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Kapitel V.
ОглавлениеKapitel 5
Deisenhofers äuβere Erscheinung wirkte auf Arthurs Vater im ersten Moment fast enttäuschend. Er hatte sich unter dem von allen als „Don Julio“ bezeichneten Groβgrundbesitzer und Geschäftsmann eine irgendwie eindrucksvollere Persönlichkeit vorgestellt. Deisenhofer war wesentlich kleiner als er selbst, hatte einen gewichtigen Bauchansatz und trug bei dieser ersten Begegnung ein verknittertes, kariertes Arbeitshemd zu staubigen Jeanshosen und knöchelhohe, stark dreckverkrustete Lederschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Hingegen entsprach seine Frau, Christa Deisenhofer, voll und ganz dem Bild einer begüterten Dame aus der so genannten „Campaña“, eine Ortsbezeichnung, die sich auf alle ländlichen Provinzen Paraguays beziehen kann.
Ihre Frisur war sportlich elegant, der ständig schwülen Witterung angepasst: Das mittellange, leicht gewellte Haar war für Reisen wie diese mit einer schlichten Metallspange hochgesteckt. Sonst lieβ sie es offen auf die Schultern fallen. Sie trug meist wadenlange Röcke. Dazu, je nach Bedarf, Arbeitsstiefel, wie sie auch von Männern getragen wurden oder hochhackige, meist farblich auf die Kleidung abgestimmte Sandaletten.
Beide, sowohl Herr als auch Frau Deisenhofer waren braungebrannt, hatten blaue Augen und waren wohl einmal dunkelblond gewesen. Mittlerweile wurde das Haar von grauen Strähnen durchzogen, wobei man bei Julius von Strähnen eigentlich gar nicht sprechen konnte, da die vordere Hälfte seines Kopfes ohnehin frei von jeglicher Haarpracht war und der Hinterkopf so kurzgeschoren, dass sich das helle Grau hier eigentlich eher in Form von Flecken als von Strähnen zeigte.
An der Art, wie Deisenhofer mit seinen Arbeitern, Miguel und Adalberto, aber auch Justina und Luisa umging, merkte Arthurs Vater sehr schnell, dass er als humorvoller, freundlicher und beliebter Arbeitgeber bezeichnet werden konnte, der jedoch auch daran gewöhnt war, absoluten Respekt zu genieβen.
Das Auftreten seiner Frau Christa war weitaus weniger dominant, dafür umso majestätischer. Sie schien jede einzelne Handlung vollkommen bewusst und wohlüberlegt auszuführen – selbst wenn sie in Eile war. Wenn sie sprach, bekam man den Eindruck, sie habe ihre Wortwahl lange vorher getroffen. Jede Silbe, jedes Wort wurde perfekt in makellose Sätze eingefügt. Alles was sie tat oder sagte, wirkte protokollarisch, allerdings nie steif oder gekünstelt.
Im Groβen und Ganzen erwiesen sich sowohl Don Julio als auch Doña Christa als freundliche, angenehme Menschen. Arthurs Vater war erleichtert. Schon nach dem ersten Kennenlernen konnte er sich vorstellen, dass sein Entschluss, nach Paraguay zu kommen, vielleicht doch richtig gewesen sein könnte. Deisenhofer, selbstständiger und geradezu leidenschaftlicher Geschäftsmann, war schon nach ihrem ersten Gespräch davon überzeugt, dass Arthurs Vater mit seiner Idee von der Vermarktung von Tierhäuten vollkommen falsch lag. Aber das behielt er für sich. Er wartete jedoch nicht lange mit dem Hinweis darauf, dass mit dem Verkauf von Edelhölzern zurzeit gutes Geld zu machen sei.
Nachdem sich die Deisenhofers von der Fahrt etwas erfrischt hatten, forderte Don Julio Arthurs Vater auf, ihn zu begleiten und bei den anstehenden Geschäftsbesuchen dabei zu sein.
„Es kann nicht schaden, wenn meine Kontaktleute Sie auch kennen lernen, mein Freund!“
Auf dem Weg nach Luque, wo Deisenhofer die Bezahlung für das am Vortag gelieferte Brennholz einkassierten wollte, malte er Arthurs Vater aus, wie er ein eigenes Holzgeschäft angehen und die Ausfuhr von Fellen allenfalls nebenbei betreiben könnte. Praktisch auf jede Frage zu gesetzlichen Regelungen und Bestimmungen wusste er eine Antwort. Arthurs Vater geriet in einen Taumel der Begeisterung angesichts der Möglichkeiten, die Deisenhofer ihm vorschlug. Don Julio schien sich mit allem auszukennen und jegliche Bedenken zur Finanzierung der verschiedenen Projekte wischte er mit einer wegwerfenden Handbewegung vom Tisch. „Ach, lassen Sie mich nur machen, mein Freund. Das sag ich Ihnen: ich kenn mich da aus!“
Der Ausflug in das kleine Städtchen Luque war für Arthurs Vater eine willkommene Abwechslung. Er stellte dabei fest, dass Julius Deisenhofer groβe Bekanntheit und ebenso groβen Respekt genoss. Auf dem Gelände des Elektrizitätswerkes der ANDE, die Administración Nacional de Electricidad, wurde er von einfachen Arbeitern an der Dampfmaschine mit Stromgenerator ebenso freundlich begrüβt wie von Büroangestellten in Schlips und Kragen.
Nachdem er abkassiert hatte, klopfte er sich lachend auf die Hemdtasche, in die er den erhaltenen Wechsel gesteckt hatte.
„Das sag ich Ihnen, mein Freund“, rief er, „wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert! Das Geschäft mit dem Brennholz ist ein Nebenerwerb, der zwar nicht das groβe Geld bringt, aber nicht zu verachten!“
„Nebenerwerb?“, fragte Arthurs Vater verständnislos.
„Nun ja, das eigentliche Geschäft beim Roden machen wir mit den Riesen! Die Baumstämme, die nach Argentinien in die Parkettfabrik oder in den Hafen gehen und von dort aus wer-weiβ-wohin. Edelstes Holz, das sag ich Ihnen, mein Freund. Meterlange Stämme, schnurgerade! Jeder Kubikmeter ein Schmuckstück! Das Kleinholz, das ich hierher bringen lasse, sind sozusagen die Späne, die beim Hobeln abfallen, wenn ich ein Stück Land sauber mache. Aber das zeige ich Ihnen, wenn wir nach Independencia kommen.“
Abends sollten Arthur und sein Vater mit den Deisenhofers im Haupthaus essen. Justina brachte das Essen aus der Küche hinüber und servierte im groβen Speisesaal des vorderen Hauses. Für alle übrigen Hausbewohner deckte sie wie immer in der Küche den Tisch.
Den kleinen Arthur hatte Luisa heute nach dem Bad besonders nett angezogen und sein Haar sauber gescheitelt. Doch als ihn sein Vater an die Hand nehmen wollte, um hinüberzugehen, schüttelte der Junge den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Nicht einen einzigen Schritt weit würde er ohne Maria Celeste gehen.
Diese saβ bereits am Tisch in der Küche des Hinterhauses und hatte ihr Gesicht in die gleichen bockigen Falten gelegt wie Arthur.
„Jetzt komm, Kleine, iss etwas!“, sagte Luisa energisch. „Justina hat heute etwas besonders Gutes gekocht!“ Maria Celeste schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute trotzig aus dem Fenster.
Sie sah, wie Arthur von seinem Vater sanft an der Schulter gepackt und in Richtung Haupthaus geschoben wurde. Arthur stemmte seine Fersen ins Gras.
Doña Christa wartete bereits auf die beiden. Als sie jedoch sah, wie sehr sich der Kleine gegen einen Besuch im Haupthaus wehrte, sagte sie lachend zu Arthurs Vater: „Lassen Sie mal, wir werden den Kleinen schon irgendwann kennen lernen. Es ist nur zu verständlich, dass er mit den Kindern von Luisa zusammen bleiben möchte.“
Auf die Idee, Maria Celeste ebenfalls zu sich einzuladen, schien sie nicht einmal zu kommen.
Augenblicklich drehte sich der kleine Arthur um und lief auf die Küchentür im Hinterhaus zu. Auch Arthurs Vater war erleichtert über Christas Verständnis. Er wischte sich den Schweiβ von der Stirn folgte ihr an den festlich gedeckten Tisch im Vorderhaus.
Am nächsten Morgen ging Arthurs Vater wie immer in die Küche. Er wirkte verschlafen, kniff die Augen zusammen, schüttelte kurz den Kopf und lächelte. „Der Wein!“, sagte er entschuldigend zu Justina und setzte sich an den Tisch. Während er sich ein Marmeladebrötchen zurechtmachte bat er sie, sich in nächster Zeit zusammen mit Luisa ein wenig um seinen Sohn zu kümmern.
„Ich werde endlich dieses Independencia kennen lernen! Wir fahren schon heute ab“, erklärte er gutgelaunt.
Justina bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Würde der nette Deutschländer, wie sie ihn insgeheim nannte, vielleicht schon jetzt endgültig nach Independencia siedeln? Aber dann lieβe er ja seinen Sohn kaum hier in der Stadt. Sie nickte also und meinte achselzuckend: „Der Kleine macht ja ohnehin nie etwas anderes als Maria Celeste.“
Sie traute sich nicht, Arthurs Vater zu fragen, wie lange er wegbleiben würde und welche Pläne er für die Zukunft hatte. Trotzdem erzählte er beim Essen ausführlich, was er und Deisenhofer am Vorabend miteinander durchgesprochen hatten und dass er vorhätte, sich gemeinsam mit Deisenhofer ein Stück Land in einem Waldgebiet nördlich von Independencia anzusehen. Dieses Waldstück wolle er vielleicht kaufen und als Partner in Deisenhofers Holzgeschäfte einsteigen. Seine Begeisterung war nicht zu überhören, als er davon sprach, dass er auβerdem die Möglichkeit sähe, dort Kontakt zu Jägern aufzunehmen, Felle aufzukaufen und natürlich selbst zu jagen. Durch den Export von Fellen könnte er dann sicherlich die Abzahlung der Kredite, die er aufnehmen müsste, schneller vorantreiben.
Justina hörte aufmerksam zu. Sie hätte nicht erklären können warum, aber sie hatte das undeutliche Empfinden, dass Arthurs Vater mit allzugroβer Begeisterung von seinen Plänen sprach. Ihr war diese heitere und unvoreingenommene, man könnte auch sagen: siegessichere Art, an ein völlig neues Vorhaben heranzugehen, fremd. In ihrer Familie, auch innerhalb der weiter entfernten Verwandschaft, hatte sie die Männer immer als sehr vorsichtig erlebt, wenn es darum ging, in neue Geschäfte einzusteigen. Immer, wenn gröβere Geldbeträge im Spiel gewesen waren, wurde innerhalb der Gruppe von männlichen Familienmitgliedern – Frauen waren immer von solchen Besprechungen ausgeschlossen gewesen – zunächst um Weisheit und Gottes Führung gebetet und dann gemeinsam entschieden, ob man alle eventuellen Risiken am jeweiligen Geschäft erkannt hatte.
Die vollkommen unbeschwerte, sorglose Fröhlichkeit, mit der Arthurs Vater über sein Vorhaben sprach, wunderte Justina ebenso wie die Tatsache, dass er gerade ihr seine Pläne mitteilte. Einfach so. Sie hätte so gern gefragt, weshalb er ihr das alles erzählte. Ihre jahrelang antrainierte Zurückhaltung schnürte ihr jedoch die Kehle zu. Und schon gar nicht fühlte sie sich berechtigt, kritische Einwände gegen seine – oder Deisenhofers – scheinbar unfehlbare Geschäftsideen zu äuβern. Alles, was ihr auf der Zunge lag, könnte falsch sein. Sie sagte also gar nichts.
Schlimm genug war, dass sie sich seit zwei Tagen mit heftigen Vorwürfen gegen sich selbst herumplagte. Wie hatte sie nur so unbeherrscht herausposaunen können, welches Bild sie von ihrer Mitbewohnerin Luisa hatte! Jeder – auch Arthurs Vater – würde doch irgendwann selbst feststellen, was für ein Weibsbild diese Luisa war! Sie hatte einfach die Beherrschung verloren und herausgebrüllt, was ihr seit langem auf der Seele und der Zunge lag. Nie wieder wollte sie die Gewalt über sich selbst verlieren und sich zu derartigen Beschimpfungen hinreiβen lassen, nahm sie sich fest vor. Wer wollte schon ihre Meinung wissen!
Arthurs Vater wischte sich mit dem Handrücken die Krümel von den Lippen und erhob sich. Justina bemerkte, dass er in der Küchentür stehen blieb und sie ansah. Offensichtlich erwartete er irgendeinen Kommentar von ihr. Aber sagte sie nur: „Schön“, und „gute Reise“, dann fuhr sie fort, die Kaffeetassen und Teller vom Frühstück mit heiβem Wasser abzuspülen.
Er hatte sich in der Tat ein deutlicheres Echo auf die ausführliche Schilderung seiner Zukunftsvisionen versprochen. Vielleicht hatte er sogar erwartet, Justina ein bisschen mit seiner Begeisterung anzustecken. Ihre gesamte Haltung drückte jetzt aber wieder das übliche „Lassen Sie mich in Ruhe“ aus. Intuitiv begriff er, dass Justina nicht preisgeben wollte, was sie dachte und welches Bild sie sich von ihm machte. Er begriff allerdings nicht wirklich, welches Bild sie von sich selbst hatte. Und dass sie auf keinen Fall zulassen wollte, irgendjemanden einen Blick darauf werfen zu lassen. Ihre Augen schienen nur für ganz kurze Momente den Schleier zu durchdringen, hinter den sie sich selbst gestellt hatte. Nichts sollte irgendwelche Hinweise auf ihr eigentliches Ich geben.
Arthurs Vater holte tief Atem, sein Instinkt sagte, dass er sie nicht mehr ansehen sollte. Also drehte er sich um, sagte nur kurz und trocken „auf Wiedersehen“ und winkte ihr über die Schulter hinweg zu. Eigentlich hätte er ihr gerne wenigstens die Hand geschüttelt, weil er schlieβlich auf unbestimmte Zeit verreisen würde. Beim Weggehen glaubte er zu spüren, dass sie den Blick von dem schmutzigen Geschirr gehoben hatte und ihm nachsah.
Er machte sich auf die Suche nach Luisa, denn er sollte sich auch von ihr in aller Form verabschieden, fand er. Und sich endlich einmal für ihre Aufmerksamkeit und Bemühungen in Bezug auf seinen Sohn bedanken.
Sie war mit ihrem Jüngsten zwischen den Büschen beim Brunnen. Herumalbernd wusch sie dem Baby gerade das kleine, verschmutzte Hinterteil. Dann hob sie Manuel aus der Wanne, legte mit der freien Hand eine frische Windel aus Baumwollstoff im Gras zurecht und wickelte ihn geschickt darin ein. Darüber zog nur ein kleines Höschen und lieβ den Kleinen mit einem Holzspielzeug im Gras sitzen. Tief durchatmend drehte sie sich zu Arthurs Vater um.
Sie lächelte nicht. Seit vorgestern Abend hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt.
Er schluckte. Sein spanischer Wortschatz war zwar in den vergangenen drei Wochen dank Luisa so weit angewachsen, dass er einige elementare Ausdrucksformen beherrschte, jetzt wollte ihm jedoch nichts Passendes einfallen. Plötzlich schienen alle unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen zu stehen. Beide wussten, dass es Unausgesprochenes gab. Sekundenlang schauten sie sich in die Augen.
„Verflixt bist du schön!“, sagte er schlieβlich auf Deutsch und musste lachen. Sie stimmte erleichtert ein.
Wozu über Dinge reden, die nur in meinem Kopf existiert haben, sagte er sich und reichte Luisa die Hand.
„Danke für alles, und bitte kümmere dich weiter so nett um meinen Kleinen.“
„Mach dir keine Sorgen. Maria Celeste wird ihn sowieso keinen Augenblick aus den Augen lassen“, sagte sie lachend. Dann umarmte sie ihn, küsste seine Wangen und flüsterte: „Adiós“.
Arthurs Vater hatte sehr wohl bemerkt, dass sie dabei einen Seitenblick auf das Küchenfenster warf. Und ihm war sehr wohl bewusst, dass Justina beim Abwaschen einen freien Blick in den Garten hatte.
Luisa begleitete ihn an das Tor. Dort waren Christa und Julius Deisenhofer sowie Miguel und Adalberto bereits dabei, ihr Gepäck auf der relativ kleinen Ladepritsche der „Camioneta“ zu verstauen. Dicht daneben auf der Mauer hockten Arthur und Maria Celeste und alberten fröhlich herum.
Er küsste beide Kinder auf die Wangen, dann hob er seine Reisetasche mit Schwung auf den Wagen. Die Unternehmungslust stand ihm deutlich im Gesicht, als er in Deisenhofers staubigen Ford Pick-up stieg.
Die geschlossene Kabine des wuchtigen Wagens bot Platz für vier oder fünf Leute, jedoch würden nur die Deisenhofers und Arthurs Vater vorn sitzen. Die beiden Arbeiter Miguel und Adalberto kletterten auf die offene Pritsche.
Die Kinder winkten noch, als das Auto längst um die Straβenecke gebogen war. Und auch Luisa stand noch lange gedankenversunken an der Straβe. Sie dachte über Arthurs Vater nach. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Obwohl sie die Nacht vor Deisenhofers Ankunft mit einem der Arbeiter verbracht hatte, zeigte er kein bisschen Eifersucht. Er schien allenfalls peinlich berührt gewesen zu sein. Die Gleichgültigkeit, die er in den vergangenen Wochen vor ihr an den Tag gelegt hatte, war vielleicht doch echt gewesen. Selbst wenn sie abends im luftigen Nachthemd an ihm vorübergegangen war, hatte er nie Anstalten gemacht, sich ihr zu nähern. Natürlich hatte sie bemerkt, dass es ihn nicht völlig kalt gelassen hatte, wenn sie in seiner Nähe war, dennoch hatte er nie einen Finger gerührt, um sie zu erobern. Auf der einen Seite schien sie ihm zu gefallen, auf der anderen Seite zeigte er kein Interesse für sie.
Es kam ihr nicht in den Sinn, dass es Männer geben könnte, die sich von einer Frau etwas anderes wünschen, als ein wenig Koketterie, Erotik und blanken Sex.
Hiermit gelange ich an den Punkt, wo ich versuchen will, Luisas Einstellung zu Männern begreifbar zu machen.
Vorweg sei erwähnt, dass das Leben in der ländlichen Gegend, der „Campaña“, wo Luisa ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, kaum etwas mit der Lebensweise in der Hauptstadt gemeinsam hatte. Dort im Landesinneren schien die Zeit still zu stehen. Was heute nicht erledigt werden konnte, wurde mit einem Achselzucken auf morgen verschoben. „Mañana“, morgen, ist wohl deshalb noch heute eine äuβerst wichtige Vokabel im Wortschatz der Leute vom Land. Es ist aber, meiner Meinung nach, falsch, diese Einstellung bei allen mit Trägheit gleichzusetzen. Schicksalsergebene Gelassenheit trifft wohl eher den Sinn des Wortes.
Auch hatten sich die Lebensgewohnheiten über Jahrzehnte hinweg kaum verändert. Die Schulbildung der Landbevölkerung war, wenn sie denn überhaupt stattfand, meist abgeschlossen, sobald ein Kind leidlich lesen und schreiben, Zahlen zu addieren und subtrahieren verstand und sämtliche Helden der paraguayischen Geschichte aufzählen konnte.
Ebenso erstarrt schienen die Familienstrukturen, insbesondere das Verhalten der Männer. In der Welt, in der Luisa aufgewachsen war, gab es Frauen, Kinder und Machos. Der Ausdruck Macho ist hier in all seiner Härte und Klischeehaftigkeit zu verstehen.
Für die Frauen in ihrem Umfeld hatte stets gegolten: setzte deine weiblichen Reize ein, dann schaffst du es vielleicht, wenigstens zeitweise von einem Mann versorgt zu werden! Danach sollten genügend Kinder da sein, die für dich sorgen können. Die eheliche, lebenslange Bindung zweier Menschen wurde zwar als hehres Ziel angestrebt und manchmal vorgetäuscht, jedoch sei jede Frau, die darauf baue, ihr Leben lang für ein und denselben Mann an erster Stelle zu stehen, letzten Endes eine arme Verliererin. Natürlich war Luisas Vater bis zu seinem Tod immer wieder bei seiner Frau und Familie gewesen, jedoch war sich Luisas Mutter durchaus bewusst, dass sie zwar seine rechtmäβige Gattin, keineswegs aber seine einzige Frau war. Genauso wenig wie ihre Kinder seine einzigen Nachkommen waren.
Wie jedes Kind von einfachen Landarbeitern hatte Luisa es für eine Selbstverständlichkeit gehalten, dass die Familie sich um die Mutter anordnet. Sie führte den Haushalt an. Der Vater war manchmal da, galt zu diesen Zeiten auch unangefochten als „Hahn im Korb“, von der Frau hofiert, von den Kindern bedient, jedoch machte er, solange er jung und kräftig war, keinen Hehl daraus, dass ihm auch andere Körbe offen standen. Eine Frau wie Luisa hatte sich schon als Kind damit abzufinden, dass sie eben „nur“ als Frau auf die Welt gekommen war. Jedoch konnte sie sich glücklich schätzen, dass sie sehr hübsch war. Eine Tatsache, die als „himmlische Mitgift“ gesehen wurde und im Idealfall ihre Zukunft sichern konnte.
Diese sozialen Strukturen hatte Luisa als Kind natürlich nicht durchschaut. Sie war ein fröhliches Kind gewesen, ging am Morgen fast immer gut gelaunt in die Schule und kehrte am Mittag meist singend oder im Rudel gleichaltriger Kinder herumalbernd wieder nach Hause in das windschiefe Häuschen, das Ranchito zurück. Dieses Ranchito war nicht mehr als eine Hütte aus dicht nebeneinander gesetzten Palmenstämmen. Das Dach bestand aus Stroh und bei Regen tropfte es fast immer irgendwo herein. Bei trockenem, warmem Wetter spielte sich das gesamte Leben drauβen ab: Über einer Feuerstelle hing ein schwerer Kochtopf aus Gusseisen, unter den Bäumen stand der Esstisch mit einigen Stühlen und am nicht weit entfernten Bach wurde die Wäsche gewaschen sowie das Geschirr gespült. Nachdem die Familie immer weiter angewachsen war, wurde eine zweite, recht kleine Hütte für Luisa und ihre Schwester gebaut.
Hausaufgaben für die Schule musste Luisa eigentlich nie machen, denn die Lehrer wussten, dass es in den meisten Familien keinen Platz dafür gab. Sie hütete am Nachmittag fast immer die kleinen Geschwister, während die Mutter beim Wäschewaschen war oder das Abendessen kochte. Manchmal musste sie auch bei der Arbeit auf dem Maniok-Feld mithelfen.
Ihre Welt war in heiler Ordnung. Selbst die immer wiederkehrenden, lautstarken Streitereien der Eltern hatten irgendwann ihre Bedrohlichkeit für das Mädchen verloren, auch wenn der Vater nach solchen Kämpfen oft für eine Zeitlang verschwand. Früher oder später kehrte er ja doch immer zu ihnen zurück. Manchmal war er nach seiner Heimkehr ins heimische Nest überaus freundlich und brachte Geschenke für Luisa und ihre Geschwister mit, manchmal kam er aber auch abgemagert, schlecht gelaunt und wortkarg nach Hause.
Luisa war gerade zwölf Jahre alt und ihre sprieβende Weiblichkeit lieβ schon erahnen, dass sie versprach, eine Schönheit zu werden. Noch vor ihrer ersten Menstruation wurde sie zum ersten Mal vergewaltigt. Was ich über diese Geschichte weiβ, hatte Luisa ihrer Tochter Maria Celeste erzählt, dabei aber nie das Wort Vergewaltigung in den Mund genommen. Und Maria Celeste hat viele Jahre später mit Arthur über das gesprochen, was sie von ihrer Mutter gehört hatte.
Arthur und ich haben oft über die eigentümliche Gesellschaftsform des Landes diskutiert. Einerseits erkennt man deutlich matriarchalische Strukturen in den Familien, andererseits ist die machohafte Haltung der meisten Männer nicht von der Hand zu weisen. Ein scheinbarer Widerspruch, der wohl auf die Folgen des verheerenden Krieges im vorigen Jahrhundert zurückgeführt werden muss.
Im Jahr 1870 war die paraguayische Bevölkerung durch den Krieg gegen Brasilien, Argentinien und Uruguay beinahe vollständig ausgelöscht worden. Der paraguayische Machthaber Franzisco Solano Lopez wollte die Grenzen seines Landes neu festlegen. Von den eine Million dreihunderttausend Einwohnern waren nach diesem wahnsinnigen Gemetzel noch ganze Zweihunderttausend Menschen am Leben. Lächerliche zehn Prozent davon waren Männer. Das heißt zwanzigtausend Männer! Knaben, Greise und Krüppel eingeschlossen! Das muss man sich einmal vorstellen: ein Land praktisch ohne Männer.
Da verwundert es kaum noch, dass sich die Männer Paraguays daran gewöhnten, allseits begehrte Erzeuger zu sein. Die Frauen hatten den häuslichen Alltag sowie die Nahrungsmittelbeschaffung allein zu bewältigen und sich auch um das möglichst schnelle Anwachsen der Familie zu kümmern. Glücklich die, die viele männliche Nachkommen in die Welt setzte. Wer wollte da einem Mann noch verbieten, diese oder jene Frau zu schwängern! Welchem Mann wollte man da die freie Auswahl nicht gestatten! Freie Fahrt zu jeder Zeit! Frauen, rollt eure roten Teppiche aus, sobald sich ein potentieller und potenter Kindererzeuger nähert! Und bitteschön, verbietet ihnen auch eure Töchter nicht!
Diese Einstellung hatte sich in den Köpfen der Männer – aber leider oft auch der Frauen – verfestigt. Zu der Zeit, als Arthur und sein Vater ins Land kamen, regierte der deutschstämmige General Alfredo Stroessner das Land. Und auch er, als allseits respektiertes Vorbild für die kleinen Leute war es gewohnt, unter den Frauen seines Landes willkürlich auszuwählen, was ihm gerade gefiel. Es heiβt, er habe eine seiner Geliebten rein zufällig zum ersten Mal gesehen, als das knapp fünfzehnjährige Mädchen gerade aus der Schule kam. Vom Fenster seiner Staatskarosse aus hatte der nicht mehr ganz junge Mann das fröhliche Mädchen beobachtet. Die hübsche Señorita hatte dem General und Diktator gefallen, also lieβ er ihrer Familie die Botschaft zukommen, dass er bereit sei, sich um sie zu „kümmern“. Angeblich erhoben weder das Mädchen selbst, noch ihre Familie Einwände dagegen. So wurde ihm die Zweitfrau gewissermaβen, mit dem Einverständnis aller ihrer Familienmitglieder, auf einem Silbertablett serviert. Was konnte einem Mädchen ihres Standes schon Besseres passieren!
In Luisas Familie hingegen hatte niemand mitbekommen, was dem Mädchen geschehen war. Und Luisa hatte ihren „Onkel“ nie für sein Verbrechen verantwortlich gemacht.
Während der traditionellen Feier zum ersten Geburtstag ihres kleinen Bruders war es nicht weiter aufgefallen, dass der Compadre Luís, bester Freund ihres Vaters (und ihr Taufpate!), immer wieder versucht hatte, in der Nähe der damals Zwölfjährigen zu bleiben. Während man gemeinsam in groβer Runde um das Lagerfeuer herum saβ, aβ und trank, fröhliche Volkslieder zu Gitarrenmusik sang, gelegentlich auch tanzte, achtete niemand auf Luís, der sein Patenkind immer wieder seine bildschöne Königin nannte, sie ungefragt packte und auf sein Knie setzte und dabei lüstern ansah und betatschte. Niemanden hatten seine pausenlosen, schlüpfrigen Komplimente für „die bezaubernde Tochter des Hauses“ gestört und niemandem war aufgefallen, wie peinlich Luisa sein Gehabe war. Allerdings hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie sich auch ein ganz kleines Bisschen geschmeichelt fühlte.
Die Schwester, die sonst mit Luisa zusammen in der kleineren Palmenhütte schlief, war während des Festes auf einem weichen Schaffell unter dem Vordach der groβen Hütte eingeschlafen. Luisa hatte sich kurz vor Mitternacht müde zurückgezogen, die Erwachsenen feierten noch bis spät in die Nacht bei Gitarrenmusik und johlendem Gesang. Klarer Schnaps sorgte für Stimmung und zum Teil auch für Übelkeit. Natürlich hatte Luisas Mutter für alle Gäste, die einen weiten Heimweg hatten, ein Nachtlager hergerichtet. Auch für den Freund der Familie, Compadre Luís. Dieser hatte jedoch darauf bestanden, in seiner mitgebrachten Hängematte zu schlafen, die er, nachdem sich die letzten Gäste verabschiedet hatten, direkt vor Luisas Palmenhütte aufspannte. Eine ältere Freundin der Mutter hatte sich, fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, direkt neben Luisas Bett auf den Fuβboden gelegt. Lediglich eine Decke aus Schafwolle diente ihr als Unterlage.
Luisa wurde wach, als von drauβen kein Festlärm mehr zu ihr ins Zimmer drang. Nur das Schnarchen der Frau neben ihrem Bett war zu hören, da bemerkte sie, dass sich die leise quietschende Tür ihrer Kammer öffnete. Onkel Luís stand einen Moment leicht schwankend im Raum und blickte sich suchend um. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit in der Hütte gewöhnt hatten, machte er einen weiten Schritt über die Gestalt am Boden und kroch zu Luisa ins Bett. Das Mädchen hielt erschrocken den Atem an, unfähig etwas zu sagen oder gar zu schreien. Das mit Lederriemen bespannte Holzgestell ihres Bettes knarrte laut, als er sich neben sie legte. Augenblicklich drehte sich Luisa zur Wand, ihr Herz klopfte immer schneller, und, wie es ihr schien, immer lauter und lauter. Luís umfasste sie von hinten mit einem gedämpften und langgezogenen Seufzer. Der Körper der schmächtigen Luisa wurde ganz steif, aber er zog sie näher zu sich heran und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie die Schönste auf dem Fest gewesen sei, dass sie schon wie eine richtige Señorita aussehe, dass er den ganzen Abend nur darauf gewartet habe, bis er endlich eine Gelegenheit dazu haben würde, diese Schönheit zu fragen, ob sie nicht die Seine werden wolle, schlieβlich sei er ihr Taufpate und Namensgeber und seit ewigen Zeiten Freund der Familie.
Während er leise auf Luisa einredete, hatte er mit seinen schweiβnassen Händen ihr Nachthemdchen nach oben geschoben und streichelte ihr mit sanften Berührungen den Bauch und den Rücken. Sie wollte seinen Händen ausweichen, indem sie sich weiter in die Ecke verkroch, da küsste er ihr, ständig weiter auf sie einredend, den Hals und den Nacken. Obwohl alles in ihr „nein“ schrie, war sie vor Angst wie versteinert, unfähig etwas zu tun oder um Hilfe zu rufen, zumal ihr seine überaus zarten Liebkosungen und sein heiβer Atem in ihrem Nacken eine unbekannte, trotz aller ablehnenden Gefühle, wohlige Gänsehaut über den Rücken rieseln lieβen. Für einen Moment wünschte sie sich, dass er nie aufhören würde, sie zu streicheln. Wenn nur dieses gierige Küssen nicht gewesen wäre! Er redete heiser flüsternd weiter, verglich sie mit einer Knospe, die in Begriff sei, ihre prächtige Schönheit zu entfalten, bat sie mit salbungsvoller, scheinbarer Hingabe darum, der Gärtner sein zu dürfen, der dieser Knospe zur Blüte verhelfen dürfte.
Natürlich hatte Luisa längst eine verschwommene Ahnung von dem Geheimnis, das Frauen und Männer miteinander erleben. Ihr war es ebenfalls längst bekannt, dass es das Gefühl von Verliebtheit gab, aber dieser Mann war etwa dreiβig Jahre älter als sie selbst, hatte Frau und Kinder in ihrem Alter, mit denen er viele Kilometer weit von hier als Peón auf einer groβen Estancia lebte und arbeitete. Auβerdem hatte sie bei Tieren gesehen und von Freundinnen gehört, dass sich die geschlechtliche Liebe in jenem verborgenen Winkel des Körpers abspielte. Sie wusste nicht genau wie, und was dabei geschah. Aber sie wollte es auch gar nicht näher wissen! Sie wollte es noch nicht wissen!
Anfangs hatte sie sich nicht dagegen wehren können, seine Zärtlichkeiten trotz ihrer Angst und der Ablehnung auch als angenehm zu empfinden. Aber dieses Streicheln war jetzt kein Streicheln mehr, wie sie es sich wünschte. Sein Atem wurde flach und stoβartig und seine Liebkosungen gingen unaufhaltsam weiter, ebenso seine erhebenden Reden, die ihr das Gefühl geben sollten, ein Geschöpf von überirdischer Schönheit zu sein. Und er lieβ sich Zeit, streichelte sanft ihren Nacken, ihre Schultern, ihren schmalen Rücken. „Du liebst doch deinen Tío Luís, meine kleine Blume, nicht wahr?“, fragte er sie flüsternd. Alles in ihr schrie: Ja, ich liebe meinen Onkel. Aber nicht so! Die Angst und ahnungsvolles Grauen schnürten diese Antwort jedoch ab. Für einen kurzen Moment gaben ihre Glieder scheinbar willenlos nach, als er sie an den Schultern packte und langsam auf den Rücken rollte und ihren Bauch mit seinen gierigen Küssen bedeckte. Panik und abgrundtiefer Widerwillen durchzogen ihren zierlichen Körper jetzt bei jeder Berührung. Ekel und stummes, grenzenloses Entsetzen schnürten ihr förmlich die Luft ab, als seine Hand fest zwischen ihre Beine glitt und diese brutal auseinanderdrückte.
Panische Angst, Angst, Angst!
Unendliche Scham und Hilflosigkeit unter seinen hart gewordenen Griffen veranlassten sie, nicht zu rufen, sondern die nächsten schmerzhaften, zutiefst demütigenden Minuten still auszuhalten.
Aushalten. Aushalten. Aushalten.
Nur Aushalten...
Vorbei.
Die Frau am Boden soll im Schlaf geseufzt und sich schwerfällig umgedreht haben, als das Stöhnen des Mannes immer lauter wurde. Sie war aber nicht aufgewacht.
Onkel Luís hatte sich danach schnell wieder in seine Hängematte zurückgezogen. Luisa lag bis zum Morgen weinend im Bett. Sie hatte am Morgen nicht den Mut, ihrer Mutter gleich alles zu erzählen und als es Luís im Laufe des Vormittags gelang, unbeobachtet an sie heranzutreten, sagte er ihr grinsend, sie solle lieber den Eltern nichts verraten, denn ihr Vater wäre vielleicht enttäuscht, weil er ja seine Tochter nun nicht mehr als Jungfrau verheiraten könnte. Abgesehen davon, fügte er mit raunender Stimme und wiederum gierigen Blicken hinzu, würde er keine Minute zögern, eine wunderschöne Frau wie sie zu heiraten, wenn er nur könnte. Und er sei ganz sicher, dass auch sie die Nacht genossen habe. Denn ansonsten hätte sie ihn ja weggeschickt, nicht? Dass es am Ende mit Schmerzen verbunden gewesen war, sei schlieβlich beim ersten Mal völlig normal.
So blieb Luisa nur das Gefühl, an dieser demütigenden Erfahrung auch noch selbst schuld zu sein.
Arthur hat mir all das, was er von Luisa und dieser Geschichte weiβ, mit wütendem Schweiβ auf der Stirn erzählt und dabei immer wieder über Männer geflucht, ohne eine Verallgemeinerung zu vermeiden.
„Und es gibt immer wieder solche Schweine, die sich über hilflose kleine Mädchen hermachen!“
„Und es hat sie immer gegeben“, antworte ich.
„Oh nein!“, ruft Arthur auβer sich. „Jetzt komm mir bloβ nicht mit solchem Geschwätz: hat es immer gegeben und wird es immer geben! Verdammt! Das ist eine krankhafte, niederträchtige...“
„Ja, ja, ich weiβ! Und ich will auch nicht sagen, dass es verzeihlich ist, ein Kind zu missbrauchen. Du sagst krankhaft, genau! Eine krankhafte Erscheinung, die es in fast jeder Zivilisation gibt und schon immer gegeben hat. Was mich nur wundert, ist, dass auch Völker wie die Mestizen in Südamerika, die man doch so gern als naturnah und naturverbunden hinstellt, von dieser Krankheit genauso betroffen sind wie die ‚hochzivilisierten’ Volksgruppen, beispielsweise in Europa.“
„Naturverbunden! Was heiβt das schon! Sie haben hier...“
„Eben! Sie haben hier wie überall solche unnormalen, psychisch kranken Mannsbilder, die ihre Machtgelüste an Kindern auslassen. Egal, ob Weiβe, Mestizen oder Indianer. Es gibt eben keine von Natur aus ‚edlen Wilden’!“
„Edle Wilde! Idiotische und romantische Schönmalerei der wilden Unzivilisation!“, meint Arthur.
Angesichts dieser längst vergangenen Ereignisse mag es vielleicht nicht mehr verwundern, dass sich Luisa jetzt, nach Abfahrt der Deisenhofers, nur fragte, warum sie wohl für Arthurs Vater nicht attraktiv genug gewesen war. Irgendetwas an ihr musste ihn abgestoβen haben, denn der Mann hatte nichts unternommen, sie zu „nehmen“. Sie holte einen Besen und fing an, die kleinen Sanddünen, die der Wind auf dem Gehweg vor dem Tor zusammengeweht hatte, auf die Straβe zu kehren.