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Kapitel II.
ОглавлениеKapitel 2
Hier war man nun also vor dem Haus, das der Kutscher als „Casa del Señor Deisenhofer“ bezeichnet hatte. Arthurs Vater klopte zuerst mit flacher Hand, dann mit der Faust an das Holztor und rief zuerst auf Deutsch „Hallo!“, dann auf Spanisch „Hola!“, bis endlich Schritte zu hören waren. Das groβe Tor wurde von einer freundlich lächelnden Frau geöffnet. Sie war schätzungsweise Mitte dreiβig, mittelgroβ, recht schlank, aber dennoch wohlgerundet und auffallend schön. Sie trug eine bestickte, kurzärmelige Bluse und einen weiten, knallbunten Rock, der ihr fast bis an die Knöchel reichte. Ihr volles, tiefschwarzes Haar hing in einem losen Zopf über der Schulter. Ein kleines, ausgesprochen mageres Mädchen schlüpfte ebenfalls sofort mit durch den Torspalt hinaus und beäugte den Fremden und sein Kind mit unverhohlener Neugier. Die Señora begrüβte Arthurs Vater mit fragendem Blick und verstand ihn sofort, als dieser umständlich versuchte zu erklären, dass er der Deutsche sei, den Herr Deisenhofer am Hafen hätte treffen sollen.
Daraufhin stellte sich die Frau als Luisa vor und lieβ einen nicht enden wollenden Redeschwall los. Ausholende Gesten begleiteten ihren Vortrag. Plötzlich unterbrach sie sich, Zweifel stand ihr im Gesicht. Sie musste gemerkt haben, dass der dümmlich dreinblickende Gringo kein Wort verstanden hatte. Sie lachte. Dann holte sie Luft und setzte neu zu erklären an. Langsam und mit eindeutigen Handzeichen machte sie Arthurs Vater deutlich, dass Herr Deisenhofer nicht wie geplant aus Independencia in seine Stadtwohnung hatte kommen können. Der Grund dafür schien keine Rolle zu spielen.
Mit der typischen Selbstverständlichkeit einer paraguayischen Frau nahm sie Arthur auf den Arm, strich dem Kleinen liebevoll über die rotglühenden Wangen und forderte seinen Vater auf, ihr am Haupthaus vorbei in den Hinterhof zu folgen. Das beinahe knochige Mädchen, offensichtlich ihre Tochter, lief ohne ein Wort zu sagen neben ihnen her.
Das schlichte Vorgärtchen gleich hinter der Mauer ließ keinerlei Vorstellungen von der bunten Üppigkeit des weiter hinten gelegenen Patios aufkommen. Und die Fassade der weißgetünchten, nicht allzu großen Villa wirkte trotz ihrer vielen Schnörkel irgendwie ernst … gediegen.
Ganz anders zeigten sich Einfahrt und Hinterhof. Wo einst eine relativ breite Auffahrt vom großen Holztor zum Hinterhaus geführt hatte, ließen heute riesige, buntblättrige Büsche gerade mal genügend Freiraum, um zu zweit nebeneinander her zu gehen. Die Farben der Krotons reichten von schwarz-roten, über gelblich orangefarbenen, hin zu gelbgemaserten, tiefgrünen Blättern in verschiedenen Größen und Formen. Diese bunte Blätterpracht war durchwachsen von hohen Drachenbäumen, Yuccas und anderen Grünpflanzen.
Ebenso auffallend wie die Farben und das üppige Grün war der feine, süßliche Duft, welcher schwer über der Auffahrt hing. Bei jedem Schritt, mit dem man an der Villa vorbeiging und sich dem Patio näherte, wurde der Duft betörender. Sein Ursprung, die kaum mehr als Daumennagelgroßen, strahlend weißen Blüten, führten bei der überwältigenden Farbenpracht des Gartens eher ein Schattendasein. Sie verdeckten wirkungsvoll die verwitterte Außenmauer, die das Grundstück zum rechts gelegenen Nachbarn hin abgrenzte.
An derselben Mauer befand sich ein kleines Holzhäuschen. Der herzförmig ausgesägte Abzug in der Tür wies eindeutig auf den Zweck dieses wie weggestellt wirkenden Häuschens hin.
Palmen, deren buschige Wipfel dazu zwangen, den Kopf weit nach hinten zu legen, um ihre hoch über dem Boden schwebenden, meterlangen Blätter sehen zu können, umgaben den Innenhof wie eine Mauer aus lebenden Säulen.
In der Mitte des Patios befand sich, umrahmt von rot und gelb blühenden Hibiskus-Sträuchern, eine nicht allzu große Rasenfläche, die jedoch nicht aussah, als würde sie regelmäßig abgemäht oder mit Sorgfalt gepflegt. Das herumliegende Holzspielzeug, einige herumstehende Hocker und Stühle aus Korbgeflecht schienen genauso in den Patio zu gehören wie der hüfthoch ummauerte Brunnen, der eindrucksvoll in der Mitte posierte, als wüsste er über seine Unverzichtbarkeit genauestens Bescheid. Er war Quell frischen Wassers und somit das Zentrum, basta. Auch die hölzerne Seilwinde, die wie eine überdimensionierte Garnspule darüber hing, wirkte wie ein Bollwerk von Unzerstörbarkeit.
Das Herumhüpfen der zahllosen Spatzen, die sich scheinbar pausenlos im Patio aufhielten, versetzte das Gesamtbild des Hinterhofes auch dann in Bewegung, wenn sich gerade kein Mensch dort aufhielt. Ihr lautes, heiteres Zwitschern wurde nur hin und wieder von Hundegebell aus der Nähe oder weiter Entfernung unterbrochen.
Hier im rundum eingemauerten Garten voller Leben und dennoch friedvoller Atmosphäre setzte Luisa den kleinen Arthur ab. Direkt vor ihm befand sich, den Innenhof nach hinten hin abschließend, das Hinterhaus, welches in den kommenden Jahren sein Zuhause sein sollte.
Ihn interessierte das alles nicht. Er hatte weder Augen für die prachtvollen, bunten Büsche und Blumen, die den gnadenlos zubeißenden Zahn der Zeit an Außenmauern und Gebäuden mit großzügiger Schönheit verdeckten, auch nicht für die auffallend vielen herumflatternden Vögel oder das Spielzeug, das einladend im Rasen lag. Er sah das Mädchen, das scheu in der Nähe seiner Mutter blieb, aber neugierig zu ihm herüber schaute und einmal mit dem Kopf nickte, nachdem Luisa irgendetwas zu ihr gesagt hatte.
Die beiden Erwachsenen machten sich daran, die Koffer vor das Hinterhaus zu schleppen. Die Kisten stellten sie an den Rand der Auffahrt. Unendlich erleichtert darüber, dass er hier offensichtlich erwartet worden war, versuchte Arthurs Vater der hilfsbereiten Luisa, die allem Anschein nach als Haushälterin in Deisenhofers Stadthaus lebte, seine Dankbarkeit klar zu machen und irgendetwas Nettes zu sagen. Sie lachte nur über sein unbeholfenes Gestammel und zeigte ihm, wo er die Koffer abstellen sollte.
Arthur und das Mädchen standen sich währenddessen einfach nur gegenüber und sahen sich an. Sie lächelten nicht, der Ausdruck auf ihren Gesichtern war auch nicht besonders ernst, oder gar feindselig, sondern drückte einfach Interesse aus.
Arthur behauptet heute, er könne sich an die Ankunft im Patio genau erinnern. Selbst der Duft der blühenden Gartensträucher steige ihm noch heute in die Nase, wenn er an die erste Begegnung mit Maria Celeste denkt. Sein Blick wird beinahe nostalgisch, wenn er sagt, in jenem Hinterhof habe seine Kindheit erst angefangen, und sei auch dort zu Ende gegangen.
Vielleicht hat ja der kleine Arthur dort im Patio tatsächlich schon damals genau begriffen, dass er einem Menschen gegenüberstand, der eine groβe Bedeutung in seinem Leben spielen würde.
Ich habe mich oft gewundert: An seinen kurzen Lebensabschnitt im Deisenhofer’schen Hinterhaus in Asunción kann sich Arthur rätselhafterweise erstaunlich gut erinnern. Ich schreibe „rätselhafterweise“ und „erstaunlich“, da es doch eher ungewöhnlich ist, dass man sich an die Zeit zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr mit geradezu fotografischer Genauigkeit erinnert. Ich muss allerdings einräumen, dass ich ja außer Arthur kaum jemanden kenne, mit dem ich Unterhaltungen über Kindheitserinnerungen geführt hätte. Vielleicht ist die bildhafte Erinnerung an gewisse Kindheitserlebnisse oder gewisse Zeitabschnitte in der Kindheit ganz normal. Aber ich bezweifle – und das ganz entschieden! – dass ein vierjähriges Kind begreift, oder sogar voraussieht, welche Menschen in seiner Zukunft eine besondere Rolle spielen werden.
„Ich wusste, dass dieses Mädchen meine erste Frau sein sollte“, behauptet Arthur unbeeindruckt von meinen Zweifeln.
„Quatsch! Du hast dich in dem Moment wahrscheinlich einfach gefreut, ein Kind vor dir zu haben, das nur wenig gröβer war als du.“
Arthur widerspricht: „Fakt ist doch, dass Kinder ganz oft viel besser als die Erwachsenen spüren, welche Begebenheiten eine besondere Tragweite haben. Kleinkinder haben oft viel feinere Antennen für die Zukunft. Und das ist eigentlich auch überhaupt nicht verwunderlich: Für die ganz kleinen Wesen ist es noch nicht so lange her, seit sie aus dem zeitlosen Raum herausgetreten sind. Verstehst du, möglicherweise ist ja der Ort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch Eins sind, für Kleinkinder noch eine dunkle Erinnerung. Auβerdem ist in dem Alter vieles noch ‘selbst-verständlich’ im wahrsten Sinne des Wortes! Gerade weil man eben nicht versucht, Ahnungen, Stimmungen, diffuse Gefühle, beziehungsweise wortloses Wissen in Worte zu fassen. Die Sprache reicht doch für alle unsere Gefühle überhaupt nicht aus. Im Gegenteil: sie verkompliziert doch alles, was man meint, erklären oder begründen zu müssen. So wie ein Baby von Natur aus schwimmen kann und das sehr bald wieder verlernt, so hat doch ein Kind ein natürliches Verständnis für das Geschehen, für die Schwingungen im Ganzen, ohne in Zeit und Raum verhaftet zu sein. Als Erwachsene brauchen wir eine logische Folge der Abläufe um dann daraus Schlüsse zu ziehen. Ein Kind trägt das Wissen über den einzig möglichen Schluss noch in sich.“
„Na klar,“ kontere ich, „im Nachhinein lässt es sich leicht sagen, dass du es schon damals gewusst hast. Schwingungen! Wenn ich das schon höre!“
Für einen kurzen Augenblick trifft mich sein wütender Blick. Dann lächelt er und sagt: „Schreib einfach weiter!“
Nachdem Luisa das Tor wieder versperrt hatte, stellte sie eine riesige Wanne aus Zink auf die Rasenfläche, zog den kleinen Arthur aus und setzte ihn behutsam in das angenehm kühle Wasser. Er muss erfreut, vielleicht auch unerwartet laut gelacht oder gequietscht haben, denn das dabeistehende Mädchen, Maria Celeste, die bisher keinen Laut von sich gegeben hatte, fing ebenfalls an zu lachen. Ohne ihre Mutter zu fragen, zog sie sich Hemd und Höschen aus und stieg zu Arthur in die Wanne. Sie strahlte vor Freude.
Man überlieβ die Kinder sich selbst, Luisa zeigte Arthurs Vater das Hinterhaus. Es gab eigentlich nur zwei Zimmer: Küche und Schlafzimmer. Beide Räume hätten Platz genug geboten, um dort Tanzabende zu veranstalten, beide waren jedoch durch Schränke, Vorhänge oder Bretterwände in kleinere Kammern unterteilt. Wie in den Übergangslagern nach dem Krieg, schoss es Arthurs Vater durch den Kopf.
In der großen Küche öffnete Luisa die Tür einer kleinen Kabine aus zusammengenagelten Holzbrettern. Große und kleine, hellere und dunklere Wasserflecken durchzogen die natürliche Maserung des hölzernen Verschlags. Luisa lächelte Augenzwinkernd. Sie zeigte auf einen Behälter, der an der Decke hing. Arthurs Vater hatte etwas Ähnliches noch nie gesehen. Am Boden dieses Behälters war ein rundes Sieb befestigt, das an den Schnabel einer Gießkanne erinnerte. Daneben war ein kleiner Absperrhahn, den Luisa jetzt mit einer blitzschnellen Bewegung aufdrehte, dann sprang sie mit einem Satz zur Seite. Sie lachte schallend über seine verblüffte Miene. Er hatte nicht wissen können, dass der Behälter mit Wasser gefüllt war, feine Tropfen trafen ihn im Gesicht. Das Ding war also eine Art Duschbehälter für Haushalte ohne fließendes Wasser. Luisa zeigte auf ein Handtuch an der Wand und auf ein Stück Seife, das in einer Untertasse am Boden lag. Er hatte verstanden.
Nach der erfrischenden Dusche zeigte sie ihm den großen, an die Küche grenzenden Schlafraum. Ein mehrtüriger Kleiderschrank teilte das Zimmer in zwei Bereiche. Hinter dem Schrank standen zwei Betten. Dort, so erklärte Luisa lachend, sollten Vater und Sohn, und höchstwahrscheinlich auch ihre kleine Tochter in der nächsten Zeit schlafen.
Arthurs Vater nickte dankbar, fühlte sich allerdings nicht ganz wohl dabei. Denn da standen, auf der Vorderseite des Kleiderschrankes, ein Kinderbettchen und ein geradezu riesiges Ehebett. Hier schien eine ganze Familie zu wohnen! Und er sollte nun einfach so als neuer Mitbewohner in diesen Haushalt eindringen?
Luisa plapperte ohne Punkt und Komma über Arthur und Maria Celeste, sagte aber auch irgendetwas von zwei weiteren, kleineren Kindern, was er nicht wirklich verstand. Sie trat an eines der Betten im hinteren Bereich, welches über und über mit Kinderkleidung, Teilen von Bilderbüchern und Spielzeug beladen war. Mit ausladenden Bewegungen packte sie einfach das Bettlaken an den vier Zipfeln und trug den ganzen Krempel in einem riesigen Bündel weg. Dasselbe tat sie beim zweiten Bett, bezog beide frisch und drückte Arthurs Vater schließlich einen Stapel Decken und Kissen in die Hand. Mit zufriedenem Kopfnicken schaute sie zu, wie Arthurs Vater die Sachen auf den Betten verteilte.
Nachdem Luisa die Schlafplatzverteilung mit ihrer durch und durch sorglosen Leichtigkeit geregelt hatte, bugsierte sie Arthurs Vater am Arm über die geräumige Terrasse unter dem Vordach zurück in die Küche. Es sei Zeit für eine Tasse Kaffee, lachte sie.
Beim Eintritt in die Küche riss Arthurs Vater überrascht die Augen auf. Zwischen verschiedenen Küchenschränken und dem Spülbecken hantierte jetzt eine Frau mit Einkaufstaschen und Körben herum, am Küchentisch saß ein junges Mädchen. Die Frau fühlte sich hier ganz offensichtlich ebenso heimisch wie Luisa. Jedenfalls bewegte sie sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit im Raum und schien jeden Winkel der Küche zu kennen. Offensichtlich war sie vom Markt zurückgekehrt, während Luisa ihm das Bett im Schlafraum hergerichtet hatte. Sie verteilte Kartoffeln, Reis, kleine grüne Kürbisse und Maniokwurzeln in dafür vorgesehene Tonkrüge und Holzkisten. Das Mädchen am Ende des Tisches schaute Arthurs Vater nur einen kurzen Moment an, dann senkte es verschämt den Kopf. Es konnte sich nur um die Tochter der Frau handeln – die Ähnlichkeit der beiden war unverkennbar, auch wenn sich die Hautfarbe des Mädchens um einige Tonstufen dunkler als die der Mutter zeigte.
Seine Überraschung machte einer grenzenlosen Erleichterung Platz, als er merkte, dass die Frau, die sich mit zaghafter Stimme als Justina Klassen vorstellte, Deutsch sprach.
„Wir hatten schon gewusst, dass jemand mit einem kleinen Kind aus Deutschland ankommen sollte“, sagte sie, ohne Arthurs Vater direkt anzusehen.
Ihre Äuβerungen wirkten zwar etwas ungelenk, jedoch sprach sie herrlich verständliches Deutsch! Der fremde Akzent und Tonfall kamen allerdings nicht aus dem Spanischen, sondern erinnerte ihn eher an die Leute aus der Gegend von Ostpreuβen, dem heutigen Polen. Auch die Tochter, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, die sich auf einen Wink der Mutter erhob, mit einem braven Knicks grüβte und sich als Hildegard vorstellte, sprach eindeutig Deutsch!
Arthurs Vater war begeistert. „Ja Wunderbar!“, rief er. „Endlich jemand, der Deutsch sprechen kann! Justina und Hildegard, euch schickt der Himmel!“
Für den letzten Satz erntete er von Justina einen befremdeten, annähernd tadelnden Blick.
Ohne zu überlegen zog er einen Stuhl vom Tisch ab, drehte ihn in Justinas Richtung und lieβ sich darauf fallen. Er zog auch einen Stuhl für Luisa ab, jedoch ohne sie weiter zu beachten. Er hatte nur noch Augen und Ohren für Justina. Statt sich zu setzen, verlieβ Luisa die Küche. Er hatte nichts bemerkt, aber ihr Gesicht dürfte wie versteinert gewirkt haben. Erst viel, viel später würde Arthurs Vater begreifen, dass er die schöne Luisa soeben zutiefst beleidigt hatte. Derart offen zu zeigen, wie sehr er sich über das Zusammentreffen mit einer Deutschsprachigen freute, und dass ihm Justinas Gesellschaft in diesem Moment bei Weitem wichtiger war als ihre, war für Luisa schwer zu schlucken. Dass sie sich gerade erst kennen gelernt hatten, spielte dabei keine Rolle. Vielleicht wäre sein Verhalten im Normalfall auch etwas feinfühliger gewesen, doch für heute hatte ihn die fremde Sprache genug Anstrengung gekostet.
Aber auch Justina gegenüber zeugte sein Verhalten nicht gerade von Feinfühligkeit: Ihre Zurückhaltung, fast schon Ablehnung, war unverkennbar. Trotzdem stellte er unzählige Fragen und versuchte, sie in ein geselliges Gespräch zu verwickeln. Sie antwortete höflich aber knapp auf alle seine Fragen. So erfuhr er, dass sie aus einer mennonitischen Siedlung im Chaco stammte, der westlichen Region Paraguays. Er erfuhr auch, dass sie seit dreizehn Jahren in Asunción und seit etwa fünf Jahren hier im Hinterhaus lebte und bei den Deisenhofers als Köchin und Näherin ihren Lebensunterhalt verdiente. Er bombardierte die immer verlegener werdende Justina auch mit Fragen über Luisa, erfuhr, dass sie drei Kinder hatte und sich darum kümmern musste, dass das Hinterhaus, aber auch das wesentlich gröβere Haupthaus direkt an der Straße, zu jeder Zeit aufgeräumt und sauber waren. Auf seine Frage, ob auch Luisas Mann im Hinterhaus lebe, bekam Justina einen hochroten Kopf und zischte nur: „Luisas Kinder haben keinen Vater.“
Diese Antwort verwirrte Arthurs Vater. Für einen Moment war er sprachlos. Er lachte verlegen, um sich gleich darauf wieder zu fangen und Justina weiter auszufragen.
Die Frage danach, wer oder was die Mennoniten eigentlich seien, interessierte ihn nur am Rande, deshalb stellte er sie nicht. Auch nach Hildegards Vater zu fragen vermied er vorerst. Sie hatte nur von sich und ihrer Tochter gesprochen, deshalb hielt er es für möglich, dass Justina Witwe sein könnte – so wie er Witwer war. Das Mädchen saβ während der Unterhaltung ihrer Mutter mit dem „Deutschländer“ schweigend da und beobachtete den Mann verstohlen, aber höchst interessiert aus den Augenwinkeln.
Er hatte sich bequem nach hinten gelehnt und seine Beine weit unter den Tisch gestreckt, während er mit der verkrampft wirkenden Justina redete. Sein Blick fiel auf die lackierte Bretterwand, welche die Küche nach hinten hin abgrenzte. Ohne zu überlegen sagte er: „Und dort hinten schlaft ihr beide wohl, was?“
Justina fühlte sich offensichtlich von der Frage unangenehm berührt. Sie erhob sich und machte sich an irgendwelchen Küchenutensilien zu schaffen. In diesem Augenblick betrat Luisa die Küche wieder. Sie ignorierte Arthurs Vater ostentativ und fing an, mit Justina über das Abendessen und den Speiseplan für den nächsten Tag zu reden. Ihre Stimme wirkte irgendwie unnatürlich laut.
Ach du liebes Bisschen, dachte er, ich verstehe zwar nicht viel, aber diese Luisa scheint ja das Regiment hier im Haus fest im Griff zu haben. Fehlt nur noch, dass Justina stramm steht und die Hacken zusammenknallt.
Er beobachtete die beiden Frauen. Sehr unterschiedliche Frauen, stellte er insgeheim fest. Justina nickte nur hin und wieder zu all dem, was die schöne Luisa in kurzen Sätzen aufzählte. Dabei standen sie, soweit man bei den beiden Frauen von Rangordnung sprechen konnte, auf der gleichen hierarchischen Stufe. Die eine war zuständig für Küche, Speiseplan und Einkäufe, die andere für die Sauberkeit in allen anderen Räumen in Haupt- und Hinterhaus.
Ich werde es schon noch begreifen, wer hier wen gängelt und herumkommandiert, dachte Arthurs Vater amüsiert. Vielleicht ist es auch unwichtig für mich, denn dieser Deisenhofer wird ja hoffentlich bald auftauchen und mich und Arthur mit auf’s Land nehmen. Er scheint ja häufig in die Hauptstadt zu kommen, sonst hätte er hier ja kaum ein derart groβes Haus mit ständig darin wohnendem Hauspersonal. Wenn ich Justina richtig verstanden habe, soll er sich hier ja oft mit irgendwelchen Geschäftsleuten treffen. Menschenskind, bin ich froh, dass es hier einen Menschen gibt, mit dem ich mich richtig unterhalten kann! Sie hat etwas davon gesagt, dass sie aus einer „Kolonie“ kommt. Ein Ort mitten im Urwald, wo nur Deutsch gesprochen wird. Seltsam… aber, hat nicht Walter aus Sennestadt so was Ähnliches auch mal erwähnt? Es gibt hier ganz und gar deutsche Siedlungen. Auch Deisenhofer soll ja in einer deutschen Siedlung wohnen. Aber, wenn ich das richtig verstanden hab, sind das zwei unterschiedliche Orte. Und noch nicht einmal nahe zusammen liegend. Wie Justina dann hier ins Haus zu den Deisenhofers gekommen sein mag? Ach, womöglich einfach über zufällige Bekanntschaften. Werde ich ja alles noch erfahren. Und bis Deisenhofer kommt, müssen ich und der Kleine hier irgendwie klar kommen. Ich begreife nur nicht, was das Ganze hier eigentlich ist. Gleich zwei „Haushälterinnen“, die die Stadtwohnung eines … ja was? Eines reichen Geschäftsmannes aus dem Inland in Stand halten? Das ist doch alles irgendwie unlogisch. So, wie sich diese beiden Frauen anhören, leben sie ja nicht gerade aus purer Freundschaft unter einem Dach.
Es sollte noch relativ lange dauern, bis Arthurs Vater sämtliche Zusammenhänge für den Grund dieser Wohngemeinschaft durchschauen würde. Vorerst nur so viel dazu: Luisa, die schon wesentlich länger als Justina in dem Haus lebte, hatte von Anfang an eine gewisse Überlegenheit gegenüber der hinzugezogenen Mitbewohnerin und Mitarbeiterin an den Tag gelegt. Und Justina hatte sich nie dagegen aufgelehnt, war sie doch froh, dass sie hier überhaupt eine kostenlose Bleibe gefunden hatte und dass sie meistens lediglich die Küchenarbeit erledigen musste. Das Wenige, was sie an Bargeld benötigte, um sich selbst und ihre Tochter einzukleiden, verdiente sie sich mit gelegentlichen Näharbeiten. Manchmal brauchte eine der Damen aus Frau Deisenhofers Bekanntenkreis ein Kleid, oder sie nähte Hosen für die Arbeiter, die bei Julius Deisenhofer in Independencia im Wald und auf dem Feld beschäftigt waren.
Luisa schien mit ihren Anweisungen zum Menü des nächsten Tages fertig zu sein. Sie drehte sich um und lächelte Arthurs Vater herausfordernd an. Dabei blitzten ihre schönen Zähne. Mit einer leicht herrisch wirkenden Geste machte sie ihm deutlich, dass er mitkommen sollte, um die Kleidung für sich und seinen Sohn auszupacken, um sie dann in einem der Fächer im Schrank, das sie inzwischen frei gemacht hatte, unterzubringen.
Indessen waren Arthur und Maria Celeste glücklich darüber, dass sich die Erwachsenen so lange nicht um sie kümmerten. Zuerst waren sie sich im Zuber nur gegenübergesessen, hatten sich gegenseitig genau betrachtet und angelächelt. Ihre Unterhaltung verlief schweigend, auf unhörbarer Ebene. Einmal streckte Arthur die Hand nach Maria Celeste aus, als wolle er feststellen: „Gibt es dich wirklich?“ Da beugte sie sich spontan vor, um mit ihrem Gesicht Arthurs Fingerspitzen zu erreichen. Lachend bewegte sie mehrmals ihr Gesicht auf und ab, so dass seine Finger an ihrer Wange entlangstrichen.
Jegliches Treiben, Kommen und Gehen im Patio war für die beiden unwichtig. Sie hatten weder auf Justina und Hildegard geachtet, als diese an ihnen vorübergegangen waren, noch bemerkten sie die Frau, die mit einem Kind an der Hand und einem Kleinkind im Arm zu Luisa ins Schlafzimmer gegangen war und kurz darauf den Hof wieder verließ. Erst als Luisa mit einem groβen Badetuch an die Wanne trat und sie kräftig abrubbelte, kehrte ihr Interesse für die Umgebung zurück. Die Sonne senkte sich bereits und lieβ die Schatten länger werden.
Im Laufe des Abends lernte Arthur die kleinen Brüder seiner neuen Freundin sowie Justina und Hildegard kennen. Zu Beginn war er tief beeindruckt von den anderen Kindern, die im Haus lebten, jedoch würde er nur zu bald feststellen, dass ihn die Spielereien der beiden Jungen, von denen der Kleinere noch nicht einmal gehen konnte, langweilten. Die groβgewachsene Hildegard hingegen übte von Anfang an eine gewisse Faszination auf ihn aus, da sie sozusagen ein „Schwellenwesen“ war. Sie stand auf der Schwelle zwischen Kind und Erwachsenem. Mit ihren fast dreizehn Jahren war sie beinahe so groβ wie eine erwachsene Frau, wies jedoch bei fast knabenhafter Magerkeit keine für Frauen typischen Rundungen auf. Sie benahm sich auch nie wie die Großen und reagierte immer sofort darauf, wenn einer von den Erwachsenen sagte „Kinder, macht dieses oder jenes.“
Die neu zusammengewürfelte Hinterhausgemeinschaft hatte zu Abend gegessen, jetzt krabbelten Arthur und Maria Celeste in das gemeinsame Bett. Sie kicherten noch lange über irgendetwas, am Ende schliefen sie Händchen haltend ein.
Luisa hatte auch ihre beiden kleinen Söhne schlafen gelegt, danach fing sie an, in einer Ecke des Gartens Holz aufzuschichten. Allem Anschein nach wollte sie ein kleines Lagerfeuer anzuzünden. Leicht verwundert fing Arthurs Vater an, ihr zu helfen. Auch wenn er sich Mühe gab, seine Blicke nicht aufdringlich an ihr kleben zu lassen, beobachtete er Luisas geschmeidige Bewegungen sehr genau. Das Feuermachen schien eine alltägliche Angelegenheit zu sein. Jeder ihrer Handgriffe war geübt, selbstsicher und irgendwie elegant.
Tief in die einfachen Gartenstühle gedrückt saβen sie wenig später am Feuer und versuchten fast krampfhaft, so etwas wie eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Arthurs Vater musste immer wieder gähnen, wartete insgeheim darauf, dass auch Justina irgendwann herauskommen und sich dazusetzen würde. Sie war nach dem Abendessen aufgestanden und hatte die anderen energisch aus der Küche geschickt. Wer noch das Bedürfnis hatte zu duschen, dem würde sie einen Kessel heiβes Wasser bereitstellen, aber dann hieβ es „raus!“ Sein Angebot, ihr beim Aufräumen der Küche behilflich zu sein, hatte sie wortlos, mit kategorischem Kopfschütteln abgelehnt.
Das Gespräch im Garten zog sich in schwerfälliger Suche nach dem richtigen Vokabular in Richtung freundliches Schweigen.
Irgendwann wird Justina ganz bestimmt noch herauskommen, überlegte Arthurs Vater seufzend. Kann ja nicht ewig dauern, die Küche in Ordnung zu bringen... Luisa ist ja wirklich bezaubernd und ich will, so schnell ich kann, diese verflixte Sprache lernen, aber für heute habe ich eigentlich genug. Ich möchte nur noch ein paar brauchbare Informationen über den groβen „Don Julio“ und den Ort Independencia hören. Justina kann mir bestimmt noch vieles erzählen. Sie muss doch endlich herauskommen... Ich höre gar kein Töpfegeklapper mehr aus der Küche. Sie ist demnach mit dem Abwasch fertig.
Justina gesellte sich nicht zu den anderen im Garten.
Auch am nächsten Abend blieb sie nach dem Essen allein in der Küche.
Und an kommenden Abenden ebenso.
Die nächsten Tage nutzte Arthurs Vater, um sich die Stadt anzusehen. Täglich schnürte er am Morgen nach dem Frühstück seine Wanderschuhe und ging einfach los. Zielloses Erkunden. Auf diesen ziellosen Erkundungsgängen hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Im Grunde hatte er keine konkreten Vorstellungen, was er als nächstes tun sollte, um hier in Paraguay Fuβ zu fassen und seine Träume zu verwirklichen. Vertrauensselig hatte er sich darauf verlassen, dass sich am Ende schon alles irgendwie „ergeben“ werde. Schlieβlich hatten ihm die Freunde in Asemissen und Sennestadt versprochen, dass Julius Deisenhofer alles in die Wege leiten würde. Er konnte also vorerst gar nichts anderes tun, als auf diesen Deisenhofer zu warten. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn trotzdem, wenn er daran dachte, dass er die Gastfreundschaft eines Fremden einfach beanspruchte, ohne eine konkrete Abmachung mit ihm getroffen zu haben. Noch nicht einmal persönlichen Briefkontakt hatte er aufgenommen, sondern seine Absicht, nach Paraguay zu kommen, nur über Freunde angekündigt.
Wenn er mir nun am Ende eine Rechnung stellt, die ich gar nicht bezahlen kann? Er hat mir zwar ausrichten lassen, dass er mich in Empfang nehmen würde, und dass er sich über einen neuen Siedler in Independencia freuen würde, aber von Geld hat keiner geredet. Nun ja, immerhin habe ich nichts unterschrieben.
Bei dem Gedanken, am Ende vielleicht doch zur Rückreise nach Deutschland gezwungen zu sein, lief ihm ein Schauer über den Nacken. Sein Kapital wäre nach einer weiteren Schiffsreise beträchtlich zusammengeschrumpft. Und dann? Ein dumpfer Anflug von Schuldbewusstsein legte sich auf sein Gemüt, wenn er daran dachte, wie ärgerlich seine Schwestern über sein Weggehen gewesen waren. Gewissermaβen hatte er dadurch alle Brücken abgerissen.
Was soll’s, dachte er seufzend. Jetzt bin ich hier und muss schauen, was ich machen kann. Und wenn ich sie erst einmal mit Jaguar- oder Pumafellen beliefern kann, werden sich alle Wogen glätten.
Sein heutiger Stadtrundgang führte ihn zunächst durch die unmittelbare Nachbarschaft. Er sah stattliche Villen, aber auch Wohnhäuser, die nicht einmal als armselig bezeichnet werden konnten. Selbst in der Nachkriegszeit hatte in seiner Heimat niemand über lange Zeit in derart miserablen Verhältnissen gelebt. Aber die Bewohner dieser schäbigen Behausungen standen oder saβen vollkommen gelassen in kleinen Gruppen am Straβenrand und unterhielten sich laut und lachten scheinbar pausenlos über irgendetwas. Manche spielten Brettspiele, wie er es auf der Flussreise gesehen hatte. Immer wieder sah er auch Gruppen in kleinen Runden zusammen sitzen und diesen seltsamen, bitter schmeckenden Tee trinken. Nur ein einziger Becher, die so genannte „Guampa“, wurde von allen benutzt, die in der jeweiligen Runde saβen. Je nach Tageszeit und Witterungsverhältnissen wurde ein wenig heiβes oder eisgekühltes Wasser auf den Brei aus fein gemahlenen Teeblättern in der Guampa gegossen und durch ein kleines Metallröhrchen, die Bombilla, gesaugt. Sobald ein schlürfendes Geräusch anzeigte, dass alle Flüssigkeit aufgesaugt war, wurde wieder Wasser aufgegossen und der nächste in der Runde kam an die Reihe. Ob es sich bei dieser Prozedur eher um ein Ritual oder reine Erfrischung handelte, konnte er noch nicht einschätzen.
Immer wieder begegnete er auch Straβenhändlern, die mit kleinen Bauchläden oder einem riesigen Korb auf dem Kopf durch die Gassen wanderten. Manche begrüßten ihn, als würden sie ihn schon lange kennen und versuchten, ihm irgendetwas zu verkaufen. Wenn er dankend ablehnte, schauten sie ihn vorwurfsvoll oder ungläubig an und streckten fragend die Arme in die Luft. Erst wenn er dann das Futter seiner Hosentaschen nach außen zog und den Kopf schüttelte, zogen sie mit einem enttäuschten Seufzen die Stirn in Falten und setzten ihren nie endenden Weg fort.
Schon nach wenigen Tagen hatte Arthurs Vater durch Zufall den Weg zum Hafen wieder gefunden. Bei dem Gedanken an seine Ankunft musste er grinsen. Er versuchte, durch die offenstehenden Flügeltüren einen Blick ins Innere des Hafengebäudes zu werfen, konnte aber nur schattenhafte Konturen ausmachen. Und hineinzugehen, danach stand ihm nicht der Sinn. Womöglich erkannte man ihn. Also ging er an dem schmucklosen Gebäude, das die meiste Zeit recht verlassen dastand, vorüber und erreichte kurz darauf ein prächtiges, wenn auch nicht sonderlich groβes, so doch geradezu prunkvolles Bauwerk. Überrascht von so viel baulicher Üppigkeit und architektonischer Liebe zu verschnörkelten Details blieb er stehen und schaute sich den Prunkbau an. Er musste die Augen etwas zukneifen, denn das strahlende Weiß der Mauern und Säulen warf das Sonnenlicht so leuchtend zurück, dass es blendete. Schmucke Arkaden und arabeskenverzierte Kapitelle prangten auf den Säulen des Mitteltraktes, der Balkon ging ohne Trennung in zwei Seitenflügel über. All das schien so gar nicht in die ärmliche Umgebung zu gehören. Hinter dem Gebäude, in Flussnähe, konnte er die gleichen ärmlichen Behausungen erkennen, wie in der Gegend, aus der er gerade gekommen war. Um gleichzeitig Prunk und Pracht neben Elend und Misere im Blickfeld zu haben, brauchte er nicht einmal den Kopf wenden.
Durch einen scheltenden Ruf wurde er aus seiner Faszination gerissen: Soldaten kamen hastig näher und deuteten unmissverständlich an, dass er die Straβenseite zu wechseln habe. Der „Palacio de Gobierno“, von wo aus das gesamte politische Geschick des Landes geleitet wurde, war streng bewacht und es war für Unbefugte nicht erlaubt, sich davor aufzuhalten. Schlieβlich herrschte in Paraguay seit der Regierungsübernahme durch Alfredo Stroessner ein permanenter Ausnahmezustand. Die Bevölkerung des Landes hatte sich daran gewöhnt, und so war die Ausnahme zum Normalzustand geworden – und das schon seit beinahe einem Jahrzehnt!
Nach einem leichten Schulterzucken und entschuldigendem Kopfnicken in Richtung der Uniformierten setzte Arthurs Vater setzte seine Wanderung fort. Überall konnte man Spuren der einstigen spanischen Eroberer entdecken, doch obwohl ihn die Bauten der spanischen Einwanderer beeindruckten, hatte er kein wirkliches Interesse für die Geschichte des Landes oder politische Entwicklungen. Es freute ihn eher, dass er solches Interesse im Deisenhofer’schen Hinterhaus vor niemandem zu simulieren brauchte.
Sobald am späten Nachmittag seine Füße vom vielen Herumspazieren zu brennen anfingen, machte er kehrt. So wie in den letzten Tagen auch.
Noch bevor er durch das Tor in den Patio kam, wusste er schon, was im Hinterhaus gerade vor sich ging: Justina war dabei, das Abendessen vorzubereiten, während Luisa die Kleinen badete. Hildegard half ihrer Mutter beim Kochen, Maria Celeste und sein Sohn saßen entweder in der Badewanne oder alberten in der Duschkabine herum.
Wenn er Justina fragen würde, ob er irgendwie behilflich sein könnte, würde sie stumm den Kopf schütteln, ihn gar nicht weiter beachten.
Er setzte sich also im Patio auf einen der Korbstühle und wartete einfach auf den Abend. Vor ein paar Tagen hatte er sich eine Tageszeitung mitgebracht, weil er nicht einfach immer nur dasitzen wollte bis man ihn zum Abendessen rief. Das komplizierte Vokabular des spanischsprachigen Nachrichtenblattes überforderte ihn jedoch.
Ihm entfuhr ein Seufzer beim Gedanken an die beiden Kisten, die auf dem Schiff zurückgeblieben waren. In diesen Kisten aus Fichtenholz befand sich seine gesamte Bibliothek, größtenteils ein Nachlass seiner Frau. Sie war eine leidenschaftliche Leserin gewesen, hatte Goethe ganz gern gehabt, Franz Kafka, Hermann Hesse und Theodor Storm geliebt, sich aber auch intensiv mit philosophischer Lektüre befasst. Er selbst hatte oft den Kopf geschüttelt, wenn sie sich stundenlang über Werke von Schopenhauer, Nietzsche oder Sartre den Kopf zerbrach, krampfhaft versuchte, die Aussagen dieser unterschiedlichen Denker gegenüberzustellen und den eigenen Sinn herauszuziehen.
Nicht dass er jetzt auf die Idee gekommen wäre, sich näher mit derart schwieriger Lektüre zu beschäftigen, aber Zugriff auf deutschsprachige Literatur hätte sich zum ersten Mal in seinem Leben als eine willkommene Abwechslung erwiesen.
Das untätige Warten auf Deisenhofer machte ihn nervös. Alle anderen jedoch, vor allem sein Sohn, schienen sich mit der neuen Routine wunderbar zu arrangieren.
Die Abende, wenn alle Kinder schliefen, verbrachte er allein mit Luisa im Garten. Auch dieser Teil der neuen Routine machte ihn nur nervös. Innerlich fluchte er darüber, dass Justina nie dabei sein wollte. Offenbar war sie krankhaft menschenscheu.
Justina saβ jeden Abend nach dem Putzen der Küche allein am groβen Esstisch. Sie las in der Bibel. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand folgte sie Zeile um Zeile dem Text, den ihre Lippen tonlos mitsprachen. Wieder und wieder hatte sie sich im Laufe der Jahre durch sämtliche Bücher der Bibel gekämpft. Sie war immer erleichtert, wenn sie mit dem Alten Testament fertig war und sich dem Neuen Testament zuwenden konnte. Ihre Gewissenhaftigkeit erlaubte es ihr aber nicht, sich ausschlieβlich mit dem Neuen, bei Weitem leichter lesbaren Bibelteil zu befassen. Das Hinwegblättern über den ersten Teil ihrer Lutherbibel wäre ihr frevelhaft erschienen.
Zwar war sie nie wirklich offiziell aus der „Mennoniten Brüdergemeinde“ ihres Heimatortes hinausgeflogen, aber ihr fehlte aus gutem Grunde der Mut, in ihrer Kirche zu erscheinen – auch nicht in der Brüdergemeinde hier in der Hauptstadt. Denn das, was sie damals vor vielen Jahren in Filadelfia erlebt hatte, kam einer Exkommunikation gleich. Durchaus verdiente Exkommunikation, fand sie selbst. Die täglich in der Küche zelebrierte Abendandacht würde, so hoffte und betete sie inständig, die Gottesdienste in der Kirche ersetzen. Göttliche Gnade und Vergebung all ihrer Sünden waren ihr einziges Lebensziel.
Ihr ganzes Leben, alles was sie tat und nicht tat, auch das Leben ihrer Tochter Hildegard und alles, was sie an dieses Kind weitergeben wollte, sollte einzig und allein dazu beitragen, dass sie für sich doch noch erhoffen könnte, Göttliche Gnade zu finden.
Hildegard, dieses stille, äuβerst schüchterne, leicht verstört wirkende Mädchen lieβ bei allen so etwas wie Mitleid aufkommen. Sie schien die beinahe verbissene Ernsthaftigkeit ihrer Mutter geerbt zu haben wie die Form der Nase oder der Augen. Ganz selten hörte man sie lachen oder mit den anderen Kindern herumalbern. Auch ihre gesamte Garderobe schien nur aus der Pflichtuniform für die Schule und dunklen, knielangen Hemdblusenkleidern mit steifen Kragen zu bestehen. Ihr haselnussbraunes Haar flocht sie jeden Morgen blitzschnell in zwei lange Zöpfe, die ihr fast bis an die Taille reichten. Und die dunkelgrünen Augen, mit einem grauen Kranz in der Mitte, blickten mit stechender Aufmerksamkeit in die Welt. Sie schienen nichts zu übersehen. Niemand hätte sagen können, was in diesem fast unheimlich wirkenden Kind vor sich gehen mochte. Aber jeder, der sie ansah, konnte ahnen, dass sie schon sehr bald eine junge Frau von auffallender Schönheit sein würde.
Täglich machte sie sich frühmorgens auf den Weg, um auf der Don Bosco einen Bus zu nehmen, später in eine der langsam ruckelnden Straβenbahnen umzusteigen, die sie schlieβlich bis zur Goethe-Schule auf der Calle España brachte. Die etwa zwanzigsitzigen Busse, die durch die Innenstadt donnerten, waren um diese Tageszeit meist völlig überfüllt. Dieselgestank und wolkiger Qualm von Zigarro Poí, den einige Passagiere den Mitreisenden ungeniert ins Gesicht bliesen, machten den täglichen Schulweg für Hildegard zu einem ständigen Kampf mit der Übelkeit.
Nach dem Unterricht kehrte sie während der gröβten Mittagshitze auf demselben Weg zurück nach Hause. Die Heimfahrt hatte den Vorteil, dass es zu dieser Tageszeit meist möglich war, einen Sitzplatz zu ergattern. Die Nachmittage verbrachte sie in der Küche am Esstisch, wo sie unter Aufsicht der Mutter ihre Schulaufgaben erledigte. Damit war ihr tägliches Lernpensum jedoch längst nicht erfüllt: Justina lieβ sie unendlich lange Bibeltexte vorlesen und Verse oder auch Liedtexte aus einem Kirchengesangbuch auswendig lernen. Ganz selten erlaubte sie ihrer Tochter, sie bei den Einkäufen auf dem Markt zu begleiten, um ihr beim Tragen der schweren Einkaufsnetze zu helfen. Nur wenn sie einen Auftrag zum Schneidern hatte, und den ganzen Küchentisch in Beschlag nehmen musste, durfte Hildegard manchmal mit den anderen Kindern hinaus ins Freie.