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Mein Leben und ich:
eine Lebensgemeinschaft

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Die eigenen Wehwehchen sind für manche Menschen ein ergiebiges Gesprächsthema, das leicht zum Ersatz für einen fehlenden sinnvollen Lebensinhalt entarten kann.

Vor Jahren praktizierte in unserer Gemeinde ein Arzt, dem meine volle Sympathie galt. Nicht als Arzt, der Mediziner faszinierte mich als Mensch. Er hatte lange als Landarzt in einem malaiischen Dorf gearbeitet, verfügte über ein enormes Allgemeinwissen und besaß einen intellektuell geschliffenen, rabenschwarzen und dabei doch liebevollen Humor. Als Mitglied im Verein schreibender Ärzte hatte er nicht nur alte Legenden und Volksmärchen aus Malaysia als kleine literarische Kostbarkeiten zu Papier gebracht, sondern auch die bewegende Lebensgeschichte seines berühmten Berufskollegen Dr. Semmelweiß in das Versmaß klassischer Pentameter und Hexameter gegossen.

Wenn ich seine Praxis besuchte, dann nicht als Patient, sondern um mit ihm zu plaudern, was uns beiden gleichermaßen Freude bereitete. Mir war dabei nur peinlich, dass zu solchen Zeiten nicht selten mehrere kranke Menschen das Wartezimmer bevölkerten und manchmal eine Stunde ausharren mussten, bis der Onkel Doktor durch seine – als praktizierender Technikfreak selbstgebastelte – Sprechanlage schnarrte: „Der Nächste bitte.“ Mehr als einmal sprach ich ihn auf diese Unhöflichkeit an. Er antwortete immer dasselbe: „Wissen Sie, die Leute da vor der Tür sind gar nicht wirklich krank. Wären sie es, dann würde ich mich sofort um sie kümmern. Es sind meist alte Frauen, die in mein Wartezimmer kommen, weil es da gemütlich ist, weil sie dort Zeitungen und Illustrierte finden und auch schon mal einen Kaffee bekommen, und vor allem, weil sie dort Gesellschaft haben, die ihnen privat fehlt. Wenn ich sie in meine Praxis bitte, sagen sie: ‚Ach nein, Herr Doktor, nehmen Sie ruhig erst einen anderen Patienten dran. Ich habe Zeit, ich warte gerne.‘

Das Beste für sie ist, dass sich in einem Arztwartezimmer der Gesprächsstoff quasi von selbst anbietet: die eigenen Wehwehchen. Viele Menschen sprechen über nichts lieber als über sich selbst und ihre Krankheiten. Die sind das Einzige, was ihnen Profil als Persönlichkeit verleiht, das Einzige auch, dem sich kaum ein Gesprächspartner entziehen kann, denn das wäre unhöflich. Natürlich kann ich sagen: ‚Können wir nicht über etwas anderes sprechen? – Fußball interessiert mich nicht‘ oder: ‚Mit Börsenkursen habe ich nichts am Hut‘. Aber ich kann schlecht jemandem ins Gesicht schleudern: ‚Lassen Sie mich doch mit Ihrer werten Krankheit in Ruhe, die ist mir so was von egal …‘ Nein, so taktlos darf man nicht sein.“

„Diese alten Leute“, sagte mir der Arzt weiter, „haben eine regelrechte Symbiose mit ihrem Zipperlein geschlossen, ihre Krankheiten sind oft zum – oftmals letzten – Lebenspartner geworden. Solche Patienten darf ich nicht kurieren. Ich würde ihnen alles nehmen, was ihnen als Lebensinhalt noch geblieben ist, und täte ich es, dann würden sie ernsthaft krank, oder sie stürben gar. Also dürfen sie bei mir im Wartezimmer sitzen und mit Gleichgesinnten über das plaudern, was sie am meisten beschäftigt. Manchmal finden dabei regelrechte Wettbewerbe statt: ‚Ich weiß ja, dass auch Sie Kreislaufprobleme haben, aber meine sind noch viel schlimmer als Ihre: Sie bekommen ja noch die blauen Tabletten, ich muss schon seit vorletztem Jahr die roten Kapseln schlucken, und der Doktor hat gesagt, die sind viel stärker.‘“

Leben statt Angst

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