Читать книгу MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN! - Felix Gentil - Страница 8
Beispiele für vernachlässigte Kinder
ОглавлениеWenn von Vernachlässigung die Rede ist, meint man damit meistens eine Verwahrlosung, hauptsächlich hygienischer Art. Ich meine mit Vernachlässigung aber eine fehlende Bereitschaft, Kinder zu führen, sie zu erziehen, ihnen Werte für das Leben in unserer Gesellschaft mitzugeben und nicht, ihnen alles durchgehen zu lassen und damit zu meinen, man hätte den Lieben damit etwas Gutes für die Zukunft getan.
Eltern haben heute zwei, manche drei Kinder, oft ist es so, dass diese Eltern damit vor schier unlösbaren Aufgaben stehen. Wer es nicht glaubt, sollte sich Fernsehsendungen wie Supernanny oder die Reporter ansehen:
Durch eine kreischende Mädchenstimme wurde ich wach, wie dumm, ich war vor dem eingeschalteten Fernseher eingeschlafen. Es lief eine Sendung zum Thema Erziehung der Kinder. Ein etwa dreizehnjähriges Mädchen wollte einen Joghurt mit Früchten nicht essen. Dieses Mädchen schrie wie am Spieß: >>Ich mach mich doch nicht zum Affen und esse dieses Zeug da!<< >>Warum denn nicht?<<, wollte die Mutter in fast ängstlichem Ton wissen. >>Ganz einfach, weil es scheiße schmeckt, darum nicht!<<, schrie das Mädchen mit hochrotem Kopf und hysterischer Stimme. Die Eltern stehen dabei und lächeln völlig hilflos, das Mädchen gibt den Ton an, es wird von den Eltern nicht geführt, sondern eigentlich bedürfen die Eltern selber der Führung.
Hätte man mir als Kind in dem Alter nur ein einziges Mal einen solchen Joghurt angeboten, ich bin sicher, ich hätte ihn bis heute nicht vergessen.
Das, was die Eltern ihrem Kind an verkorkster Erziehung haben angedeihen lassen, bezahlen die Lehrer mit ihren Nerven, mit ihrer eigenen Psyche, mit dem Spaß an ihrem Beruf, letztendlich mit ihrer Gesundheit, denn dieses Mädchen wird in der Schule bestimmt nicht anders reagieren als zuhause, wird mit den Lehrern nicht anders reden als mit ihren Eltern. Die Ursprünge der Fehler in der Erziehung liegen Jahre zurück, der Lehrer kann es jedoch nicht bei einem hilflosen Lächeln belassen, sondern muss reagieren. Die Vernachlässigung ist in diesem Falle darin zu sehen, dass die Eltern nicht bereit sind zu erziehen, sondern mit Hilflosigkeit reagieren.
Eltern können Ihre Kinder bestrafen, zum Beispiel können sie ihren Kindern das Taschengeld kürzen, Halloween kann man ausfallen lassen, bei Fehlverhalten der Kinder Stubenarrest erteilen oder den Gang ins Kino streichen, all diese Mittel sind wirksam, wenigstens können Eltern damit drohen, um Kinder dazu zu bewegen, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen, ein Lehrer oder eine Lehrerin hat diese Möglichkeiten nicht, das klassische Nachsitzen oder die Strafarbeit, wie sie früher noch üblich waren, gibt es nicht mehr, jedenfalls dann nicht, wenn die Eltern Widerspruch dagegen einlegen. Solche Maßnahmen bestrafen ja auch letztendlich den Lehrer oder die Lehrerin, denn er oder sie muss dem Schüler hinterherlaufen, um die Arbeit einzufordern oder muss das Nachsitzen beobachten, muss die Eltern erst einmal schriftlich informieren und um „Erlaubnis“ bitten, wenn diese sich weigern zuzustimmen, gibt es Ärger. Was macht der Lehrer, wenn der Schüler beim Nachsitzen wieder schlechtes Benehmen an den Tag legt? Was macht der Lehrer, wenn der, der nachsitzen soll, zum Nachsitzen nicht erscheint, wenn die Strafarbeit nicht ordentlich oder gar nicht angefertigt wird? In jedem Falle ist der Lehrer in der Situation, dass er dem Schüler regelrecht hinterherlaufen muss, ärgerlich ist es allemal, es bewirkt nichts. Vor dreißig Jahren war derartiges Schülerverhalten eine Ausnahme, heute ist es in nahezu jeder Klasse die Regel.
Ich habe einen Extremflegel vor die Tür gestellt, weil er wiederholt den Unterricht störte, woraufhin sich die Mutter beim Elternabend bitter und lautstark über mich beschwerte, weil ich damit die Aufsichtspflicht über ihren Sohn vernachlässigt hätte, denn wenn ich den Jungen des Raumes verweise, könne ich ja nicht kontrollieren, was der Junge vor der Tür anstellt. Dieses fand gerade zu der Zeit statt, als in der Bundesrepublik bekannt wurde, dass sich ein Junge vor eine Straßenbahn geworfen hatte. Ein Kollege, der ähnliche Erfahrungen mit Eltern gemacht hatte, warnte mich, dass die Mutter vor Gericht mit Sicherheit Recht bekommen würde. Sollte es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung wegen eines solchen Falles kommen und die Mutter Recht bekommen, könnte der Schüler danach mit mir machen, was er will, denn er weiß natürlich, dass so etwas nicht ohne Nachwirkungen für den Lehrer bleibt, außerdem wäre ein solcher ´Sieg` über den Lehrer das Erste, was er in der Schule herumerzählen würde. Statt sich mehr um das Kind zu kümmern, werden lieber derartige Gerichtsprozesse von Eltern angestrengt. Manche Lehrer lassen einen Schüler die Klinke von außen herunterdrücken, dann kann der Schüler nicht weglaufen, wenn man ihn vor die Tür stellt, das hat aber den Nachteil, dass man während des Unterrichtens immer darauf achten muss, dass die Klinke unten ist, außerdem könnte es als Entwürdigung des Schülers aufgefasst werden.
Einige Tage später setzte ich diesen Schüler wieder vor die Tür, diesmal aber, auf Anraten des Schulleiters, der mit diesem Schüler ähnliche Probleme hatte, so, dass er dem Unterricht weiterhin von draußen folgen konnte, denn ich ließ die Tür einen Spalt breit offen. Die Folge war, dass er den Unterricht von draußen noch viel mehr störte als er es von drinnen getan hat. Er streckte den Arm herein und tat so, als ob er eine Kasperlepuppe über der Hand hätte und veranstaltete damit Mätzchen, die die Klasse zum Lachen brachten und vom Unterricht ablenkten, dann stand er wieder im Türrahmen, dann war er wieder gar nicht mehr zu sehen. So ging es eine Weile weiter, bis ich ihn wieder hereinholte, die Klasse applaudierte lautstark, vermutlich nicht mir.
Als ich diesen Jungen fragte, wann ich seine Mutter am Telefon erreichen könne, sagte er: >>Das weiß ich doch nicht, die geht morgens um acht aus dem Haus und kommt abends um neun wieder.<< Somit war klar, wo die Ursache für das Problem zu suchen war, der Junge agierte nicht, er reagierte. Die Mutter vernachlässigte in egoistischer Weise ihren pubertierenden Sohn und warf dem Lehrer Vernachlässigung der Aufsichtspflicht vor. Wohlstandsvernachlässigung nennt man so etwas. Die Mutter arbeitet beim Film. Natürlich ist das Verhalten dieses Schülers nur ein Beispiel für einen Teil der Schüler, deren Eltern ursächlich für das Fehlverhalten sind, sei es, weil sie ihren Kindern dieses Verhalten vorleben, oder weil sie sich nicht genug um ihre Kinder kümmern. Die Schuld wird allerdings heute oft bei den Lehrern gesucht, nicht bei den Eltern, ja gerade die Eltern, die sich nicht genug kümmern, werfen den Lehrern Desinteresse an ihrer Arbeit vor.
Endlich hatte ich die Mutter dieses Jungen dann doch am Telefon und bat sie zu einem Gespräch in die Schule, weil der Junge mich `Arschloch` genannt hatte. Natürlich kann mich ein Kind dieses Alters nicht beleidigen, ich muss aber darauf reagieren, denn sonst verlieren die anderen Schüler jede Achtung vor mir. Der Klassenlehrer dieser Klasse wollte bei diesem Gespräch nicht anwesend sein, was er mit den Worten: >>Ich glaube, das wird nicht nötig sein, außerdem bringt es ja auch nichts<<, begründete.
Ich dachte lange darüber nach, was er wohl damit meinte, `es bringe ja auch nichts´, bin aber erst später darauf gekommen.
Nun erschien die Mutter in der Schule, ich hatte ihr am Telefon gesagt, dass ich sie an der Eingangstür empfangen werde. Sie reichte mir zum Gruß die Hand, so, wie man es bei guten Freunden macht, bei Menschen, die sich seit Jahren kennen, wir hatten uns aber vorher noch nie gesehen, sie sagte aber nichts, stellte sich nicht einmal vor, denn sie telefonierte gerade mit dem Handy, die Sonnenbrille ins Haar geschoben. Wie ich meine, ist auch das eine Respektlosigkeit, denn sie hätte das Handy vorher abstellen können, die Gespräche, die von ihr ausgingen, hätte sie rechtzeitig vorher tätigen können, so gab sie mir jedenfalls das Gefühl, dass es für sie wichtigere Dinge gab als das Gespräch mit dem Lehrer über ihren Sohn. Bis sie das Gespräch endlich beendet hatte, stand ich daneben und wartete. Als es endlich soweit war, sagte sie: >>Das war wichtig ...<< Erstaunlich, dass die meisten wichtigen Gespräche, über das Handy geführt, mit dem Satz: „Tschüss, ruf mal wieder an ...“ oder ähnlich enden. Seit es Handys gibt, gibt es nur noch wichtige oder sogar sehr wichtige Gespräche.
„ Jaaa? Ach hallo, ich bin gerade Penny Discount, machstn heute Abend...?“ Ist das wichtig oder sogar sehr wichtig?
Als wir uns endlich gegenübersaßen, sie hatte den Autoschlüssel und das Handy vor sich auf den Tisch gelegt, sagte sie: >>Er lügt mich an und er macht nicht, was man ihm sagt, sagen sie mir doch, was ich tun soll, ich bin beruflich so eingespannt ... , etc. etc. .<<
Mit der Erkenntnis, wo die Ursachen zu suchen sind, nämlich bei der Mutter und nicht bei dem Jungen, hoffte ich, Einfluss auf die Mutter nehmen zu können, ihr klarmachen zu können, dass sie ihrem Sohn sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollte, sich schlicht mehr um ihren pubertierenden Sohn kümmern sollte. Mein Bemühen war erfolglos, sie schien mir gar nicht zuzuhören.
Nach dem Gespräch mit der Mutter verstand ich die Worte des Klassenlehrers, denn es hatte schon viele solcher Gespräche wegen dieses Schülers gegeben, und auch ich hatte bei dem Gespräch mit der Mutter den Eindruck, dass ich mich mit einer Person über einen uns beiden fremden Jungen unterhalte, so wie man sich über den Sohn des Nachbarn unterhält.
Dieser Schüler wurde schon in der siebten Klasse allein gelassen. An der Schule geistert noch heute die Geschichte herum, Kollegen seien mit der Klasse einmal verreist gewesen und man hätte allen Schülern genau das Territorium abgesteckt, das sie nicht verlassen sollten. Eines Morgens war dieser Junge verschwunden, alle hätten nach ihm gesucht. Als er etwa eine Stunde später wieder im Ferienlager erschien, hatte er eine Plastiktüte in der Hand und war ganz erstaunt darüber, dass alle so einen Wirbel wegen seines Verschwindens machten, er hätte doch nur im Nachbardorf Bier geholt.
Die Leistungen dieses Schülers waren nicht nur im Fach Mathematik ohne Wenn und Aber glatt sechs, also ungenügend, obwohl er sicher recht intelligent war.
Wenige Minuten nachdem ich in dieser Klasse die Aufgabenblätter der zweiten Klassenarbeit verteilt hatte, spürte ich schon an der Reaktion dieses Jungen, dass er für die Arbeit nicht gelernt hatte, denn er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und guckte immer auf das Blatt seines Nachbarn, vielleicht, weil er glaubte, der hätte andere Aufgaben, wendete das Blatt ein ums andere Mal von der Vorder- auf die Rückseite, obwohl diese nicht beschrieben war und zurück. Plötzlich sagte er sehr laut und deutlich in die Klasse hinein: >>Hey, Leute, lasst uns doch alle einfach verweigern und ein leeres Blatt abgeben, dagegen kann der doch gar nichts machen, der kann uns doch nicht allen eine Sechs geben, das, was der hier verlangt, haben wir doch gar nicht geübt!<<
Die Klasse wurde wegen dieser Bemerkung immer unruhiger, die ersten Schüler forderten lautstark Ruhe ein. Da es in der Klasse immer grummeliger wurde, bekam ich ein flaues Gefühl in der Magengegend, denn schon bei der ersten Klassenarbeit gab es Probleme, weil eine Hornisse in den Klassenraum geflogen war, alle Mädchen kreischend und verängstigt an der Wand standen und die Jungs cool schmunzelten und weiterschrieben. Bis die Hornisse endlich aus dem Raum war, waren sechs der fünfundvierzig Minuten um, die vielleicht später fehlten.
Ich habe als Lehrer dafür zu sorgen, dass es in der Klasse während einer Klassenarbeit eine Prüfungsatmosphäre gibt, übrigens auch eine sehr theoretische Forderung an die Lehrer, denn wenn es diese Arbeitsatmosphäre nicht gibt, kann der Lehrer nur mit Ermahnungen versuchen, etwas dagegen zu tun. Handelt es sich um einen Schüler, der die Arbeitsatmosphäre stört, kann man ihm die Arbeit wegnehmen, nur wer glaubt denn, dass er dann ruhig ist? Ermahnt man die Schüler, sie mögen ruhig sein und die Aufgaben rechnen, dauert es trotzdem eine Weile, bis dann Ruhe einkehrt, sollte die Arbeit dann katastrophal schlecht ausfallen, sagen die Schüler, sie hätten ja auch erst zehn Minuten später Ruhe gehabt, deshalb hätte die Zeit nicht gereicht, deshalb wird man die Arbeit noch einmal schreiben lassen müssen. Schickt man den Störenfried aus dem Raum, nachdem man ihm die Arbeit abgenommen hat, vernachlässigt man die Aufsichtspflicht. Viele Schulleiter geben auch die Order an die Lehrer oder Lehrerinnen heraus, dass Schüler, die eine Klassenarbeit frühzeitig abgeben, den Raum nicht vor dem offiziellen Ende der Arbeit verlassen dürfen. Ich verwarnte ihn und sagte, dass diese Aufforderung zum Boykott der Arbeit ein Nachspiel haben wird.
Natürlich ist das ein Extremfall, obwohl gerichtliche Auseinandersetzungen, von Eltern angestrebt, mit ähnlicher Problematik viel häufiger vorkommen als manch einer glaubt.
Um diese Androhung nicht einfach im Sande verlaufen zu lassen, bat ich die Kolleginnen und Kollegen, die auch in der Klasse unterrichteten, um eine Klassenkonferenz, was diese allerdings ablehnten, denn laut Aussage der Schulleitung wäre dieses der zweite Schritt, erst müsste ich einen Tadel schreiben. Da ich sicher war, dass es sich dabei um die vielleicht zehnte Maßnahme gegen diesen Schüler handelte und nicht um die erste, vermutete ich, dass die Kollegen eine Klassenkonferenz deshalb ablehnten, weil dieses bedeutet hätte, dass der Freitag Nachmittag bis in die Abendstunden verloren gewesen wäre, denn dazu müssen die Eltern eingeladen werden, und weil es zudem sicherlich wenig bis nichts bewirkt hätte.
Am selben Tag schrieb ich einen Tadel, den ich ihm zur Unterschrift der Mutter mitgab. Nach acht Tagen lag die Unterschrift immer noch nicht vor, deshalb rief ich bei ihm zu hause an und fragte, ob der Sohn den Tadel vorgelegt hätte. Am nächsten Tag gab mir dieser Schüler den unterschriebenen Tadel, jedoch stand auf der Rückseite des Blattes die Bemerkung der Mutter, dass ihr Sohn „den Tadel sehr wohl vorgelegt“ hätte, und dass es aus ihrer Sicht dringenden Gesprächsbedarf zwischen ihr, dem Schulleiter und mir gäbe, sie wolle so bald wie möglich einen Brief an den Schulleiter abschicken, was jedoch niemals geschehen ist, auch fand dieses Gespräch nie statt, allerdings gedroht hat sie mir damit allemal, wohl wissend, dass bei einem Gespräch mit dem Schulleiter etwas an mir hängen bleiben würde, belastet hat es mich über mehrere Wochen sehr, denn ich wusste nicht, was genau auf mich zukommt und wie der Schulleiter reagieren wird oder was diese Mutter an Behauptungen über mich aufstellen wird.
So ist es meistens, in einem ersten Gespräch mit den Eltern zeigen diese Einsicht, geben sogar oft dem Lehrer Recht, spätestens nach dem dritten Gespräch geben sie dem Lehrer die Schuld an der Auseinandersetzung, und meinen damit, ihren Sohn oder ihre Tochter zu verteidigen, obwohl sie selber versagt haben.