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II
ОглавлениеDer vornehme Herr in Kairo, mit dem ich manchmal sprach, sagte: „Es ist nichts los in Jerusalem.“ Was ich auch ein wenden mochte, wie sehr ich auch in ihn drang, er blieb jedesmal dabei: „In zwei Tagen sind Sie mit diesem Nest fertig, in fünf Tagen mit dem ganzen Land... es ist nichts los in Palästina.“
Er war sehr reich, dieser Herr, er hatte ausgebreitete und offenbar sehr einträgliche Geschäfte, aber er war trotzdem kein großer Kaufmann, denn ihm fehlte die Phantasie, ihm fehlte der Schwung und der Idealismus, ihm fehlte der Tropfen Künstlerblut, den ich immer noch bei großen Kauf leuten gespürt habe. Er war von einer eleganten Glätte, in seinen Manieren ebenso wie in seinem Wesen, doch er besaß keinen Funken Persönlichkeit und war eigentlich ein ganz unbedeutender Mensch. Deshalb sagte er, obwohl er unzähligemal dort geweilt hatte: „Es ist nichts los in Jerusalem.“
In der Folge unterhielt ich mich auch nur noch aus Höflichkeit über diese Dinge mit ihm. Aber hier erst, seit ich in Palästina bin, weiß ich, daß jener Mann zu den Leuten des ancien regime gehört, zu jenen Menschen, deren Engstirnigkeit es überhaupt erst verschuldet, daß ein Regime alt wird und vergeht. Er saß gesättigt, zufrieden und stolz vor den Fleischtöpfen Ägyptens. Sein innigster Seelenwunsch, daß dieser angenehme Zustand ewig dauern möge, hatte sich längst in die feste Überzeugung gewandelt, es werde immer so bleiben. Darum hütete er sich ängstlich, wo anders und nun gar auf dem heiklen Boden Palästinas, neues Leben zu sehen, hatte eine geheime, ihm selbst nicht bewußte Angst, von diesem neuen Leben die geringste Kenntnis zu nehmen. Oh ja, es sitzen überall in der Weit, nicht bloß in Ägypten, satte, zufriedene und stolze Juden vor hochgefüllten Fleischtöpfen, und rühren sich nicht, weil sie, bewußt oder unbewußt, schreckliche Angst vor dem neuen Leben im uralten Lande haben, weil ein dunkler Schreck sie peinigt, sie könnten ihre eigenen Errungenschaften gefährden, wenn sie der Arbeit für die Zukunft zu Hilfe kommen. Sie ahnen nicht, die Armseligen, wie sehr sie schon zum ancien regime gehören, sie ahnen nicht, daß sie nur um so gewisser versinken werden, je hartnäckiger sie sich an ihr gutes Leben klammern, je eigensinniger sie in ihrer Einstellung zur Welt beharren.
Gleich nach dem ersten Tage der Ankunft, habe ich Jerusalem wieder verlassen. Keineswegs weil nichts los war. Die Stadt ist mir zu stark gewesen für den ersten Tag des Anfangs. Ihr Name, dieser uralte heilige Name, brach wie ein Donnerklang in mir aus, jetzt, da er nicht bloß ein Name mehr war, sondern als Wirklichkeit vor mir lag. Dieser Name, der mit dem Brausen großer Orgeln in mir schütterte, verhängte meinen Blick, so daß ich nicht wagte, Jerusalem anzuschauen. Das Rauschen dieses Namens, darin alle Ereignisse der Bibel und der Geschichte wie ungeheuere Katarakte niederstürzten, verscheuchte den Schlaf von meinem Lager. Und am ändern Morgen bin ich fort aus der physischen und seelischen Höhenluft von Jerusalem, bin abwärts gefahren durch die Berge von Judäa, hierher an den Meeresstrand, in die Stadt Tel Awiw, die ganz von Juden erbaut ist, die eine Eroberung vorstellt, mehr noch: eine Leistung.
In den breiten, schnurgeraden Straßen von Tel Awiw lebt das Heute. Kein aufregender Schatten der Vergangenheit, nur der lebendige Puls dieser Gegenwart. Biegt man auf der großen Avenue, die zum Strand führt, in eine der Nebengassen, so winken Häuser aus den Dünen. Ohne Trottoir, ohne rechten Weg stehen sie da, auf dem gelben Sandgrund der vDünen und sind eben erst fertig geworden. Sie sind das Morgen. Und weiter draußen, die vielen anderen Häuser, noch von Gerüsten umkleidet, noch im Bau begriffen, stellen das Übermorgen vor. Diese Stadt, in der es keine Vergangenheit gibt, hat nichts als das Heute, kaum ein Gestern, und sonst nur ein höher und größer anschwellendes Morgen und Übermorgen.
Kaum fünfzehn Jahre sind es her, seit hier die ersten Wohnstätten errichtet wurden, in naher Nachbarschaft der jüdischen Quartiere von Jaffa. Dann muß man vier Jahre des Weltkriegs abrechnen, während welcher Zeit nirgendwo gebaut und überall nur zerstört wurde. Dann aber kam ein Aufschwung, wie er im Orient ohne Beispiel ist, ein Tempo, das oft amerikanisch genannt wurde, das aber solch ein Prestissimo hat, daß man die Stadt buchstäblich wachsen sehen kann, wenn man auch nur ein paar Tage bleibt.
Tel Awiw wird, dereinst einmal, eine schöne Stadt sein, auch architektonisch. Vorläufig merkt man nur, daß die Erbauer der ersten Häuser zu große Eile hatten, um überhaupt nach Schönheit zu streben, oder daß sie die Schönheit in jener Richtung suchten, die man in Wien „Sezession“, in München „Jugendstil“ nennt. Die neuen und neuesten Gebäude zeigen jedoch schon beträchtlichen Fortschritt. Man baut einfache Fassaden, deren Gliederung, deren Loggien und Balkons eine schmucklose, gleichsam natürlich gewachsene Schönheitslinie haben und sich der Küstenlandschaft ruhig einfügen, statt ihr schreiend zu widersprechen.
Jugend ist das Berückende an dieser Stadt. Jugend, Arbeit und ein jugendlich stürmisches Aufstreben. Aus allen Teilen der Erde sind Juden hier zusammengeströmt, aus dem Osten Europas, aus Indien, aus Amerika, aus dem Kapland und aus dem Yemen. Man spricht Englisch, Französisch, Deutsch, Jiddisch, auch Arabisch. Doch alle vereint die offizielle Umgangssprache: das Hebräische.
In den breiten Straßen sausen Automobile, gehen lastentragende Kamele, traben bepackte Esel, und rasche Autobusse besorgen den Verkehr nach Jaffa, das sie in etwa fünf Minuten erreichen. Tel Awiw besitzt Institute, die für ganz Palästina wichtig sind. Das Herzl-Gymnasium in der Herzlstraße gilt als Musteranstalt. Ferner ist eine Handelsschule da und eine Musikschule und außerdem eine landwirtschaftlich gerichtete zoologische Versuchsstation. Jetzt noch ein wenig außerhalb der Stadt, aber bald von ihr erreicht und umschlossen, liegt das Ruttenbergsche Elektrizitätskraftwerk. Das Turbinengebäude ebenso wie das Beamtenhaus sind von monumentaler Schönheit. Ein paar Jahre hat die nahe Nachbarstadt Jaffa von dem jüdischen elektrischen Licht nichts wissen wollen, dann aber die ablehnende Haltung aufgegeben, und jetzt wird die Leitung, die Jaffa mit Licht wie mit Kraft für eine Straßenbahn versieht, fertiggestellt. Man arbeitet eben daran, während ich hier bin.
Dieser Vorgang im Kleinen darf wohl für die ganze Entwicklung im Großen gedeutet werden. Die arabische Bevölkerung wird sich einige Jahre der Elektrizität, mit der das Land von den Juden bildlich und wirklich durchströmt und durchzuckt ist, ablehnend gegenüberstellen. Doch der Tag muß kommen, da sich auch die Araber der gemeinsamen Leitung anschließen, da sie sich der Kraft wie des Lichtes gerne bedienen, die von der jüdischen Aufbaubewegung ausgeht.
Inzwischen gibt es noch trennende Gegensätze, Abneigung, ja sogar Feindseligkeiten auf beiden Seiten genug. Man sieht freilich Araber in den Straßen Tel Awiws; man sieht gruppenweise katholische Nonnen und Geistliche hier spazieren gehen und die Judenstadt betrachten, die so grundverschieden ist von den „Judenstädten“ im alten Europa. Sie schlendern hier umher und sehen die schönen Parks, sehen die Kinder-gärten, darinnen die Kleinen und ihre Pflegerinnen hebräische Lieder singen, sehen die Jungens auf freien Plätzen vor den Schulen ihre Turnübungen vollführen, in ausgezeichneter Disziplin, trotzdem die Lehrer in ihrem Verhalten zu den Kindern ganz kameradschaftlich sind. Sie sehen den fleißigen Betrieb in den Werkstätten, die Ordnung in allen Häusern und in allen Straßen. Es blitzt und blankt hier vor Sauberkeit, wie in irgendeiner Stadt Skandinaviens und nicht wie an der Südostküste des Mittelländischen Meeres. Das Staunen dieser Menschen ist ein Irrtum. Denn weil Juden so rein, so ordentlich, so einfach fleißig sind, staunen sie, statt sich beschämt zu wundern, was Gehässigkeit, grausame Unterdrückung in Europa aus diesem Volk gemacht haben, das man viele Jahrhunderte lang in Wohnstätten gepfercht hielt, die für das Vieh zu schlecht wären, dem man alle Rechte nahm, sogar das Recht auf Arbeit.
Tel Awiw hat natürlich alle Rechte. Auch das Recht der autonomen Verwaltung. Und vom Bürgermeister an bis zum letzten Lastträger ist in diesen Mauern alles jüdisch. Die Polizisten, die Elektrizitätsmaschinisten, die Arbeiter am Wasserdienst. Alles. Selbstverständlich kann die Permanenz solcher Funktionen nie gestört und nie unterbrochen werden, auch nicht durch den Sabbath. Daß vom Freitag abend bis zum Samstag abend Christen oder Mohammedaner an die Stelle der sabbathfeiernden Juden treten, ist ein Ghettobrauch gewesen. Er muß hier, wo es kein Ghetto mehr gibt, auch keines im Geiste oder in der Seele, notwendig verschwinden. Und so wie hier am Sabbath jede Arbeit ruht, die Ruhepausen verträgt, so tun alle ihren Dienst, der keine Unterbrechung duldet: die Polizei, die Männer, die an der Elektrizität, am Wasserwerk oder am Verkehr beschäftigt sind. Auch während des Sabbaths. Das lebendige Leben ist hier wieder einmal stärker gewesen als das starre Gebot. Ja, es ist in Palästina auf allen Wegen stärker.
Am Purimfest wogt eine nach Tausenden zählende Menschenmenge durch die Straßen. Denn Tel Awiw hat schon über dreißigtausend Einwohner. Geputzte Kinder, geschmückte junge Mädchen, festlich gekleidete Jünglinge. Und der Flirt blüht. Man tanzt beim Fünfuhr-Tee zum Spiel einer kleinen Salonkapelle in dem hübschen Kasino am Meeresstrand Foxtrott und Shimmy. Man wird am Abend ein paar Bälle haben und Purimspiele. Sogar Araber sind aus Jaffa herübergekommen, um sich hier mit all den anderen zu vergnügen. Nachdem die Sonne herrlich ins Meer gesunken ist, strahlt die ganze Stadt im Lichtglanz der elektrischen Bogenlampen und Glühbirnen. Musik, Gesang, Lachen und Freude überall in der Menge, die unter diesem milden Himmel sich ergeht, die überströmt ist von der salzigen Luft des Meeres und von dem betäubenden Duft der Orangenblüte, der aus den großen Gärten der Umgebung herüberweht. Aber mitten in der Nacht knallt ein Schuß, kaum gehört im Festklang, der die Straßen erfüllt, und ein Jüngling liegt tot auf dem Pflaster. Es gibt nur eine einzige Meinung darüber: Araber! Niemand weiß, ob das ein momentaner Streit gewesen ist, oder das letzte Kapitel einer langen persönlichen Feindschaft, oder ob der junge Mensch einem planmäßigen Terrorakt als zufälliges Opfer fiel.
Tragödie des Anfangs.