel mit den Konterfeis der Kolleginnen und Kollegen hinter einer Glaswand. Sicherlich hätte niemand etwas dagegen gehabt, wenn er gesagt hätte, dass er diese Bilder zur Information für Besucher und für neue Kollegen dort anbringen wollte, aber niemand wollte ausgetrickst werden, niemand wollte so an der Nase herumgeführt und angelogen werden. Warum ist es Schulleitern und sogenannten Funktionsträgern nicht möglich, offen und auf Augenhöhe mit dem Lehrerkollegium zu reden, sie wie erwachsene Menschen zu behandeln, es handelt sich schließlich um gestandene Kollegen, deren Ausbildung nicht geringer ist als die der Schulleiter oder Funktionsträger. Es war diesem neuen Schulleiter offensichtlich egal, ob viele oder vielleicht sogar alle Kollegen verärgert sind oder nicht, das war kein guter Start, den er sich selbst bereitet hatte. Den Abteilungsleitern und den Koordinatoren der Abteilungen hatte er gesagt, dass diese Bilder im Schulhaus aufgehängt werden sollen, aber den Kollegen nicht. Der Koordinator unserer Abteilung, dessen Bild fehlte, sagte: >>Ich hab ja gewusst, was er mit den Bildern vorhatte, deshalb habe ich mich nicht fotografieren lassen.<<

Der neue Schulleiter erfuhr natürlich sofort, dass ich einen Umsetzungsantrag gestellt hatte, also die Schule verlassen wollte und bat mich in sein Büro. Ich kann sie in diesem Halbjahr noch nicht gehen lassen, ich brauche sie jetzt unbedingt, ich brauche jetzt jeden Mann, jede Frau, ich muss mir erst einen Überblick verschaffen, wie viele Lehrer und Lehrerinnen ich brauche, das kann ich jetzt noch nicht sagen. ich werde diesen Umsetzungsantrag ablehnen müssen, aber im nächsten Halbjahr klappt es bestimmt, versprochen, stellen sie dann erneut einen Antrag. Er zückte seinen Kugelschreiber, kreuzte das Feld „Abgelehnt“ an, Widerspruch meinerseits war zwecklos, unterschrieb und lehnte somit meinen Umsetzungsantrag ab. Ich war verstimmt und verärgert, denn das bedeutete weitere Monate des Frustes. Ein halbes Jahr später konnte er mich allerdings immer noch nicht gehen lassen, denn ich wurde weiterhin „gebraucht“.

Jeden Mittwoch Morgen, ca. zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn, ging die Tür des Klassenzimmers auf, jedoch war niemand zu sehen und der gleiche Film lief ab. Wenige Augenblicke später stand, nennen wir ihn Mohammad, in seiner ganzen männlichen Herrlichkeit oder was er dafür hielt, in der Tür. Die ganze Klasse fängt an zu grölen und auf die Tische zu schlagen. Muhammad grinst über das ganze Gesicht, bleibt erst noch einen Augenblick auf der Türschwelle in der offenen Tür stehen, vorher hat er im Flur der Schule das Licht ausgeschaltet, um die Spannung zu erhöhen. Ohne mich zu beachten, guckt er in die Klasse. Endlich kommt er in das Klassenzimmer, breitbeinig, als hätte er gerade eingepinkelt, mit dem Tempo und der Dynamik einer Wanderdüne, lässt die Tür hinter sich offenstehen, vielleicht ja auch, weil er glaubt, es sei Sache des Lehrers, die Tür hinter den Zuspätkommenden zu schließen und geht zu Seldschuk, den er Bruder nennt. Bussi links, Bussi rechts, noch einmal Bussi links, woraufhin ein Abklatschen der Hände das allmorgendliche Begrüßungszeremoniell beendet und er zu Bruder Achmet geht, um das gleiche zu wiederholen: Bussi links, Bussi rechts, Bussi links .... In der Zwischenzeit rufe ich ihn mehrmals laut und deutlich an und ermahne ihn, er möge sich hinsetzen und wenn er schon wie jeden Morgen zu spät kommt, nicht noch den Unterricht stören soll, was er aber scheinbar nicht hört, denn er reagiert nicht, er ignoriert mich. Als er alle „Brüder“ begrüßt hat, stellt er sich mitten ins Klassenzimmer, die Arme vom Körper abgewinkelt, sich grinsend im Halbkreis drehend, den Oberkörper wie ein Orang-Utan wippend, immer grinsend, Beifall und Effekt heischend, um sich dann mit sich plötzlich verfinsternder Miene dem Lehrer zuzuwenden: >>Was hast du für ein Problem, alter, darf ich etwa bei ihn nicht mal meine Brüder begrüßen oder was?<< Ich fordere ihn auf, den Duz-Ton zu unterlassen. >>Na normal man!<< Lautes Grölen der anderen Anwesenden. Bis endlich Ruhe eingekehrt ist, sind zwanzig Minuten des Unterrichts vorbei. Manch einer mag einwenden, das sind doch niedliche Katastrophen, das lockert doch den Unterricht auf, deshalb wird man sich doch als Lehrer nicht ärgern! Wäre ich Klempner, Ingenieur oder Auto-mobilverkäufer, würde ich ähnlich denken und reden. Das Problem ist allerdings, es handelt sich in jedem Falle um Schüler, die extrem leistungsschwach sind und deshalb versuchen, den Lehrer zu provozieren, um ihrem eigenen Geltungsbedürfnis auf die Füße zu helfen, was sie mit guten Leistungen nicht schaffen, dem Affen Zucker zu geben, weil sie zu hause allenfalls eine Tracht Prügel bekommen. Wenn ein Schüler derartiges Verhalten an den Tag legt, findet es meistens bei all den Achmets, Seldschucks und Mohammads Nachahmung und es gibt viele von ihnen, manchmal imitieren auch nicht muslimische Schüler dieses Macho-Verhalten und wenn man nicht hart gegensteuert, kann es sehr leicht passieren, dass einem eine Klasse in Sachen Disziplin völlig entgleitet, dann macht jeder Schüler was er will. Da Schüler und Schülerinnen in dem Alter meistens keine objektive Urteilskraft haben, jedenfalls dann nicht, wenn sie sich in einer Gruppe befinden, sind solche Schüler, die den Lehrer ärgern, manchmal auch sehr beliebt. Ich kenne keinen Kollegen, den ich dazu gefragt habe, der sich über dieses Macho-Verhalten nicht ärgert, bis auf eine Kollegin, anscheinend Mitglied der Grünen, die sagte: >>Ach die Moslems, das darf man doch nicht so ernst nehmen, die sind doch nett.<< Niemals hatte ich mit einem türkischen Mädchen Ärger, weil dieses frech wurde oder patzige Antworten gab, Ärger gab es immer nur mit türkischen Jungs oder anderen Moslems wegen deren Macho-Gehabe, natürlich auch mit Schülern ohne Migrationshintergrund, aber sehr selten mit Mädchen. Ich weiß, dass diese sarrazinsche Aussage in Deutschland als rassistisch gilt.

Es gab an diesem Oberstufenzentrum Situationen, die mich selbst heute noch, Jahre danach ärgern oder bewegen, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich falsch verhalten oder mich falsch entschieden habe. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein türkisches Mädchen, mit einem Kopftuch mit schwarzem Rand, das auf ihren eigenen Wunsch hin diese weiterführende Schule besucht hatte, der Vater war dagegen, die Mutter wurde anscheinend nicht gefragt. Während des Probehalbjahres bat der Vater um mehrere Gespräche mit mir, denn ich war der Klassenlehrer. Die Mutter sprach kein einziges Wort Deutsch. Der Vater bat mich am Ende eines jeden Gesprächs, ihm sofort Bescheid zu geben, wenn die Tochter schlechte Leistungen zeigt, dann werde er sie sofort von der Schule nehmen. Ich hatte den Eindruck, er wartete geradezu darauf und wollte partout vermeiden, dass seine Tochter etwas schafft, was er selbst niemals zuwege gebracht hatte. Dieses Mädchen hat das Probehalbjahr nicht geschafft, was mir unendlich Leid tat, sie musste die Schule verlassen. Über mich selbst habe ich mich in diesem Zusammenhang geärgert, und ich denke noch heute daran, denn ich hätte dem Vater sagen müssen, wie ich dieses Verhalten beurteile, dass ich es widerwärtig finde, wie er den Misserfolg seiner Tochter betrieben hat, statt sich zu freuen, dass sie lernen will, statt stolz auf seine Tochter zu sein, dass sie beruflich weiterkommen will und sie zu unterstützen, damit sie es schafft. Hätte es sich nicht um seine Tochter, sondern um seinen Sohn gehandelt, hätte er sich ganz bestimmt anders verhalten.

In einem anderen Falle habe ich mich nicht richtig verhalten, denn ich gab einer Schülerin die Note „gut“, obwohl sie ein „sehr gut“ verdient hatte. Es war ein extrem schmales kleines Persönchen, die wohl auch unter einer seltenen Krankheit litt. In den Klausuren schrieb sie so extrem sauber, dass man es kaum von einem Druck unterscheiden konnte, außerdem rechnete sie makellos und fehlerfrei. Da sich die Endnoten aber aus dem allgemeinen Teil und den Klausuren zusammensetzen musste, sie aber vom Naturell her extrem ruhig war und sich selten meldete, gab ich ihr eben die Note „gut“ statt „sehr gut“ und hoffte, sie damit anzuspornen, im nächsten Halbjahr in der mündlichen Mitarbeit aktiver zu sein. Leider verließ sie unsere Schule von einem auf den anderen Tag, ihrem Vater nach Stuttgart folgend. Noch Jahre danach, selbst heute noch bohrt es in mir, ich hätte ihr die Eins geben müssen.

Ein junger Mann, sehr zurückhaltend und höflich, er wirkte reifer als die anderen seines Alters, erbrachte die verlangten Leistungen nicht, deshalb musste er die Schule nach dem Probehalbjahr verlassen, ich war der Klassenlehrer. Als es leider schon zu spät war, meldete sich seine Heimerzieherin zu einem Gespräch bei mir an, vorher wusste ich gar nicht, dass er in einem Heim lebte und offensichtlich eine sehr problematische Vita hatte. Noch heute denke ich an das Gespräch in der U-Bahn, das ich mit ihm hatte, an seine ruhige und höfliche Art mir gegenüber, obwohl ich auch einen Teil seines Misserfolgs entschieden hatte, keine Beschimpfung oder Gerede von Ungerechtigkeit oder ähnlichem. Später fiel mir dieser junge Mann jedes Mal dann ein, wenn ich einer Schülerin oder einem Schüler doch noch eine Vier gab statt der Fünf, somit das Bestehen des Probehalbjahres sicherte und dachte: So gut wie die war der junge Mann damals allemal.

Der Koordinator, Philologe, glaubte, eine Art Platzhirsch in Sachen Mathematik an unserer Schule zu sein, denn die allermeisten Lehrer, die an unserer Schule Mathematik unterrichteten, haben das Fach nicht studiert. Ich bin aber auch Philologe, allerdings wusste der Koordinator, dass ich zwanzig Jahre vor keiner Schulklasse gestanden hatte, deshalb wollte er unbedingt „nachweisen“, dass die Schüler bei dem Lehrer Gentil nichts lernen. Somit stellte er die Prüfungskommissionen für mündliche Prüfungen immer so zusammen, dass er der Prüfungsvorsitzende und sein Freund der Protokollant war, wenn ein Prüfling von mir geprüft werden sollte. Da ich noch sehr unerfahren als Lehrer war, wurde ich jedes Mal von den beiden überstimmt, wenn es um die Note ging. In einem Falle bekam ein sehr fleißiges Mädchen, das niemals die Hausaufgaben vergessen hatte, immer alle Arbeiten sehr sauber angefertigt hatte, allerdings in der mündlichen Prüfung irgendwie auf dem falschen Dampfer war, die Note ungenügend, ich wurde einfach überstimmt. Wenn ich heute daran denke, könnte ich mir die Haare über mich selbst raufen, denn als die Ergebnisse der Prüfungen verkündet wurden, fing dieses Mädchen an zu weinen, ich schämte mich für mein eigenes Verhalten, so dass ich am liebsten im Erdboden verschwunden wäre. Statt auf die Barrikaden zu gehen, wegen dieses abgekarteten miesen Spiels, zum Beispiel zum Schulrat zu gehen, obwohl von dem auch keine Hilfe zu erwarten war, habe ich klein beigegeben. Noch heute denke ich oft, hoffentlich begegnet mir dieses Mädchen niemals zufällig. Die Prüfungen der anderen Kollegen liefen immer sehr gut, wie ich später feststellte, waren diese immer vorher mit den Prüflingen abgesprochen. Gelernt habe ich allerdings aus dieser Geschichte schon etwas, denn später, als ich an einem Gymnasium unterrichtete, sollte ähnliches ablaufen, diesmal habe ich aber meinen Notenvorschlag gegenüber dem Fachbereichsleiter durchgesetzt.

Das Verkünden der Noten für die mündliche Mitarbeit zum Ende des Schuljahres kann für den Lehrer oder die Lehrerin einen extremen Stress bedeuten. Niemand, der das nicht miterlebt hat, kann sich das vorstellen. Ein Lehrer, der sich mit den Schülern über die Note auseinandersetzt, genau darlegt, wie er zu der Note für die mündliche Mitarbeit gekommen ist, wird sich einer Zankerei ausgesetzt sehen, einer psychischen Belastung, die jedenfalls mir oft schlimme Magenschmerzen, Frust und Ärger, sogar schlaflose Nächte eingebracht haben, oft auch, weil ich an mir selbst zweifelte und mir nach solchen Auseinandersetzungen nicht mehr sicher war. Schüler glauben, genau beurteilen zu können, wie ihre eigene Leistung einzuschätzen ist, ob diese vergleichbar zu der des Nachbarn war oder nicht, welcher Qualität ihre Beiträge waren, obwohl es meistens gar keine gab. Ich habe mir oft die Frage gestellt, ob es nicht besser gewesen wäre, mich einem derartigen Stress nicht länger auszusetzen und mich einfach so verhalten sollte wie die Kollegen, die bei Schülern besonders beliebt waren und wohl auch immer sein werden. Ein Beispiel dazu:

Eines Tages, als ich vor einer Klasse stand, klopfte es an der Tür, eine Kollegin trat ein und fragte mich: >>Ach, Herr Gentil, darf ich mal eben kurz die Noten ansagen? - Es dauert nur zwei Minuten, dann bin ich wieder weg!<< Diese Kollegin war aus der ehemaligen DDR und unterrichtete Wirtschaft an unserer Schule. Sie nahm ihr Notenbüchlein zur Hand und das Feuerwerk der guten Laune wurde abgefackelt: >>Elke – eins, Jörg – eins, Melanie – zwei, Reiner – eins, Hannelore – eins, Bernd - eins ...<< In diesem Tenor ging es weiter und endete mit: >>So, tschüühüss und ein schönes Wochenende allerseits!<<

Sprachs und ab. Sie hatte nicht zu viel versprochen, der Spuk war nach zwei Minuten vorbei. Von dieser Lehrerin wollten die Schüler und Schülerinnen die Noten nicht schon vier Wochen vor dem Ende des Halbjahres wissen, selbst wenn sie die Noten gar nicht angesagt hätte, wäre man zufrieden gewesen, denn die Schüler konnten sich auf sie verlassen. Diese Kollegin wurde auch immer wegen ihres angeblich guten Unterrichts bei der Vergabefeier der Fachhochschulreifezeugnisse über den Klee gelobt. Solche Kollegen und Kolleginnen sind meistens auch bei den Schulleitungen sehr beliebt, denn es gibt keine Beschwerden durch die Schüler und es ist ein gutes Aushängeschild für die Schule, außerdem ist es für diese Kollegin völlig stressfrei, man sagt ihr wegen der guten Noten eben eine gute pädagogische und didaktische Arbeit nach, obwohl das eine nichts mit dem anderen zutun hat, vielleicht sogar oft das Gegenteil richtig ist. Die Vermutung, Noten hätten etwas mit der Qualität des Unterrichts zu tun, für die der Lehrer allein verantwortlich ist, ist so falsch wie nur etwas falsch sein kann. Wenn ein Lehrer zum Beispiel im Fach Mathematik seinen Unterricht sehr dicht an den Klausur- oder Klassenarbeitsaufgaben ausrichtet, diese Aufgaben auch sogar vorher an der Tafel vorrechnet, kann er jedes gewünschte Ergebnis erzielen. Jede Klassenarbeit oder in der Oberstufe Klausur, sollte einen sogenannten Transfer beinhalten, das heißt, die Schüler sollen den Stoff, der im Unterricht besprochen wurde, anwenden können. Übt man mit den Schülern genau diesen Transfer, den man in der Arbeit dran nimmt, wird man auch gute Noten erzielen, nur ist es dann kein Transfer. Diese Vorgehensweise ist dann gefragt, wenn man eine gute, eine mittlere und eine schlechte Arbeit beim Fachbereichsleiter abgeben muss und im Falle eines Anteils von mehr als einem Drittel Ausfällen die Arbeit genehmigungspflichtig ist. Wird die Genehmigung durch den Fachbereichsleiter verweigert, muss man die gesamte Arbeit noch einmal schreiben lassen, was bedeutet, die neue Arbeit ausrichten und je nach Klassenstärke bis zu zwanzig Stunden korrigieren. Das passiert einem nicht oft. Stellt man eine Aufgabe mit einem Transfer und bespricht diesen nicht genau vorher mit den Schülern, so macht man sich bei den Schülern unbeliebt, denn diese sagen dann, das hätte man ja im Unterricht nicht drangenommen. Allerdings sind an dem Oberstufenzentrum, an dem ich unterrich-tete, immer alle Arbeiten im Fach Mathematik bei allen Lehrern genehmigt worden, denn sonst hätte der Koordinator seine eigenen Arbeiten noch einmal schreiben lassen müssen.

Es gibt Eltern, die sich bitter darüber beklagen, dass hre Kinder immer nur schlechte Noten erhalten und behaupten dann, ihre Kinder würden eben immer nur die schlechten Lehrer bekommen. Vielleicht kommt es zu den schlechten Noten einfach deshalb, weil diese Kinder nur vom brennenden Ehrgeiz der Eltern getrieben an der falschen Schule sind und einfach nicht das Zeug für ein Gymnasium oder eine Fachoberschule haben, gut gemeint zwar, aber nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut.

Da an dem Oberstufenzentrum dringend Lehrer für Datenverarbeitung gesucht waren und ich gefragt wurde, ob ich nicht dieses Fach unterrichten möchte, sagte ich zu. Ich sollte erst einmal ein halbes Jahr lang bei Kollegen hospitieren, aber nicht nur beim Fachbereichsleiter, so lautete die Anweisung des Abteilungsleiters.

In der ersten Zeit setzte ich mich beim Fachbereichsleiter für Informatik in die Klasse und hörte zu. Es war Frühling, aber immer noch kühl draußen, so dass ich mich darüber wunderte, dass einige Mädchen sehr leicht bekleidet zum Unterricht erschienen, jedoch löste sich dieses Rätsel sehr schnell. Der Fachbereichsleiter war etwa sechzig Jahre alt und machte einen sehr ruhigen Eindruck. Immer wenn die Schüler, insbesondere die Schülerinnen am Computer saßen und Daten über die Tastatur eingaben, stellte er sich hinter sie und kommentierte die Eingaben der Schülerinnen, dabei massierte er ihnen mit seinen riesigen Pranken die schmalen Schultern, manchmal die nackte Haut, denn manche Mädchen zogen ein Trägerhemdchen an. Ich hätte vor peinlicher Berührung in den Boden versinken können. Einmal sah ich, dass er an seinem Lehrerpult saß und ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen mit dem Rücken zur Klasse gewandt, ihm das Gesicht zugewandt, neben ihm gegen das Lehrerpult gelehnt stand. Sie hatte eine dünne Jacke an, die mit einem Reißverschluss verschlossen war. Plötzlich griff er an den Reißverschluss und zog ihn auf und sofort wieder zu und beide lachten dabei. Das ganze dauerte etwa eine Sekunde. Im Laufe der Jahre schien er allerdings einen siebten Sinn dafür entwickelt zu haben, welche Mädchen sich dieses gefallen lassen oder sich gar geschmeichelt fühlten und welche nicht. Da der Unterricht im Fach Datenverarbeitung immer nur mit der halben Klasse stattfand, die andere Hälfte wurde von einem anderen Kollegen zum selben Zeitpunkt in einem anderen Raum unterrichtet, waren die Gruppen auch nicht sehr groß, deshalb konnten die Lehrer eine fast familiäre Atmosphäre herstellen. Es war mir so peinlich, dass ich mit jemanden darüber reden musste.

Ein Kollege, der ebenfalls Datenverarbeitung unterrichtete, sagte, dass er oft das Gefühl habe, zu stören, wenn er in einen Nebenraum kommt und der Fachbereichsleiter für Datenverarbeitung mit einer Schülerin allein im Raum ist, was ohnehin unzulässig ist, in einem solchen Falle muss der Lehrer die Zimmertür offenlassen. Ein anderer sagte:Ach, lässt er das immer noch nicht sein, darüber haben sich schon viele Eltern beschwert. Das geht seit Jahren so. Über eine Schülerin sagte er, sie stünde unter seinem persönlichen Schutz!

Nach etwa sechs Wochen der Hospitation bei diesem Fachbereichsleiter wollte ich bei einem anderen Kollegen hospitieren, so war es mir von der Abteilungsleitung ja auch aufgetragen. Als ich dies dem Fachbereichsleiter mitteilte, war er schier außer sich vor Empörung. Sofort zückte er sein Notizbüchlein und sagte mit bebender Stimme:

>>Sie werden meinen Unterricht am 17.04., am 19.04. und am 21.04. übernehmen!<< Sprachs, knallte das Büchlein zu und steckte es in seine Innentasche.Was machte ihn so wütend, warum ärgerte er sich so darüber, dass ich bei einem anderen Kollegen hospitieren wollte? Befürchtete er, ich könnte dem anderen Kollegen von seiner Grabscherei erzählen? Ich dachte darüber nach, ob ich seinen Unterricht übernehmen sollte, sprach mit anderen Kollegen darüber, die mir abrieten und ging zu ihm und teilte meinen Entschluss, dass ich seinen Unterricht nicht übernehmen werde mit, woraufhin er mir kurz und knapp mitteilte: Herr Gentil, wir werden ein Problem miteinander bekommen! Da es langsam anfing mich zu ärgern, sagte ich ihm: Nun, dann ist es eben so, vielleicht lässt es sich ja nicht vermeiden.

Damit war jedenfalls klar, dass ich auch in Zukunft nicht mehr bei ihm hospitieren würde, denn das Verhältnis war im Eimer. Hinzu kam, dass er sich auch beim Abteilungsleiter über mich beschwerte, was natürlich keine Konsequenzen hatte, denn der kannte sein Verhalten ohnehin. Trotzdem war es mir natürlich nicht angenehm, denn ich wusste ja nicht, was er dem Koordinator gesagt hatte.

Im nächsten Schulhalbjahr sollte ich das Fach Datenverarbeitung unterrichten. Ich wurde in mehreren Klassen eingesetzt. Da alle Computer vernetzt waren und nur einer berechtigt war, die Zugriffsrechte zu vergeben und auch die Software freizugeben, nämlich der Fachbereichsleiter, schwante mir Böses. Nach etwa sechs Wochen, als ich die ersten kleinen Programme in Delphi schreiben ließ, meldeten etwa vier von zwölf Schülern, dass ihr Programm nicht liefe. Bei den anderen Acht lief alles wunderbar. Ich hatte in jedem Falle diese Aufgaben, die ich den Schülern zu programmieren gab, vorher bei mir zuhause ausprobiert, zudem den Schülern diese Programme erst über den Beamer vorgemacht, wobei sie immer liefen. Es war nichts zu machen, bei einigen liefen die Programme nicht. Es dauerte nicht lange und zumindest ein Kollege erzählte im gesamten Schulhaus, bei Gentil laufen die Programme nicht, dass sie bei den anderen Acht liefen, wurde einfach unter den Teppich gekehrt, obwohl gerade das ein Beweis dafür ist, dass die Programme von mir einwandfrei abgefasst waren. Am letzten Schultag des Halbjahres schalteten die Schüler die Computer ein, und merkwürdigerweise, ohne dass die Schüler an den Programmen noch etwas geändert hätten, funktionierte bei allen alles einwandfrei. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Ich war jedenfalls derart entnervt, dass ich dieses Fach nicht mehr an dieser Schule unterrichten wollte, jedenfalls nicht, bevor der Fachbereichsleiter im Ruhestand ist.

Gerade die Lehrer mit den Fächern Mathematik und Physik oder Datenverarbeitung fühlen sich gern den anderen Lehrern gegenüber überlegen, spielen gern die Superlogiker und tun so, als ob sie die Weisheit mit Löffeln gefressen hätten, immer eine kleine Knobelaufgabe (Hirnzwicker) parat. Gerade diese Lehrer waren es, die eben behaupteten, meine Programme seien nicht gelaufen. Über den Fachbereichsleiter für Daten-Verarbeitung machten sich alle lustig wegen seiner Verhaltensweisen. Ein anderer Kollege, der es ähnlich wie ich mit dem Unterrichtsfach Datenverarbeitung versucht hatte, sagte, er wolle dieses Fach nicht mehr unterrichten, denn bei dem Fachbereichsleiter hätte der größte Teil der Klasse eine Eins als Abschlussnote bekommen, außerdem durften die Schüler alle Unterlagen in der Klausur benutzen, was dazu führte, dass die Schüler, die von dem Fachbereichsleiter unterrichtet wurden, viel besser abschnitten als bei ihm, was ihn natürlich ärgerte.

Was mich besonders ärgerte war die Tatsache, dass gerade der Kollege, den ich eigentlich mochte, der auch Daten-verarbeitung unterrichtete, in der Schulband, in der wir beide spielten, ich am Schlagzeug, er an der Trompete, erzählte, meine Programme liefen nicht. Dies führte nicht nur dazu, dass die Kollegen, die in der Band mitspielten, schlecht von mir dachten, sondern auch die Schüler, die in der Band mitspielten. Er hatte auch nur von anderen gehört, die Programme von Gentil liefen nicht, festgestellt hat er es selber ja nicht, kann er ja auch nicht, denn sie liefen ja. Nicht zuletzt dieses Verhalten hat bei mir dazu geführt, dass ich aus der Band ausstieg, obwohl wir etwa anderthalb Jahre miteinander geübt hatten. Ein Schüler in der Band nannte mich wegen meiner Fächerkombination „Möchtegernmathematiker“, denn er hatte gerade in der Abteilung IV unserer Schule ein recht gutes Abitur gemacht und wollte nun anfangen Mathematik zu studieren, meine Kenntnisse und Fähigkeiten in diesem Fach konnte er nicht kennen. Solche respektlosen Aussagen sind ein Ergebnis eben solcher Verhaltensweisen und übler Nachrede. Ursprünglich hatten wir verabredet, diese Band sollte nur von Lehrern betrieben werden, denn es gab schon zig Bands, die jedes Mal wieder aufgelöst wurden, weil die Schüler nach dem Abitur nicht mehr wiederkamen. Es war aber geradezu selbstverständlich für den Musiklehrer der gymnasialen Oberstufe, der übrigens auch Stundenpläne in der Abteilung vier schreiben durfte, einen seiner absoluten Lieblingsschüler als Bassisten vorzustellen. Merkwürdigerweise hatten seine Lieblingsschüler alle ein wenig Ähnlichkeit miteinander (Honi soit qui mal y pense ...). Als ich schon anderthalb Jahre am Gymnasium unterrichtete, rief mich dieser Kollege, der Trompeter, an und fragte mich, ob ich in seiner Big Band spielen möchte, denn sie suchten einen Schlagzeuger. Weil mir das Schlagzeugspielen ungemeinen Spaß macht, sagte ich spontan zu. Als ich noch einmal darüber geschlafen hatte und mir den Ärger von damals in Erinnerung gerufen hatte, hielt ich es doch für besser, nicht mehr mit Mitgliedern aus der alten Band zusammenzuspielen und sagte doch ab, eine Wankelmütigkeit, die nicht schön war, zugegeben, trotzdem glaube ich, dass es die richtige Entscheidung für mich war.

An diesem Oberstufenzentrum gab es mehrere Gruppen innerhalb der Lehrerschaft, die sich gut verstanden und die mit den Kollegen der anderen Gruppen nicht konnten. Sicherlich gibt es das überall, in jedem Unternehmen oder in der Verwaltung, allerdings wirkt es sich in einer Schule, in der die Lehrer miteinander pädagogisch arbeiten sollen, besonders negativ aus. Ich behaupte, dass insbesondere die Schul- und auch die Abteilungsleitung, womit nicht nur der Koordinator gemeint ist, die Hauptverursacher für diese Polarisierung innerhalb der Lehrerschaft waren. Trauen konnte man nur wenigen Kollegen, man verhielt sich lieber neutral und hielt sich aus allem raus, damit war man zwar nicht auf der sicheren Seite, das reduzierte allerdings den Ärger ein wenig.

Zu Beginn eines neuen Schuljahres übernahm ich eine Klasse im Fach Mathematik. Die erste Stunde verging damit, dass ich die Formalitäten wie Namenliste, Klausurtermine, Fehlzeiten, etc.. abklärte. Weil ich die Schüler ins Gespräch bringen wollte, fragte ich die Schüler, was denn der Lehrer, der in dem Schulhalbjahr davor in der Klasse unterrichtet hatte, mit ihnen besprochen hat. Nichts, war die Antwort. Wie - Nichts? Na - Nichts eben, gab ein Schüler zur Antwort.

Ein anderer Schüler: >>Sind wir doch ehrlich, eigentlich haben wir doch wirklich nichts bei dem Lehrer gemacht, der hat uns doch nur dummes Zeug erzählt und wir haben bei dem doch nur gequatscht.<< Viele stimmten ihm zu.

Jeder, der schon einmal unterrichtet hat, weiß, dass es viel anstrengender ist, eine Unterrichtsstunde mit Nichts durchzuführen als mit dem Stoff, den man eigentlich nach Lehrplan zu unterrichten hat. Wenn ich zum Beispiel in einer letzten Stunde vor den großen Ferien, wenn alle Noten feststehen oder in der letzten Stunde vor Weihnachten mit einer Klasse auf deren Wunsch hin keinen Unterricht mehr gemacht habe, sondern entweder ein Quiz oder ein gemeinsames Frühstück mit ihnen durchgeführt habe, dachte ich in jedem Falle, dass ich so etwas nicht noch einmal durchführen werde, denn es ging immer sehr laut zu und es war anstrengender als der reguläre Unterricht. Nach Aussage der Schüler brachte es also ein Kollege fertig, sich selbst zu martern und zu quälen und das ein ganzes Jahr lang mit eben Nichts! Tolle Leistung des Kollegen. Da ich aber den Kollegen kannte und wusste, dass dieser seinen Unterricht nicht mit Nichts ausfüllt, sondern den Lehrplan abarbeitet, wie es seine Pflicht ist, musste es also etwas anderes sein, was die Schüler dazu bewog, derartig irreale Behauptungen aufzustellen. Leider stellten aber auch Kollegen über andere Kollegen derartige Behauptungen auf. Der Kollege, der die Trompete in der Band spielte, behauptete unaufhörlich über andere, sie würden im Unterricht für Datenverarbeitung mit den Schülerinnen und Schülern ständig im Internet surfen, statt mit den Schülern geordneten Unterricht zu machen, außerdem würde im Mathematikunterricht ständig nur gequatscht werden. Derartige Behauptungen werden von Lehrern aufgestellt, weil diese Kollegen ernsthaft glauben, zu den wenigen Lehrern zu gehören, die guten Unterricht machen. Gerade dieser Kollege zählte die Tage bis zu seiner Pensionierung. Als wir nach dem Unterricht einmal ein Stück des Weges zusammen gingen, er sein Fahrrad neben sich herschiebend, ich ging zu meinem Auto, erzählte er mir, dass er früher wirklich gerne Lehrer war, heute aber völlig frustriert sei und die Tage zähle. Am meisten ärgerte er sich über undisziplinierte und pampige Schüler, dann pflegte er zu sagen, und dabei bekam er einen furchtbar hasserfüllten Gesichtsausdruck, er ballte die Faust und holte weit aus:

>>Gleich eene in de Fresse, verstehst de...?<< Natürlich meinte er es nicht so, aber es war Ausdruck seines Seelenzustands.

Bei einer Musikveranstaltung in der Columbiahalle in Tempelhof unterhielt ich mich mit einer Studentin der Betriebswirtschaftslehre, sie war etwa dreiundzwanzig Jahre alt. Sie erzählte mir, dass sie an dem Oberstufenzentrum, an dem ich unterrichtete, das Abitur abgelegt hatte. >>Wir hatten bei einem Lehrer Mathematikunterricht, den wir gehasst haben, wir mochten ihn nicht. Niemand von uns hätte sagen können, warum wir ihn nicht mochten, wir mochten ihn eben einfach nicht und deshalb haben wir ihn bekämpft und mies behandelt bis zum Schluss. Heute, im Nachhinein, tut es mir leid, denn es war ein so guter Lehrer, von dem man soviel lernen konnte.<< Für mich zeigte das, dass Schülerinnen und Schüler oft gar nicht mehr wissen, warum sie einen Lehrer nicht mögen, sie haben sich darauf festgelegt, ihn nicht zu mögen, dann bleibt es dabei für den Rest aller Tage, der Lehrer kann sich noch so abstrampeln, er wird in der Klasse keinen Fuß mehr auf die Erde bekommen. Sollte es dann noch so sein, dass die Eltern auch gegen diesen Lehrer sind, weil die Söhne oder Töchter zuhause über diesen Lehrer negativ reden, ist und bleibt es ein irreparables Verhältnis. Selbst diese Studentin sprach immer noch in der „Wir-Form“, wir haben ihn ... Ich kann mir nicht vorstellen, dass wirklich alle in der Klasse so dachten, sondern ich bin davon überzeugt, dass einige Wenige alle anderen angesteckt hatten, die anderen, die anders dachten, haben sich vielleicht gar nicht geäußert. Vielleich sollte sie einfach einmal hingehen und gerade diesen Lehrer einmal besuchen und mit ihm darüber sprechen, vielleicht interessiert er sich vielmehr dafür, was seine ehemaligen Schüler heute machen als sie es glaubt.

An einem Freitagnachmittag, ich wollte nachhause gehen, es war sehr kalt draußen, deshalb hatte ich einen Wintermantel an und ging gerade durch die Eingangshalle der Schule. An der Seite standen ein etwa siebzehnjähriger Schüler und eine Schülerin, die in ein aufgeregtes Gespräch verwickelt waren, vielleicht kann man es auch Streit nennen, denn sie wurden ziemlich laut. Als ich mit ihnen etwa auf gleicher Höhe war, warf der Junge mir ein benutztes Taschentuch vor die Füße. Ich forderte ihn auf: Heben sie das Taschentuch auf! >>Ja, gleich!<< gab er in barschem Ton zur Antwort und wandte sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu. >>Nein, sofort!<<, lautete meine erneute Aufforderung. Er ging zu dem Taschentuch, nahm es auf und warf es in die Mülltonne, mit den Worten: >>So, sind sie nun zufrieden?<< Damit wäre der Fall natürlich erledigt gewesen, aber plötzlich besann er sich eines aus seiner Sicht anscheinend Besseren und hob die Fäuste und lief auf mich zu, in der eindeutigen Absicht, mit mir eine physische Auseinandersetzung anzufangen. Unser beider Glück war, dass zwischen uns noch etwa fünf Meter Abstand lagen, das gab mir die Zeit, noch ein beschwichtigendes Wort an ihn zu richten: >>Ich hoffe, sie haben genau überlegt, was sie jetzt tun wollen!<<, versuchte ich das Unglück doch noch abzuwenden. Er senkte die Fäuste und stand wutschnaubend sehr dicht vor mir. Ich fragte ihn, ob er auch so mutig sei, mir seinen Namen zu nennen. Plötzlich stellte sich das Mädchen zwischen uns, obwohl wir ohnehin recht dicht beieinanderstanden. Ich ging um sie herum und forderte ihn noch einmal auf, mir seinen Namen zu nennen. Wieder stellte sie sich zwischen uns. Plötzlich liefen beide davon und riefen mir aus etwa zehn Metern Entfernung zu: >>Geh nach hause Alter, entspann dich erst einmal am Wochenende, schlaf dich erst mal aus!<<

Da es an diesem Oberstufenzentrum in vier Abteilungen etwa viertausend Schülerinnen und Schüler gab, konnte es schwierig werden, den Namen dieses Schülers herauszubekommen. Nach etwa einer Woche sah ich einen meiner Schüler mit diesem Schüler in der Mensa. Ich fragte ihn, ob er mir den Namen dieses Schülers nennen wolle. Warum ich denn den Namen des Schülers wissen wolle, fragte er mich. Das ist egal, ich möchte wissen, wie er heißt. Nein, das sage ich ihnen nicht, erst müssen sie mir sagen, warum sie das wissen wollen.

Es war also so, dass ein Bruder, wie sie sich gegenseitig nannten, den anderen deckt und schützt. Da ich feststellte, dass dieser Schüler immer nur an zwei Tagen in der Woche in der Schule war, war somit auch klar, dass er in der Abteilung für Berufsschüler beziehungsweise Auszubildende war. Ich ließ mir die Schülerbögen zeigen und anhand der Fotos wurde ich fündig. Ich wollte das einfach nicht auf sich beruhen lassen, denn das war doch etwas zu viel, was sich dieser junge Mann geleistet hatte. Wenige Tage später bat ich den Abteilungsleiter dieser Abteilung und den stellvertretenden Schulleiter, denn der Schulleiter war für derartige Geschichten verhindert, darum, diesen Schüler zu einem Gespräch vorzuladen. Dieses fand auch statt, im Büro des stellvertretenden Schulleiters.

Zu den Personen: Der Stellvertretende Schulleiter war ein Mann um die Fünfzig, immer mild lächelnd, immer bemüht, nett zu sein, vielleicht war er es ja auch. Der Abteilungsleiter war in ähnlichem Alter, meistens mit einem dunklen zweireihigen Anzug bekleidet, das ganze Ensemble wurde mit bunten Plastikbadelatschen, die er auf nacktem Fuß trug, abgerundet. Hätte er den dunklen Anzug nicht angehabt, sondern ein Handtuch um den Bauch gewickelt, hätte man glauben können, er käme gerade unter der Dusche hervor.

Dieses Gespräch begann damit, dass ich aufgefordert wurde, meine Darstellung des Vorfalls vorzutragen, was ich auch tat. Danach fragte der Abteilungsleiter den Auszubildenden nach seiner Version des Vorfalls. Dieser gab zur Antwort: >>Ich kenne diesen Lehrer gar nicht, ich habe ihn zwar schon einmal im Schulhaus gesehen, aber ich habe noch niemals mit ihm gesprochen.<< >>Sie sehen, Herr Gentil ...<<, so der Abteilungsleiter, >>es steht Aussage gegen Aussage, da können wir nichts machen!<<

Er fuhr fort, an den Schüler gewandt: >>Stellen sie sich doch einmal vor, jeder würde seine Papiertaschentücher einfach auf die Erde werfen, dann würde der Dreck in dieser Schule bald kniehoch stehen, das sehen sie doch bestimmt ein-oder?<<

Der Schüler nickte stumm, den Blick nach unten gerichtet wegen dieser ach so strengen Ermahnung durch den Abteilungsleiter. Der Vorwurf wegen des Taschentuchs schien also nicht vom Tisch, man hielt es also für wahrscheinlich, dass dieses so stattgefunden hatte, der Vorwurf der versuchten physischen Gewalt gegen Lehrer war nicht mehr relevant. Dieser Abteilungsleiter meinte wirklich, er müsse einen Schüler vor einem Lehrer schützen, statt umgekehrt den Lehrer vor physischer Gewalt durch Schüler. Es ist sicherlich richtig, Auszubildenden gegenüber Großzügigkeit an den Tag zu legen, denn wenn ein Auszubildender seinen Ausbildungsplatz verliert, hat man ihn vielleicht damit für den Rest seines Lebens bestraft, das sollte nicht sein. Aber dennoch muss es eine andere Reaktion des Abteilungsleiters geben, als eben den Beweis für die Behauptung des Lehrers einzufordern, wenn er diesen nicht erbringen kann, nur die Reaktion: Dumm gelaufen für sie, Kollege, an den Tag zu legen. Ein schriftlicher Tadel wäre eine ernsthafte Warnung für den Auszubildenden gewesen, der niemals auf dem Zeugnis erschienen wäre, es sei denn, es hätte einen Wiederholungsfall gegeben.

Ich halte es für absurd, dass Lehrer beweisen müssen, dass ein Schüler gewalttätig geworden ist, denn das wird ihm wohl in den seltensten Fällen gelingen, kann der Schüler sogar Zeugen bringen, dass es diese Gewalt gar nicht gegeben hat, wäre die Folge daraus, dass sich der Lehrer den Vorwurf der Verleumdung gefallen lassen müsste, gewalttätige Schüler könnten mit Lehrern ungestraft machen, was sie wollten.

Später fand ich heraus, dass der Grund für diese Aussage des Abteilungsleiters, es stünde hier eben Aussage gegen Aussage, in einem anderen Problem zu suchen war. Die vier Abteilungsleiter, die jeweils eine Abteilung unter sich hatten, waren sich untereinander nicht grün. Wenn es ein Problem mit einem Schüler einer anderen Abteilung gab, wurde dieser Schüler von dem Abteilungsleiter gedeckt, man lässt es sich ja nicht gefallen, von einer anderen Abteilung oder von Lehrern einer anderen Abteilung auf die fehlende Disziplin der „eigenen“ Schüler hingewiesen zu werden.

Der stellvertretende Schulleiter entschied, der Schüler solle einen schriftlichen Tadel bekommen. Damit gingen alle auseinander.

Etwa zwei Wochen später sah ich den Abteilungsleiter in der Mensa und fragte ihn, ob denn der Schüler nun den schriftlichen Tadel bekommen hätte. Ja, zwei Stück sogar! Ich habe mit seiner Ausbilderin telefoniert und habe noch einmal mit dem jungen Mann gesprochen.

Ich war über diese dummdreiste Art empört und wandte mich an den stellvertretenden Schulleiter. Ich sagte ihm, dass wir doch verabredet hätten, dass dieser Auszubildende einen schriftlichen Tadel bekommen sollte, warum es denn nicht so geschehen ist?

>>Ich werde mich jetzt dahinter klemmen, ich möchte das Thema endlich vom Tisch haben<<, gab er zur Antwort. Später sagte er, der Tadel sei heute früh abgegangen. Was drin gestanden hat, habe ich niemals erfahren, wer ihn bekommen hat auch nicht, nicht einmal weiß ich, ob er wirklich abgeschickt worden ist, hätte ich nachgehakt, hätte ich eine unfreundliche barsche Antwort erhalten und mich in dieser Angelegenheit noch einmal geärgert. Deshalb zog ich es vor, es dabei bewenden zu lassen und in Zukunft lieber so zu tun, als ob ich es nicht sehe, wenn jemand Papier und Dreck auf die Erde wirft, so wie es Kollegen auch machen, die weitaus weniger Nerven dabei lassen und folglich auch ein entspanntes Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern haben, jedenfalls nicht noch zusätzlich mit physischer Gewalt bedroht werden.

Schulleitungen oder die Schulverwaltung oder der Senat geben bestimmte Richtlinien bezüglich der Hausordnung, die eingehalten werden soll und muss, vor, die Lehrer haben die Einhaltung zu überwachen und zu kontrollieren, folglich auch den Ärger, der aus der Nichteinhaltung durch Schüler resultiert, am Hals. Immer wieder gab es das leidige Problem mit den Handys, denn die Hausordnung besagte, dass das Telefonieren mit dem Handy auf keinen fall geduldet wird, jeder, der mit seinem Handy telefonieren wollte, musste das Schulhaus verlassen, um vor der Tür damit zu telefonieren. Jeder Lehrer war verpflichtet, die Einhaltung streng zu kontrollieren.

Während einer Pausenaufsicht auf dem Gang innerhalb des Schulhauses sah ich, wie eine Schülerin mit dem Handy telefonierte und sprach sie an: >>Sie dürfen im Schulhaus nicht mit dem Handy telefonieren, bitte beenden sie das Gespräch, sofort!<< Die Schülerin zeigte keine Reaktion, sondern drehte mir den Rücken zu und telefonierte weiter. Also ging ich um sie herum, um wieder vor ihr zu stehen und sprach sie erneut an. Diesmal zog sie es vor, Schutz hinter einem Pfeiler zu suchen, so dass ich keine Möglichkeit hatte, sie direkt anzusprechen. Als sie das Gespräch beendet hatte, setzte sie eine völlig hasserfüllte und verbiesterte Miene auf, guckte mich von oben nach unten und zurück an und herrschte mich sehr boshaft verärgert an: >>Das war sehr wichtig, das war ein Gespräch mit meiner Ausbilderin!!<<

>>Das ist mir klar, dass sie aus ihrer Sicht nur wichtige Gespräche führen, sollte es so wichtig gewesen sein, hätten sie es vor der Tür führen müssen<<, gab ich zur Antwort. Plötzlich drehte sie sich um und rief sehr laut in das offenstehende Klassenzimmer, in dem sie bis zur Pause Unterricht hatte: >>Leute, ihr habt doch gerade gehört, dass dieser Lehrer mich furchtbar angeschrien hat - o-der?<< >>Ja, das haben wir!<<, entgegneten einige. Das stimmte überhaupt nicht, denn ich schreie niemals, es mag sein, dass, wenn ich etwas mehrmals sagen muss, ich es auch deutlicher sage, wenn es meiner Ansicht nach selbstverständlich ist, aber niemals schreie ich. In diesem falle handelte es sich um eine sehr selbstbewusste Auszubildende, die anscheinend niemals daran dachte, sich zu verteidigen, sondern den Grundsatz beherzigte, Angriff ist die beste Verteidigung. Ein Wort gab das andere, Einsicht war von dieser Schülerin nicht zu erwarten, deshalb entschied ich, der Auszubildenden die kleine Erinnerung an die Hausordnung durch den Abteilungsleiter vornehmen zu lassen und bat die Schülerin, mir zu folgen, damit wir dieses durch den Abteilungsleiter klären lassen können. Also gingen wir, genauer: Ich durfte diesem resoluten Persönchen folgen, denn sie lief so schnell auf ihren feuerroten Pumps in Richtung Büro des Abteilungsleiters, mich völlig ignorierend, als ob sie ohnehin mit dem Abteilungsleiter noch ein Hühnchen zu rupfen hätte, vor mir her, dass ich Mühe hatte, ihr zu folgen. Natürlich war der Abteilungsleiter nicht da, vielleicht zu meinem Glück, denn nach meinen Erlebnissen mit dem Schüler, der mit erhobenen Fäusten auf mich losging, und ich den Beweis für meine „freche Behauptung“ schuldig bleiben musste, hätte er der Schülerin, die ja in seiner Abteilung unterrichtet wurde, Recht gegeben, denn beweisen konnte ich ja nichts. Daraufhin verließ sie das Büro des Abteilungsleiters in Richtung des Büros des Schulleiters, natürlich um sich über mich zu beschweren. Nun saßen wir also beide vor dem Schulleiter, der immer die Ansicht vertrat und auch dementsprechend handelte, deeskalierend wirken zu wollen und sich unsere jeweilige Position schildern ließ. Dann sprach er ein „Machtwort“ in ruhigem Ton eines Frauenflüsterers an die Schülerin gerichtet, das sich so anhörte: >>Sie wirken ja nun sehr reif auf mich, sie scheinen ja auch schon etwas älter zu sein ..., hier im Schulgebäude ist das Telefonieren mit dem Handy ja nun einmal nicht gestattet,...., deshalb haben wir uns diese Hausordnung ja gegeben ..., Herr Gentil hat sich also korrekt verhalten, ...<<

In diesem Stil ging es noch eine ganze Weile weiter, ich rutschte immer unruhiger auf meinem Stuhl hin und her. Ich hätte platzen können bei dieser seichten Schwafelei, wie er der Schülerin noch schmeichelte und liebevoll Honig um die Backen schmierte. Er macht der Schülerin, die die Hausordnung zu Beginn ihrer Ausbildung durch Unterschrift zur Kenntnis genommen hatte, klar, dass der Lehrer sich korrekt verhalten hat, wenn er sie ermahnt und an eben diese Hausordnung erinnert hat, er entschuldigt somit den Lehrer Gentil und dessen Verhalten. Am Ende ging das Ganze aus wie das Hornberger Schießen, die Schülerin ging zurück in ihre Klasse, vielleicht erzählte sie den Mitschülern, wie sie diesen Lehrer vor dem Schulleiter rund gemacht hätte, ich hatte den Frust noch einige Tage im Bauch, und der Schulleiter glaubte, seine Deeskalationsstrategie sei wieder einmal aufgegangen. Obwohl ich mir fest vornahm, bei einem ähnlichen Ereignis das nächste Mal wegzugucken und nicht zu reagieren, wenn ein Schüler oder eine Schülerin im Schulhaus mit dem Handy telefoniert. Leider war ich dennoch inkonsequent, denn nur wenige Monate später hatte ich ein ähnliches Erlebnis noch einmal. Eine Schülerin telefonierte sogar während des Unterrichtes mit dem Handy, natürlich war das Gespräch diesmal nicht sehr wichtig, sondern sehr sehr wichtig, denn diesmal war es die Mutter, die angerufen hatte. Obwohl die Mutter natürlich genau wusste, wann der Unterricht ihrer Tochter stattfindet, somit die Mutter niemals angerufen hätte, denn die Tochter hat ja während des Unterrichtes das Handy abzustellen, außerdem wird die Tochter ein derart wichtiges Gespräch auch nicht mit den Worten: >>Du, ich muss jetzt Schluss machen, tschüüss,<< beenden, behauptete die Schülerin, es sei ein Gespräch mit der Mutter gewesen, die Mutter hätte sie angerufen. Gegenüber dem Abteilungsleiter behauptete sie: >>Herr Gentil ist sofort pampig geworden!<< In diesem Stil ging es weiter. Der Abteilungsleiter fiel ihr dabei auch nicht ins Wort, sondern fand dieses anscheinend normal.

Auf dem Weg zurück ins Lehrerzimmer flog vor mir eine Tür auf, ein Lehrer ging verärgert mit rotem Kopf heraus, ein Schüler hinter ihm her, grinsend und rief dem Lehrer hinterher: >> Denken sie an Erfurt!<< Gemeint war der Amoklauf eines Schülers in Erfurt. Der Lehrer hatte wohl versucht, in einem "Vier-Augen-Gespräch" auf den Schüler pädagogisch einzuwirken.

Da der Schulleiter merkte, dass das Handyverbot an der Schule nicht durchzusetzen war, er ja ohnehin als derjenige bekannt war, der immer auf Deeskalation aus war, gab er auch bald bekannt, dass das Telefonieren mit dem Handy in der Schule erlaubt sei, aber nur in den Pausen. Es war also nach Ansicht des Schulleiters für die Schüler nicht zumutbar, in den Pausen zum telefonieren vor die Tür zu gehen, er war also nicht in der Lage, die Hausordnung gegenüber den Schülern durchzusetzen, Umfaller nennt man solche Leute. Er passt die Hausordnung dem Schülerverhalten an, nicht die Schüler der Hausordnung.

Mit dieser Schülerin hatte ich noch einige andere unliebsame Auseinandersetzungen. Ich gab eine Klausur im Fach Mathematik zurück und rechnete den Schülern alle Aufgaben an der Tafel vor. Am Ende der Stunde kam sie zu mir und sagte, sehen sie mal, die Aufgabe habe ich doch genauso gerechnet, wie sie gerade an der Tafel vorgerechnet haben. Diese Aufgabe hatte sie allerdings mit Bleistift von der Tafel abgeschrieben, wohl, damit sie sie, wenn der Schwindel auffliegt, wieder wegradieren konnte oder aus welchen Gründen auch immer. Natürlich konnte ich ihr nicht sagen, dass ich gemerkt hatte, dass sie betrügen wollte, denn beweisen konnte ich es ja nicht, somit führte ich als Begründung dafür an, weshalb ich ihr keine Punkte nachträglich geben werde, dass sie diese Aufgabe mit Bleistift geschrieben hatte, alle anderen Aufgaben aber mit einem Kugelschreiber. Diese Argumentation war natürlich sehr schwach, aber erst einmal gab sie sich damit zufrieden, radierte dann die Aufgabe weg. Meine Vermutung war, dass sie es dann nach der Rückgabe der nächsten Klausur anders machen wird und fehlende Aufgaben mit einem Kugelschreiber nachtragen wird. Also nahm ich mir vor, die nächste Klausur dieser Schülerin vor der Rückgabe zu fotokopieren, was ich auch tat. Der neue Schulleiter untersagte mir, diese Fotokopien gegen die Schülerin zu verwenden, mit den Worten: >>Wir wollen doch den jungen Menschen nicht ins offene Messer laufen lassen, wenn sie die Arbeit kopieren, dann nur, wenn sie es vorher der Schülerin auch sagen.<< Es dürfte klar sein, dass es dann auch überflüssig ist, die Arbeit vorher zu kopieren. Somit war ich gezwungen, vor der Rückgabe der Klausur anzusagen, dass ich einige der Arbeiten vor der Rückgabe fotokopiert habe. Mir ist ein Fall bekannt, in der eine Auszubildende einen derartigen Betrugsversuch gegenüber ihrem Chef versucht hat, die daraufhin fristlos entlassen wurde. Es ist nicht mein Wunsch, eine Schülerin oder einen Schüler deshalb von der Schule zu werfen, aber ich darf dieser achtzehnjährigen Schülerin nicht einmal wegen Betrugsversuchs eine Sechs geben, ohne mir Ärger mit dem Schulleiter einzuhandeln. Wie soll ein Achtzehnjähriger lernen, dass Fehlverhalten nun einmal eine Strafe nach sich zieht? –nur darum geht es mir.

Eine andere beliebte Form des Versuchs, den Lehrer hinters Licht zu führen, ist das teilweise zuhause Anfertigen der Klassenarbeit oder der Klausur. Der Lehrer muss den Schülern natürlich vorher sagen, was in der Arbeit drankommt.

Mit diesem Wissen setzen sich einige Schüler zuhause hin und arbeiten die vermutlich vom Lehrer am nächsten Tag gestellten Fragen schon aus. Zum Beispiel habe ich den Schülern einer Klasse gesagt, dass sie sich darauf vorbereiten sollten, dass ich wissen möchte, woran die Weimarer Demokratie gescheitert ist. Nachdem ich die Aufgabenblätter verteilt hatte, fingen alle an zu schreiben. Nach etwa fünf Minuten ging ich durch das Klassenzimmer und zu den einzelnen Tischen, um eventuelle Unklarheiten und Fragen zu beantworten. Eine Schülerin hatte bereits eine ganze Seite eng beschrieben, ohne Verbesserungen, alles sehr sauber und das nach fünf Minuten. Dieses beschriebene Blatt hatte sie durch ein leeres abgedeckt, das sie nun gerade beschreiben wollte. Ich fragte:

>>Haben sie diese ganze Seite in den fünf Minuten geschrieben? – Das kann ich nicht glauben.<< >>Wie bitte, ich hör ja wohl nicht richtig! Das habe ich auswendig gelernt, deshalb konnte ich es so schnell hinschreiben und dagegen ist ja wohl nichts zu sagen, oder?<< Entgegnete sie. Da ich nicht das Gegenteil beweisen konnte, ließ ich es dabei bewenden und ging wieder zum Lehrerpult. Erstaunlicherweise hatten die Freundinnen dieser Schülerin ebenfalls schon jeweils ein ganzes Blatt beschrieben. Ich war aber sicher, dass diese Schülerinnen das ausgearbeitete Blatt von zuhause mitgebracht hatten. Da ich in dem Block danach in derselben Klasse Mathematik unterrichtete, sah ich allerdings doch noch eine Chance, meine Vermutung beweisen zu können:

Als alle Arbeiten abgegeben waren, ging ich ins Lehrerzimmer und nahm mir die Arbeiten vor, von denen ich glaubte, dass sie zum Teil schon von zuhause mitgebracht worden waren. Zu Beginn der neuen Stunde nahm ich die Aufgabenblätter der Schülerinnen, die, wie ich meinte, getrickst hatten und bat diese Schülerinnen, diese Aufgabe, die sie schon nach fünf Minuten fertig hatten, noch einmal aufzuschreiben, diesmal gab ich ihnen zehn Minuten Zeit dafür. Ich gab den anderen Schülern eine Aufgabe, die sie in den zehn Minuten rechnen sollten. Die Mädchen fingen an zu schreiben, allerdings schien es ihnen diesmal nicht ganz so flott von der Hand zu gehen wie beim ersten Mal. Zuhause stellte ich fest, dass die zweite Version der Aufgaben, die ich in der Arbeit gestellt hatte, mit der ersten „Blitzversion“ nichts zu tun hatte, denn die Aufgaben waren beim zweiten Durchgang vollkommen unvollständig, großenteils falsch bearbeitet, bei der ersten Version stimmte aber alles. Dies führte dazu, dass diese Schülerinnen von mir die Note `ungenügend` bekamen. Am Tage nach der Rückgabe der Klausur bat mich dieses Mädchen, die eben behauptet hatte, alles auswendig gelernt zu haben, um einen Gesprächstermin mit der Mutter.

Um ungestört mit der Mutter und der Tochter dieses Gespräch führen zu können, ging ich mit ihnen in ein Nebenzimmer. Sie war sehr extravagant gekleidet und etwa genauso hochgewachsen wie ich, machte einen sehr resoluten Eindruck, sprach ständig von ihrer Schulzeit, was sie mit Begriffen aus der Mathematik spickte, um mir damit zu zeigen, dass sie ein Gymnasium besucht hatte, wobei die Frage, wie lange sie dieses besucht hatte allerdings offen blieb. Ferner erwähnte sie ihre anstrengende Tätigkeit im Krankenhaus, was mir sicherlich Respekt einflößen sollte und mich vermuten lassen sollte, sie sei Ärztin. Soweit ihr Profilneuröschen. Ich vermutete aber eher, sie war Schwester, wegen des resoluten Auftretens vielleicht Oberschwester.

>>Ich habe meiner Tochter immer gesagt, Kind, hab ich gesagt, wenn du etwas nicht verstehst, lerne es auswendig<<, kam sie auf den Punkt. >>Nein, dann soll sie fragen, dafür sind Lehrer da!<<, erwiderte ich. Die Mutter weiter: >>Wenn meine Tochter mir sagt, dass sie das, was sie in zehn Minuten aufgeschrieben hat, auswendig gelernt hat, dann glaube ich es ihr auch!<< >>Es waren nur fünf Minuten<<, nervte ich. >> Nein, es waren zehn! <<, die Replik der Mutter. >>Wenn meine Tochter sagt, sie hat es auswendig gelernt, dann glaube ich es ihr auch, meine Tochter hat mich noch niemals angelogen, wir haben schon verabredet, als sie noch ein kleines Kind war, dass sie mich niemals anlügen wird, das hat sie mir versprochen, und so war es bis zum heutigen Tage!<<, dozierte die von ihrer Tochter begeisterte Mutter. >>Wenn ihre Tochter den Stoff auswendig gelernt hat, warum hat sie ihn nicht gleich nach der Pause, also zehn Minuten später noch einmal aufschreiben können, in der kurzen Zeit kann sie nicht alles vergessen haben – oder?<< >>Das weiß ich doch nicht, wahrscheinlich war sie zu aufgeregt!<< Die Tochter, die dabei saß, war sichtlich vorher von der Mutter darauf eingestellt worden, zu schweigen, denn sie sagte nichts. Da wir in dieser Angelegenheit nicht weiterkamen, und ich ihr natürlich nicht sagen konnte, dass ihr die Tochter vielleicht ja dieses Mal doch die Unwahrheit gesagt hat oder sich sogar beide, Mutter und Tochter auf die Unwahrheit, um das hässliche Wort Lüge zu vermeiden, geeinigt hatten, denn anders ist dieser Widerspruch nicht zu erklären, zog die Mutter einen dicken Ordner, auf dessen Deckel das Wort `Geschichte` geschrieben stand, aus der Tasche und knallte ihn mit dem Anschein der Verärgerung vor mich auf den Tisch. >>Sehen sie mal, was meine Tochter im Geschichtsunterricht vorher an der Realschule alles gemacht hat, an der Schule bei dem Lehrer konnten die Schüler mit Referaten zu guten Noten kommen, das war ein guter Lehrer!<< Aha, dachte ich in dem Augenblick, sie zieht ein neues Register, weil sie mit dem alten nicht weiterkommt. Da sie aber den Ordner sehr wuchtig auf den Tisch geknallt hatte, klappte der Deckel des Ordners hoch und der Inhalt wurde für einen kurzen Augenblick teilweise für mich sichtbar. Dieser Inhalt hatte sicherlich nichts mit Geschichte oder mit Sozialkunde zu tun, das hatte ich in dem Augenblick erkennen können. Außerdem war dieser Ordner so dick, dass ich fast vermuten musste, die Tochter hat die letzten fünf Schuljahre jeweils dreimal wiederholen müssen.

Da lag er nun, der Ordner, das geballt Wissen, abgeheftet, sicherlich dreihundert Seiten stark. Die Mutter sprach mit der Tochter, so dass ich die Gelegenheit bekam, per „Daumenkino“ drin zu blättern. Sicherlich hatte nicht eine Seite davon mit dem Fach Geschichte zu tun.

>>Ach, darf ich mal in den Ordner reingucken, ich möchte natürlich gern von meinen Kollegen lernen, damit ich es in Zukunft besser machen kann?<<, bat ich, obwohl ich ja nun wusste, dass der Inhalt nichts mit Geschichte zu tun hatte.

>>Nein, das dürfen sie nicht!<< entschied sie, grabschte den Ordner hastig und ließ ihn wieder in der Tasche verschwinden. Ich sagte ihr noch, dass ich die Note für die Klausur nicht ändern werde, und wir verabschiedeten uns.

Eines hatte ich aus dem Gespräch bestimmt zum zehnten Mal gelernt, nämlich, dass die Eltern Ihren Kindern genau das vorleben, was die Kinder oder Jugendlichen in der Schule an Verhalten und Benehmen an den Tag legen, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Die Tochter versuchte, mit einem billigen Trick eine gute Note zu bekommen, und die Mutter deckt das Verhalten der Tochter, indem sie ebenfalls einen billigen Trick, nämlich den mit dem Ordner, praktizierte. Da die Tochter genau wusste, dass die Geschichte mit dem Ordner eine Lüge war, um mich zu beeindrucken und hinters Licht zu führen, denn sie kannte ja ihren eigenen Geschichtsordner, hatte auch die Behauptung, die Tochter würde die Mutter niemals anlügen, einen üblen Beigeschmack, denn Lügen war anscheinend für die Mutter kein Tabu, das sie an die Tochter weitergegeben hat, sondern das Gegenteil, ein probates Mittel, die eigenen Interessen durchzusetzen.

Es soll nicht moralisiert sein, die meisten Menschen sagen hin und wieder die Unwahrheit, davon nehme ich mich nicht aus, trotzdem halte ich es in einer solch geplanten Aktion, wie sie diese Mutter an den Tag gelegt hat, für verwerflich und einer guten Erziehung abträglich.

Was mich an dieser ganzen Geschichte noch brennend interessiert hätte, wäre: Welchen Inhalt hatte das Gespräch zwischen der Mutter und der Tochter auf dem Nachhauseweg und: Hat sich die Mutter gegenüber der Tochter geschämt?

Es hat sich in der Bevölkerung eine Kultur breit gemacht, die wie selbstverständlich Lehrer als ungerecht bezeichnet, was selbst in Lehrerhasser-Büchern zum Ausdruck kommt, meistens deshalb, weil die Eltern oder die Schüler die eigene Leistung anders einschätzen als der Lehrer oder die Lehrerin. Sicherlich ist auch dieses normal, dass der Beurteilte seine eigene Leistung anders beurteilt als der Beurteilende, aber die wenigsten Schüler führen ihre schlechten Noten auf ihre eigene Faulheit, auf ihre eigenen Defizite oder auf ihr eigenes Desinteresse zurück, der Schuldige wird bei Unwohlsein woanders gesucht.

Eine besonders hübsche aber ebenso ordinäre Schülerin, die Mitschüler nannten sie deshalb „Vagina“, wohl auch, weil ihr Vorname bei boshafter Abänderung ähnlich klang, stand im Fach Mathematik glatt sechs, in anderen Fächern sah es nicht anders aus. Sie behauptete lauthals, der Lehrer Gentil sei eben schwul und hätte deshalb etwas gegen Mädchen. Kurz vorher kam ich aus einer anderen Klasse, in der mir von den Jungs vorgeworfen wurde, ich würde die Mädchen bevorzugen. Diese Schülerin sagte, sie würde das Probehalbjahr bestehen, wenn ich ihr eine 4 geben würde, es läge jetzt somit nur noch an mir, wie ihre Zukunft aussähe. Natürlich wusste ich, dass sie in noch mindestens fünf anderen Fächern auf ganzer Linie versagt hatte, sie nahm das Ganze auch nicht sehr ernst. Eines Tages, kurz vor Weihnachten, unternahm sie den letzten Versuch, das Probehalbjahr doch noch zu retten. Sie war sehr hübsch und durchaus vom Herrn reichlich beschenkt, dieses wollte sie in Form schulischer Erfolge nutzbar machen, deshalb besann sie sich auf ihre Kernkompetenzen. Nachdem alle Schüler das Klassenzimmer verlassen hatten, stellte sie sich in die Tür des Klassenzimmers, die Ellenbogen gegen die Türzarge gelehnt, ein Bein schräg gestellt, damit für den Lehrer Gentil keine Möglichkeit des Entkommens, auch nicht in Form von „Durchkrabbeln“ auf allen Vieren durch das untere Drittel der Türöffnung möglich sein sollte. Sodann schlug sie mit lässiger Geste die aufgeknöpfte Jacke auf um zu vermeiden, dass mein Blick ihre eigentlichen Werte verfehlt. Sie war mir haushoch überlegen.

>>Na, Herr Gentil, haben Sie sich schon einmal überlegt, was sie von mir zu Weihnachten haben möchten?<< Ein zwar unmoralisches, aber vielleicht gerade deshalb verdammt verlockendes Angebot.

>>Ja, habe ich ...<<

>>Und, was ist es, was sie begehren?<<, wobei sie ihre Stimme auf dunkelsamt erotisch stellte.

>>Eine fleißige Schülerin.<<

>>Das kann doch nicht alles sein – oder?<<

>>Doch, das scheint mir allerdings ein Wunsch zu sein, den sie nicht ohne weiteres erfüllen können. Jetzt möchte ich aber gerne den Raum verlassen, denn ich habe noch Unterricht.<<

Merkwürdig, vorgestern hatte sie mich doch noch als schwul bezeichnet ...

Eines Morgens lag ein Zettel in meinem Fach, auf dem die Telefonnummer eines Gymnasiums geschrieben stand, dort sollte ich bitte sofort anrufen. Der Schulleiter dieses Gymnasiums und ich verabredeten ein Gespräch noch an diesem Nachmittag.

MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN!

Подняться наверх