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Kapitel 1 - Pfad des Schicksals
ОглавлениеEin Junge schritt die Alte Straße entlang, die den Dunkelwald mit den Wäldern des Nebels verband. Es war eine gefährliche Route und nur wenige Reisende wagten sie zu beschreiten. Nie wäre jemand auf die Idee gekommen, die gefahrvolle Reise allein anzutreten. Aber der Junge kannte keine Furcht oder vielmehr, wenn es etwas gab, vor dem er sich fürchten und dem er begegnen könnte, würde er eben um sein Leben kämpfen müssen. Es brachte nichts, vor etwas davonzulaufen. Man musste sich seiner eigenen Feigheit stellen oder sie würde einen ewig verfolgen. Und damit er auch in der Lage war, einer Begegnung mit einer bösartigen Kreatur wie beispielsweise einem Drachen oder einem menschenfressenden Oger zu überleben, trug er einen Bogen aus Bluteichenholz über dem abgetragenen roten Umhang und hatte sich einen Köcher mit Pfeilen rechts an seinem Gürtel befestigt.
Das besondere an diesem Köcher war die unterschiedliche Beschaffenheit seiner Pfeile. Viele der Spitzen waren aus Eisen gefertigt, der Schaft aus gewöhnlichem Holz mit grauer Befiederung am Ende, andere waren aus Knochen gemacht, Schaft und Federn schwarz, so wie sie Orks oder andere Unholde verwendeten. Ein paar Pfeile bestanden aus Silber und jeder, der einmal einen Angriff durch ein Wesen der Nacht erlebt hat, weiß, warum er auf gutes Silber vertrauen sollte. Ein ganzes Bündel verfügte über gelbe oder weiße Federn und ihre Schäfte waren so lang und schmal, dass sie nur von Elfen geschaffen sein konnten. Von geringerer Zahl waren auch jene, deren Spitzen aussahen wie schwarzes Gestein. Obsidian so selten wie tödlich.
Ein einzelner Pfeil besaß eine rotweiße Befiederung und steckte seit Jahren in diesem Köcher. Er war das Überbleibsel von vielen, doch während der Junge die anderen für die Jagd oder zur Verteidigung von Leib und Leben gedankenlos verbrauchte, hatte er diesen, nachdem er festgestellt hatte, dass nur noch einer von dieser Sorte verlieben war, nie auf seinen Bogen gespannt. Stets wenn seine Finger nach einem Pfeil tasteten und über die Befiederungen strichen, zögerte er, sobald er sah, welchen er da in der Hand hielt. Er nahm sich stattdessen einen anderen, selbst wenn höchste Eile geboten war und ihn ein wild schreiender Boggart Keule schwingend angriff oder ein grimmig knurrender Wolf auf ihn zu jagte. Woher diese Weigerung rührte, den besonderen Pfeil zu benutzen, wusste er nur zu gut. Es hätte bedeutet, sich von einer weiteren Erinnerung zu trennen. Einer Erinnerung, die ihm lieb und teuer war. Und dazu war er zu feige.
Nein, sagte er sich. Das hat nichts mit Feigheit zu tun. Es besteht einfach keine Notwendigkeit ihn zu benutzen. Das ist alles.
Wie viele Jahre war es her, dass er zum letzten Mal auf dem Schießplatz gewesen war und mit seiner Schwester um die Wette schoss? Er zählte die Winter. Vier mussten es gewesen sein. Vier schneereiche Jahreszeiten, in denen sich die kalten Monate und die dunklen Nächte nur so aneinanderreihten und sich doch endlos dahinzogen. Am schlimmsten war, dass er in dieser Jahreszeit kaum auf die Jagd gehen konnte, sondern sich damit begnügen musste, in warmen Schankstuben einzukehren und sich so lange bewirten zu lassen, bis seine Münzen aufgezehrt waren. Wenn das der Fall war, musste er den Abwasch übernehmen oder auch mal einen Stapel Holz für eine warme Mahlzeit schlagen. Die ersten zwei Winter, die er mehr schlecht als recht überstand, hatte er Tage und Nächte auf den Straßen von Städten zugebracht und um jeden Bissen Brot gebettelt.
Doch nun war Sommer und der Wald stand in voller Blüte, auch wenn es bis zum Herbst nicht mehr allzu lange sein konnte. Vögel zwitscherten in den Ästen der Bäume und ein Kaninchen huschte ein Stück entfernt über die Straße. Reflexartig griff er nach seinem Bogen, besann sich jedoch. Zum einen hatte er erst gestern Kaninchen gegessen, zum anderen war das Kaninchen schon im Gebüsch verschwunden. Vielleicht kam er später an einem Teich mit Enten vorbei. Allein der Gedanke an gut angebratenes Geflügel ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Die Bäume lichteten sich etwas und er zog nun über Wiesen und Felder. Der Weg schlängelte sich an einer Reihe Apfelbäume entlang und so hielt er inne, um sich ein paar schöne, saftige Exemplare zu pflücken. Er biss herzhaft in einen besonders rosigen Apfel hinein und stopfte ein halbes dutzend in seine Tasche, die er auf der linken Seite an der Hüfte trug.
Kauend schlenderte er den ausgetretenen Pfad entlang, den der regelmäßige Verkehr der Fuhrleute zwischen Auenbach und Felskliff befahrbar hielt. Die Zwillingssonnen schienen warm auf ihn herab und eine leichte Brise fuhr durch sein zerzaustes, dunkelbraunes Haar. Er warf das Kerngehäuse weg und blieb stehen, um seine Karte zu Rate zu ziehen, die er von einem Pfandleiher in Lerchenwald erstanden hatte. Die Karte war schon ziemlich alt und verwittert, doch sie zeigte den östlichen Dunkelwald sowie den Beginn des Nebelwaldes bis hin zu den Drachendörfern hoch im Norden. Felskliff war die letzte Stadt des Königreichs Tain, danach gab es nichts weiter als endlosen Wald und das eine oder andere Räuberlager, bis man zu den Drachendörfern gelangte oder weiter nach Osten zum Drachenwallgebirge. Und südlich davon …
Er runzelte die Stirn. Die Karte zeigte nicht was im Süden des Waldes lag, doch er meinte sich dunkel daran zu erinnern. Die Universität von Nachtheim und die Stadt Dämmerlicht. Er ließ die Namen auf seiner Zunge zergehen. Aber was sollte er dort?
Nein, besser war es, er schlug sich durch den Nebelwald nach Norden zu den Drachenjägern. Dort konnte man gutes Geld verdienen. Zwar hieß es, die Bewohner der Drachendörfer seien überwiegen engverwandte Sippen, die nicht viel für Fremde übrig hatten, doch jemand wie er, der über solch außerordentliches Talent im Umgang mit Pfeil und Bogen gebot, sollte kein Problem damit haben, sich bei den alten Graubärten und ihren jungen Enkeltöchtern beliebt zu machen. Er erklomm einen Hügel und seine dunklen Augen suchten das weite Land ab. Ein paar Wegstunden entfernt thronte das Graue Gebirge. Häuser und Mauern schmiegten sich an die Hänge. Das musste Felskliff sein. Er rollte die Karte zusammen und stopfte sie in seine Tasche. Sein Ziel stand fest.
Felskliff war eine typische Kleinstadt eines minderstarken Königreiches, wenn es auch durch seine Besonderheit hervorstach, direkt am Gebirge erbaut worden zu sein. Die Mauern waren alt und verwittert, die Wachen gelangweilt. Sie stützten sich auf ihre Speere und schienen mehr daran interessiert, von den Reisenden ein paar Neuigkeiten zu erfahren, als diese nach zollpflichtigen Gegenständen zu durchsuchen.
Der Junge stapfte den Berg hinter einem Ochsengespann hinauf, das es mehr schlecht als recht die Anhöhe hinaufschaffte. Mit angewiderter Miene wich er einem Ochsenfladen aus und schob sich an den Tieren vorbei, um noch vor ihnen die Stadt zu betreten.
„Hey, da!“, rief der Kutscher. „Du da, Junge!“
Er wandte sich um.
„Pack mal mit an.“
Ein alter Graubart in dunkelgrünem Mantel und Spitzhut saß auf dem Kutschbock und schlug mit den Zügeln. Auf seiner krummen Nase saß ein seltsames Gestell. „Nun mach schon. Die Ochsen brauchen ein wenig Ermunterung, bevor der Karren noch stehen bleibt und den Berg hinunter rollt.“
Der Junge seufzte und griff in das Zaumzeug der beiden Ochsen. Die Tiere muhten und er schnaufte nach einer Weile, als er immer stärker ziehen musste, um die Ochsen anzutreiben, doch schließlich hatten sie die Steigung überwunden und der Karren hielt an.
Der Kutscher sprang vom Bock und legte rasch ein paar Steine unter die Räder, damit der Wagen nicht wegrollte. Erst dann schritt er zu seinem Helfer hinüber. „Vielen Dank. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig ist, hier heraufzufahren. Wie heißt du, Junge?“
„Fin.“
„Für dich, Fin.“ Er hielt dem Jungen eine Handvoll Münzen hin.
Fin nahm sie und betrachtete sie. Es waren Münzen unterschiedlicher Währung. Tain, Firn und natürlich aus dem Herzland. Eine fiel ihm besonders ins Auge. Ein Kupferstück mit der Prägung einer Hexe.
„Diese Münze, woher stammt die?“ Er hielt das Stück in die Höhe, damit der alte Mann sie betrachten konnte.
„Aus Dämmerlicht natürlich.“
„Dämmerlicht? Aber das ist doch …“
„Südöstlich des Nebelwaldes. Oder mitten darin. Je nachdem wie man es sieht.“
„Dann seid Ihr …“
„Durch den Wald gereist? Nein, ich habe ihn südlich umschifft. Dieses Gespann habe ich erst vor kurzem erstanden, um eine Warenlieferung transportieren zu können.“
„Oh …“ Fins Enttäuschung war ihm offenbar anzumerken.
„Aber es ist möglich“, fügte der Mann mit dem Spitzhut hinzu.
„Was?“
„Den Nebelwald zu durchqueren. Das ist es doch, was du wissen wolltest, oder nicht, Junge?“ Der Alte musterte ihn mit seinen grauen Augen. Plötzlich streckte er Fin unerwartet abermals die Hand entgegen, diesmal damit er sie schütteln konnte. „Ulf Velten. Zauberer, Kesselflicker und ein ganz hundsmiserabler Arkanist.“
„Ihr seid ein Zauberer?“, fragte Fin überrascht.
Velten klopfte gegen seinen Spitzhut. „Ich dachte diese Kopfbedeckung sei eindeutig ein Zeichen unserer Zunft.“
„Ich habe schon Zauberer und Hexen ohne Hut gesehen.“
„Natürlich hast du das.“ Velten zwinkerte ihm zu. „Aber man hat noch nie einen Nicht-Zauberer mit einem solchen Hut gesehen.“
Fin musste lachen. „Da habt Ihr sicher Recht.“
„Komm, ich lade dich auf ein Bier ein. Dabei kannst du mir in Ruhe erzählen, warum du die Nebelwälder durchqueren willst.“
„Nein, danke.“ Fin schüttelte rasch den Kopf. Er wusste selbst nicht warum er ablehnte, aber er war es nicht gewohnt, dass Leute übermäßig freundlich zu ihm waren. Das letzte Mal, dass er sich von jemand zu einem Bier hatte einladen lassen, endete damit, dass in der Kneipe eine Schlägerei ausgebrochen war und Fin dem Mann ein blaues Auge verpasste.
„Also gut.“ Velten versuchte nun offenkundig seine eigene Enttäuschung zu verbergen. „Ich muss mich ohnehin erst um das Gespann kümmern. Vielleicht sieht man sich später noch in der Stadt.“
Fin nickte, wandte sich ab und trat auf das Stadttor zu. Die Wachen, die das Gespräch mit gelindem Interesse verfolgt hatten, winkten ihn gelangweit durch. Als er durch den Torbogen trat, reihten sich vor ihm mit Schindeln bedeckte Steinhäuser aneinander, zwischen denen sich schmale Gassen voller Schlamm und Unrat hindurchzwängten. Eine typische Menschenstadt eben.
Wie nicht anders zu erwarten, war das Gasthaus Zum Bergmann bis unter den Rand mit betrunkenen Bergarbeitern gefüllt. Wie Fin rasch erfahren hatte, verdankte die Stadt ihre Einkünfte einer Silbermine und jeden Abend wankten die erschöpften Arbeiter in die Gasthäuser, um einen Teil ihres Lohns auf den Kopf zu schlagen und dort neue Lebenskraft zu schöpfen.
Fin saß allein in einer dunklen Ecke, hielt den Bierhumpen vor sich mit beiden Händen umklammert und brütete vor sich hin. Der Zauberer am Stadttor ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Fin war schon früher einem Mann wie ihm begegnet und die Erinnerung schmerzte, denn es war seine Schuld gewesen, dass der alte Mann damals gestorben war. Fin nahm einen tiefen Schluck aus seinem Humpen. So viel war schon in seinem Leben geschehen, an das er nicht zurückdenken mochte.
Eine Flötistin spielte ein flottes Lied und ein paar bärtige Männer mittleren Alters tanzten mit einer jungen Schankmaid um die Tische herum, doch Fin mochten die klangvollen Töne nicht zu begeistern. Er musste zusehen, dass er möglichst rasch nach Norden kam. In den dichten Nebelwäldern würde er endlich wieder die Einsamkeit in vollen Zügen genießen dürfen.
Die Tür schwang auf. Ein Spitzhut stieß an die Türkante und wäre dem alten Mann fast vom Kopf gefallen.
„Hoppla“, hörte Fin ihn rufen.
Der Zauberer sah sich im Schankraum um und Fin zog rasch den Kopf ein. Velten übersah ihn und stiefelte zur Bar hinüber.
Fin beobachtete, wie er ein paar Worte mit dem Barmann wechselte und sich dann von diesem ein Glas Wein einschenken ließ.
„Orks in den Wäldern“, drang eine Stimme an sein Ohr. „Ist nicht sicher allein zu reisen.“
Fin wandte sich um.
Zwei Zwerge hatten sich am Nachbartisch niedergelassen. Beide hatten dichte Bärte, der eine schwarz, der andere rot. Sie trugen Reiseumhänge in dunkler Farbe und darunter, wie es für viele Zwerge üblich war, Kettenhemden, die sie wahrscheinlich selbst geschmiedet hatten. Der rothaarige wirkte noch recht jung, während sich bei dem anderen Zwerg die Falten bereits tief ins Gesicht gruben.
„Ich hatte ohnehin nicht vor, den Nebelwald zu durchqueren“, meinte der Rotbart und hielt nach dem Schankmädchen Ausschau.
„Es wäre aber der lukrativste und wohl schnellste Weg zum Drachenwall-Gebirge“, gab der andere Zwerg zu Bedenken. „Eine Schiffspassage ist teuer und man muss die Stürme mit einberechnen.“
Der jüngere Zwerg zuckte die Achseln. „Dann eben doch durch den Wald.“
„Aber die Orks …“
„Vetter“, der Rotbart wirkte nun etwas ungehalten „willst du mich nun davon überzeugen, den Nebelwald zu umgehen oder ihn zu durchqueren? Ich werde nämlich keinesfalls schlau aus deiner Argumentation. Ah, endlich.“ Die Schankmaid hatte sein Winken bemerkt.
„Tut mir Leid, Barnet. Es ist nur so, dass ich mir selbst nicht sicher bin, welche die bessere Route wäre. Wenn wir nach Süden gehen und uns bei Flussstadt einschiffen, das lange Kap umsegeln und von Langenbrück den Fluss hinaufstaken, könnten wir je nach Wetterlage in ein bis zwei Wochen in der Sturmbucht sein. Von dort wäre es mit einer Karawane nur noch ein Katzensprung bis zum Drachenwall.“
„Ein kleines Fass von eurem besten Bier“, sagte Barnet zu dem hübschen lockigen Schankmädchen. „Was denn, Grem?“ Ihm war der Blick seines Vetters aufgefallen. „Ich habe Durst.“
Grem seufzte, zog eine Karte unter seinem Umhang hervor und breitete sie auf dem Tisch aus.
„Und wenn wir durch den Wald reisen?“, fragte Barnet. „Wie viel Zeit würde das in Anspruch nehmen?“
„Da ist man sehr geteilter Meinung. Es gibt nur wenige, die diese Route wählen. Manche sprechen von einer Woche, wenn man sich stur an den Verlauf der Alten Straße hält. Andere sagen man bräuchte mindestens vier Wochen, da man nicht ausschließen kann, sich in so einem großen Wald mehrmals zu verirren. Viele halten eine Durchquerung für gänzlich unmöglich.“
Barnet machte ein verdrossenes Gesicht. „Und das nennst du eine Abkürzung?“
„Nur wenn wir Glück haben und uns nicht verirren. Und vor allem würden wir uns die Kosten für eine Kajüte auf einem dieser schaukelnden Kähne sparen, die aussehen als würden sie jeden Moment sinken. Die Wucherpreise in Flussstadt …“
„Das ist es also, du hast Angst vor Wasser!“, stellte sein Vetter nüchtern fest. Er lachte. Die Schankmaid stellte ein kleines Fass vor ihnen auf dem Tisch ab samt zwei leeren Humpen.
„Ich mach schon.“ Er nahm dem Schankmädchen den Hammer ab, schlug selbst ein Loch ins Fass, schraubte den Zapfhahn fest und goss sich großzügig ein.
„Es ist allgemein bekannt, dass wir Zwerge die wohl schlechtesten Schwimmer sind. Ist es da verwerflich, dass ich Angst habe zu ertrinken, weil unser Schiff im Sturm sinkt oder wir von ein paar blutgierigen Seeräubern versenkt werden?“
„Die Seeroute um das Kap herum ist sicher. Seeräuber wurden da schon lange keine mehr gesehen. Die sind eher am Sündenpfuhl zu finden. Außerdem schwimmt Fett oben auf.“ Barnet lehnte sich zurück, nahm einen großen Schluck und seufzte zufrieden, den Bart voll mit Schaum. „Das ist gutes Bier.“
Grem betastete seine Leibesfülle, bevor er sich ebenfalls eingoss. „Du bist stur und gemein wie immer. Und du hast Recht“, fügte er hinzu, nachdem er an seinem Getränk genippt hatte. „Wirklich gut.“
„Also durch den Wald“, stellte Barnet fest. „Wir bräuchten nur einen Führer …“ Da fiel ihm auf, dass Fin sie beobachtete. „Was gibt’s denn da zu glotzen?“
„Nichts.“ Fin stand auf.
Die Schankmaid schritt durch die Tische entlang auf ihn zu. Sie hatte leuchtende Augen, Sommersprossen und eine hübsche Nase. Und sie lächelte ihm zu. Warum musste jedes Schankmädchen, dem er begegnete, ein sommersprossiges Gesicht haben? Wussten sie nicht, dass er dafür eine Schwäche besaß?
Er schulterte seinen Bogen, setzte die Kapuze auf, warf den Betrag für das Bier und ein zusätzliches Trinkgeld auf den Tisch und drängte sich an der jungen Frau vorbei auf die Tür zu. Hinter sich konnte er den Zauberer an der Bar lachen hören.
Draußen schlug ihm die kalte Luft erfrischend ins Gesicht. Es war Abend geworden und die Sterne funkelten bereits am nachtschwarzen Himmel über ihm. Der Feuerschein, der aus den Fenstern der Häuser drang, wirkte heimisch auf ihn. Trotzdem fühlte er sich unter diesen Menschen so fremd, als gehöre er einer anderen Sorte von Lebewesen an.
Das Stadttor war bereits geschlossen, aber sicher würde es niemanden stören, wenn er einen kleinen Spaziergang auf der Mauer unternahm. In zwei Stunden, wenn der Lärm etwas abgeflaut war, würde er in die Schenke zurückkehren und sehen, ob er dort einen Platz zum Schlafen fand. Am Morgen würde er sich dann mit Vorräten eindecken und seine lange Reise durch den Nebelwald antreten. Ein munteres Lied vor sich hin pfeifend, ging er Richtung Stadtmauer.
Die Wachen waren mindestens genauso betrunken wie die Bergmänner im Gasthaus, doch sie hatten in der Tat nichts dagegen, dass Fin einen kleinen Spaziergang über den Wehrgang unternahm. Drei von ihnen vertrieben sich die Zeit mit einem Würfelspiel im Torhaus, ein vierter wandelte in der Ferne einsam über die Mauer.
Fin bedankte sich und betrat den Wehrgang. Da die Stadt so hoch gelegen war, hatte man tagsüber eine gute Aussicht auf das Land ringsum, doch in der Nacht war nur eine rabenschwarze Fläche zu erkennen. Dafür hatte er einen guten Überblick über die erleuchtete Kleinstadt. Ein Stück oberhalb der Stadt konnte er ein hölzernes Tor erkennen, den Zugang zur Silbermine.
Gedankenverloren folgte er dem Verlauf der Mauer und bemerkte nicht, wie sich ihm eine Fackel näherte. Erst als ihn jemand anrief, schaute er auf.
„Hey, wer da?“ Es war der Wachmann, der den Wehrgang entlang patrouillierte.
„Nur ein nächtlicher Streuner.“ Fin hob die Hände um zu zeigen, dass er keine bösen Absichten hegte.
Der Wachmann trat näher und erhellte die Nacht mit seiner Fackel. Er trug einen grauen Waffenrock mit einem Berg als Wappen. Auf dem Kopf hatte er einen Rundhelm und das Ende einer Armbrust lugte über seinen Rücken. Wie viele der Bergleute trug er einen langen Bart.
„Was treibt dich um, Junge? Solltest du nicht daheim sein bei deiner Familie oder mit einem hübschen Mädchen in einer Schenke schmusen?“
Fin schüttelte den Kopf. „Meine Familie habe ich schon vor langer Zeit verloren und was die Mädchen betrifft …“ Er zuckte die Achseln.
„Hm. Tut mir Leid, wenn ich an einem wunden Punkt rühre. Es ist immer bedauerlich, wenn junge Menschen ohne Familie aufwachsen. Ich habe meine Eltern selbst bei einem Steinschlag verloren, als ich in deinem Alter war. Und mit den Mädchen hatte ich auch stets meine Probleme.“ Der Wachmann ließ den Blick zur Stadt schweifen. Fin trat nervös von einem Fuß auf den anderen, bis der Wachmann sich seiner erinnerte. „Du bist nicht von hier, oder?“
„Nein, nicht einmal aus diesem Königreich.“
„Darf ich fragen …?“
„Aus Firn.“
„Ah.“ Sein Gegenüber zog einen Flachmann hervor und nahm einen tiefen Schluck. „Das zerbrochene Königreich. Es heißt der Onkel des Königs ringe immer noch mit den Orks um die Macht.“
„Sollen sie sich gegenseitig umbringen.“
Der Wächter hob die Brauen, als Fin ihn so finster ansah. „Demnach glaubst du die Geschichte, Lord Hartwig hätte seinen eigenen Neffen umgebracht?“
„Nicht persönlich“, sagte Fin und wandte sich ab.
„Hey, warte doch mal.“
Fin blieb stehen. „Mir ist nicht nach Reden zumute.“
„Nun gut“, sagte der Wachmann langsam „aber trink wenigstens einen Schluck. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.“ Er hielt Fin den Flachmann hin.
Zögern nahm er ihn entgegen und setzte ihn an die Lippen. Kurz darauf klopfte er sich hustend auf die Brust. Sein Hals brannte. „Was ist das denn für ein Teufelszeug?“
Der Wachmann grinste und nahm den Flachmann entgegen. „So etwas bekommst du von diesem Gastwirt da oben nicht verkauft.“ Er nickte in die Richtung in der das Gasthaus Zum Bergmann lag. „Vor einem muss ich dich noch warnen, Junge, ehe du deiner Wege ziehst. Da du nicht von hier bist, hast du es vielleicht noch nicht gehört, aber es treibt sich eine Bande Orks in den Wäldern im Norden herum. Nur falls dich dein Weg in diese Richtung führt.“
„Hab Dank, doch ich habe einen Bogen und einen starken Arm ihn zu spannen.“
„Einen Bogen? Pah! Nichts geht über eine gute Armbrust, hier schau mal!“ Der Wachmann nahm die Armbrust von seinem Rücken und hielt sie Fin hin. Zögernd trat dieser näher und nahm die Waffe in Augenschein.
„Zwergenarbeit“, verkündete der Wachmann stolz. „Graf Georg kauft nur das Beste, um seine kostbare Silbermine zu schützen.“
Die Waffe war in der Tat exzellente Arbeit, das konnte Fin erkennen. Er strich über das Holz. „Eibenholz. Sehr schön verarbeitet. Mit Stahlbogen und Doppelsehne. Ziemlich schwer und vermutlich auch schwer zu spannen.“
„Dazu gibt es den Spannhebel.“ Der Wachmann nahm ihm die Waffe ab, legte einen Bolzen auf und machte sich daran die Waffe zu laden.
„Das dauert aber ziemlich lange. In der Zeit hätte ich mindestens drei Pfeile verschossen.“
„Eine dreiviertel Minute“, grunzte der Wachmann. „Dafür hat sie eine unvergleichliche Durchschlagskraft.“
„So, wie ist denn die Reichweite?“
„Bis zu zweihundert Schritt.“ Er hob die Waffe an die Schulter.
„Da hat ein guter Langbogen aber eine höhere Reichweite“, merkte Fin an.
„Ja, doch ein Pfeil prallt oftmals von einer schweren Rüstung ab. Diese Bolzen durchschlagen einen Orkhelm mit Leichtigkeit und verwandeln sein Hirn in einen Haufen Matsch.“ Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: „Wenn es nicht schon vorher nur Matsch gewesen ist.“
„Zeig es mir.“
„Hm. Siehst du den Baum da drüben, nahe der Mauer?“
Fin nickte.
„Dann pass mal auf.“
Der alte Wachmann zielte, ließ sich ein wenig Zeit und schoss.
Der Bolzen pfiff durch die Luft, es gab ein Krachen und ein dicker Ast brach vom Baum ab. Der Mann tätschelte zufrieden die Waffe. „Das hättest du mit deinem Bogen nicht vollbracht.“
„Da könntest du Recht haben.“ Fin sah sich um. „Siehst du das Ladenschild dort hinten?“
„Das Zum Reisenden?“
Fin nickte. „Ich wette, ich treffe es mit drei Pfeilen bevor du deine Armbrust erneut gespannt hast.“
„Das Schild auch nur einmal zu treffen, wäre wahrlich ein meisterlicher Schuss.“
„Dann lass es darauf ankommen.“
„Nun, gut. Um fünf Kupferstücke?“
Fin nickte. Das konnte er riskieren.
Der Wächter zog einen neuen Bolzen aus dem Köcher an seinem Gürtel.
Fin nahm den Bogen von der Schulter, legte einen der Elfenpfeile auf, zielte und schoss. Das Schild geriet heftig in Bewegung als der Pfeil ins Holz schlug. Der Wachmann pfiff anerkennend, da fiel ihm ein, dass er ja die Waffe spannen sollte, hastig machte er sich ans Werk. Der zweite Pfeil lag bereits auf der Sehne und auch er fand sein Ziel. Der Wachmann schnaufte. Er war immer noch mit dem Spannhebel beschäftigt. Fin legte den letzten Pfeil auf, das Schild schwankte noch von den vorigen Schüssen. Ein leichtes Lüftchen wehte und er wartete einen Lidschlag lang, ehe er die Sehne losließ. Wie die beiden Pfeile zuvor traf auch dieser und das Schild fiel durch den letzten Schuss herab auf die Straße.
„Meine Fresse!“, staunte der Wächter und ließ seine Armbrust sinken. „Die Wette habe ich verloren.“ Er kramte in seinem Geldbeutel und reichte Fin den Wetteinsatz.
„Hat mich gefreut.“ Fin hängte sich den Bogen um.
„Mich auch.“
Fin war bereits ein paar Schritte entfernt, als ein Knurren die Stille durchbrach. Er blickte zurück und sah, wie der Wachmann sich verlegen an den Bauch griff.
Ein Grinsen huschte über Fins Gesicht, er langte in seine Tasche und warf dem Wachmann einen der Äpfel zu, die er am Vormittag gepflückt hatte. Der fing ihn auf und lachte. Fin winkte zum Abschied und eilte die Treppen zur Stadt hinab.