Читать книгу Der Tod und Ein Hund - Fiona Grace, Фиона Грейс - Страница 4
KAPITEL EINS
ОглавлениеDie Glocke über der Tür klingelte. Lacey blickte auf und sah, dass ein älterer Herr ihren Antiquitätenladen betreten hatte, der im Stil des britischen Landadels gekleidet war. In Laceys altem Zuhause, New York City, hätte er damit seltsam gewirkt, doch in dem Küstenort Wilfordshire in England war er damit nur ein typischer Bewohner. Lacey glaubte, ihn noch nie gesehen zu haben, obwohl sie die meisten Bewohnter der kleinen Stadt mittlerweile kannte. Seinem konfusen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte Lacey, dass er sich vielleicht verlaufen hatte.
Als sie seinen hilfesuchenden Blick bemerkte, hielt sie die Sprechmuschel des Telefons zu – mitten in einer Unterhaltung mit der Tierschutzorganisation RSPCA – und rief ihm über die Ladentheke zu: „Ich bin gleich bei Ihnen, ich muss nur noch einen Anruf beenden.“
Der Mann schien sie nicht zu hören. Seine Aufmerksamkeit war jetzt auf ein Regal gerichtet, in dem sich Kristallglasfiguren befanden.
Lacey wusste, dass sie sich bei ihrer Konversation mit der RSPCA beeilen musste, um den verwirrt wirkenden Kunden zu bedienen, also nahm sie ihre Hand wieder von der Sprechmuschel. „Bitte entschuldigen Sie. Könnten Sie das nochmal wiederholen?“
Die Stimme am anderen Ende war die eines Mannes. Er klang ermüdet und seufzte. „Was ich gerade gesagt habe, Frau Doyle, ist, dass ich Ihnen keine Daten von Mitarbeitern geben kann. Dabei geht es um den Datenschutz. Das verstehen Sie doch sicherlich, oder?“
Lacey hatte das alles bereits gehört. Sie hatte die RSPCA zu allererst angerufen, um Chester offiziell zu adoptieren. Er war der englische Hirtenhund, den sie mehr oder weniger mit dem Antiquitätenladen erhalten hatte, in dem sie sich eingemietet hatte (sein bisheriger Besitzer, der das Geschäft vor ihr betrieben hatte, war in einem tragischen Unfall ums Leben gekommen und Chester war bis zu seinem Zuhause zurückgelaufen). Doch dann hatte sie den Schreck ihres Lebens bekommen, als sie die Frau am anderen Ende gefragt hatte, ob sie mit Frank Doyle verwandt war – dem Vater, der sie als Siebenjährige verlassen hatte. Danach brach die Verbindung ab und seither rief sie jeden Tag dort an, um die Frau aufzuspüren, mit der sie gesprochen hatte. Nun schienen jedoch alle Anrufe in ein zentrales Callcenter in der nahegelegenen Stadt Exeter umgeleitet zu werden und Lacey konnte die Frau nicht ausfindig machen, die den Namen ihres Vaters kannte.
Lacey umklammerte den Hörer und kämpfte damit, ihre Stimme zu beruhigen. „Ja, ich verstehe, dass Sie mir ihren Namen nicht sagen können. Aber warum können Sie mich nicht mit ihr verbinden?“
„Nein, Frau Doyle“, antwortete der junge Mann. „Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, wer diese Frau ist, haben wir ein System im Callcenter. Die Anrufe werden zufällig zugeteilt. Alles, was ich tun kann – und das habe ich bereits getan – ist, eine Notiz mit Ihren Daten in unserem System zu hinterlassen.“ Er klang nun etwas gereizt.
„Aber was, wenn sie die Notiz nicht sieht?“
„Die Möglichkeit besteht natürlich. Wir haben eine Vielzahl an Mitarbeitern, die nur bei Bedarf auf freiwilliger Basis aushelfen. Die Person, mit der sie gesprochen haben, war vielleicht seit Ihrem Anruf gar nicht mehr in unserem Büro.“
Lacey hatte auch diese Worte bereits gehört. Sie hatte schon unzählige Male angerufen und hoffte jedes Mal auf ein anderes Ergebnis. Die Mitarbeiter im Callcenter schienen von ihr bereits ziemlich genervt zu sein.
„Aber wenn sie eine freiwillige Mitarbeiterin war, bedeutet dass nicht, dass sie womöglich nie wieder zu einer weiteren Schicht kommen wird?“, fragte Lacey.
„Klar. Das kann sein. Dagegen kann ich aber nichts tun.“
Lacey hatte keine Lust mehr, sich weiter einzuschmeicheln. Sie seufzte und gab sich geschlagen. „Okay, trotzdem danke.“
Sie legte auf und sank in sich zusammen. Aber sie würde nicht zu lange darüber grübeln. Ihre Versuche, Informationen zu ihrem Vater zu finden, waren immer schon schwierig gewesen. Machte sie zwei Schritte vorwärts, folgten eineinhalb rückwärts. Sie hatte sich bereits an Sackgassen und Enttäuschung gewöhnt. Abgesehen davon musste sie ihre Kunden betreuen und ihr geliebter Laden stand in Lacey Kopf immer an erster Stelle.
Seitdem die zwei Polizeidetektive Karl Turner und Beth Lewis in einem offiziellen Bescheid anerkannt hatten, dass sie nichts mit dem Mord von Iris Archer zu tun hatte – und dass sie sogar an der Lösung des Falls beteiligt gewesen war – lief ihr Laden wieder so gut wie früher. Er blühte förmlich auf und täglich strömten zahlreiche Kunden herein, die entweder aus der Gegend oder auf Urlaub hier waren. Lacey machte genug Umsatz, um das Crag Cottage zu kaufen (etwas, das sie gerade mit Ivan Parry, ihrem derzeitigen Vermieter, aushandelte), und sie hatte sogar genug Einkommen, um Gina, ihre direkte Nachbarin und gute Freundin, zeitweilig einzustellen. Es war nicht so, dass sich Lacey während Ginas Schicht freinahm – stattdessen lernte sie alles über Auktionen. Es hatte ihr so gefallen, Iris Archers Besitztümer zu versteigern, dass sie ab jetzt jeden Monat eine abhalten wollte. Morgen würde Laceys nächste Auktion stattfinden und sie war bereits voller Tatendrang.
Sie kam hinter dem Tresen hervor – Chester hob seinen Kopf, um wie üblich zu winseln – und ging auf den älteren Herrn zu. Er war ein Fremder, keiner ihrer Stammkunden, und blickte gebannt auf das Fach mit den Kristallballerinas.
Lacey schob ihre dunklen Locken aus dem Gesicht und kam dem alten Mann entgegen.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragte sie, als sie sich neben ihn stellte.
Der Mann erschrak. „Um Himmels Willen, Sie haben mich erschreckt!“
„Das tut mir leid“, sagte Lacey, als sie sein Hörgerät entdeckte und sich ermahnte, ältere Menschen zukünftig nicht mehr von hinten zu überraschen. „Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie nach etwas Speziellem suchen oder sich nur umsehen wollen.“
Der Mann blickte wieder auf die Figuren und ein kleines Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit. „Das ist eine lustige Geschichte“, sagte er. „Es ist der Geburtstag meiner verstorbenen Gattin. Ich bin für Tee und Kuchen in die Stadt gekommen, um ihre Erinnerung zu ehren, wissen Sie. Aber als ich an Ihrem Geschäft vorbeigekommen bin, musste ich unbedingt hineinkommen.“ Er zeigte auf die Figuren. „Sofort habe ich die hier entdeckt.“ Er schenkte Lacey ein wissendes Lächeln. „Meine Frau war eine Tänzerin.“
Lacey lächelte zurück, gerührt von der bewegenden Geschichte. „Wie wundervoll!“
„Das war in den Siebzigerjahren“, führte der ältere Herr fort und nahm eine der Figuren mit zittriger Hand aus dem Regal. „Sie war ein Teil der Royal Ballet Society. Sie war sogar die erste Ballerina mit –“
In diesem Moment unterbrach das Geräusch eines großen Vans, der direkt vor dem Laden zu schnell über eine Bodenschwelle fuhr, den Satz des Mannes. Der nachfolgende Knall, den der Wagen machte, als er wieder auf der anderen Seite herunterratterte, ließ den Herrn fast in die Höhe springen, und die Figur in seiner Hand flog in die Luft. Sie fiel direkt auf die hölzernen Bodendielen. Der Arm der Ballerina brach ab und wurde unter das Regal geschleudert.
„Ach du meine Güte!“, schrie der Mann auf. „Das tut mir so leid!“
„Keine Sorge“, versicherte ihm Lacey, während ihr Blick auf dem weißen Van ruhte, den sie durch das Fester beobachten konnte. Das Fahrzeug war an den Rand gefahren und abgestellt worden, der Motor brummte laut auf und der Auspuff qualmte. „Es war nicht Ihre Schuld. Ich denke nicht, dass der Fahrer die Bodenschwelle gesehen hat. Wahrscheinlich hat er seinen Van beschädigt!“
Sie kniete sich nieder und versuchte mit ihrem Arm unter das Regal zu gelangen, bis ihre Fingerspitzen die kleine, scharfe Kante des Kristalls erfühlen konnten. Sie zog ihren Arm hervor – der nun von einer dünnen Staubschicht bedeckt war – und richtete sich wieder auf. Genau in diesem Moment sah sie, wie der Fahrer des Vans aus der Kabine auf das Kopfsteinpflaster hinabsprang.
„Das kann doch nur ein Witz sein…“, murmelte Lacey, als sich ihr Blick auf den Übeltäter richtete, den sie nun erkennen konnte. „Taryn.“
Taryn gehörte die Boutique nebenan. Sie war eine versnobte, kleinkarierte Frau, der Lacey den Titel der Unbeliebtesten Person in Wilfordshire verliehen hatte. Sie versuchte Lacey immer in die Quere zu kommen und sie aus der Stadt zu jagen. Taryn hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um Laceys Versuche zu sabotieren, ein eigenes Geschäft in Wilfordshire aufzubauen. Sie war sogar so weit gegangen, Löcher in die Wand ihres eigenen Ladens zu bohren, nur um sie zu irritieren! Und obwohl die Frau sie um einen Waffenstillstand gebeten hatte, nachdem es ihr Handlanger etwas zu weit treiben wollte – er war dabei erwischt worden, wie er nachts vor ihrem Haus gelungert hatte – vertraute ihr Lacey immer noch nicht. Taryn spielte nicht mit fairen Mitteln. Sicherlich war das nur ein weiterer Trick von ihr. Es war gar nicht erst möglich, dass sie die Bodenschwelle nicht kannte – sie war sogar aus ihrem eigenen Ladenfenster sichtbar, zum Teufel nochmal! Als wäre sie absichtlich zu schnell darübergefahren. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, parkte sie jetzt direkt vor Laceys Laden statt vor ihrem eigenen und versuchte entweder die Sicht auf ihr Schaufenster zu blockieren oder die ganzen Abgase in ihre Richtung zu pumpen.
„Das tut mir so leid“, wiederholte der Mann und konnte Laceys Aufmerksamkeit wiedererlangen. Er hielt immer noch die Figur hoch, die nun nur noch einen Arm besaß. „Bitte. Lassen Sie mich für den Schaden aufkommen.“
„Auf keinen Fall“, antwortete Lacey nachdrücklich. „Sie haben nichts falsch gemacht.“ Ihr strenger Blick richtete sich wieder über seine Schulter auf das Fenster. Sie fixierte Taryn und beobachtete, wie die Frau behutsam zum Heck des Fahrzeugs tänzelte, als hätte sie keine Sorge in der Welt. Laceys Ärger über die Besitzerin der Boutique wuchs weiter. „Wenn jemand Schuld daran hat, dann ist es die Fahrerin.“ Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Es kommt mir fast so vor, als hätte sie das mit Absicht getan. Autsch!“
Lacey fühlte etwas Scharfes in ihrer Handfläche. Sie umklammerte den abgebrochenen Arm der Ballerina so fest, dass er sich in ihre Haut bohrte.
„Huch!“, erschrak der Mann, als er den großen Blutstropfen sah, der sich in ihrer Handfläche bildete. Er zog den Arm, der die Verletzung verursacht hatte, vorsichtig aus ihrer Hand, als würde seine Entfernung die Wunde wieder verschließen können. „Sind Sie okay?“
„Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment“, sagte Lacey.
Sie ging auf die Tür zu, ließ den erstaunten Mann im Laden zurück, der in einer Hand die beschädigte Ballerina hielt, in der anderen den abgebrochenen Arm, und marschierte auf die Straße. Sie schritt direkt auf ihren Nachbarschaftsfeind zu.
„Lacey!“, rief ihr Taryn strahlend entgegen, während sie die Hintertür des Vans wieder verschloss. „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich hier parke? Ich muss den Lagerbestand für die neue Saison ausladen. Ist Sommer nicht auch deine Lieblingsjahreszeit für Mode?“
„Dass du hier parkst, stört mich überhaupt nicht“, sagte Lacey. „Aber mich stört, wenn du zu schnell über die Bodenschwelle ratterst. Du weißt doch, dass die Schwelle direkt vor meinem Laden ist. Der Lärm hat meinem Kunden fast einen Herzinfarkt verpasst.“
Dann fiel ihr auf, dass Taryn ihren bulligen Van so geparkt hatte, dass er ihren Blick auf Toms Patisserie auf der anderen Straßenseite blockierte. Das war definitiv mit Absicht!
„Verstanden“, sagte Taryn mit gekünstelter Heiterkeit. „Ich werde nächstes Mal langsamer fahren, wenn die Herbstmode ankommt. Hey, du solltest einmal vorbeikommen, wenn alles eingeräumt ist. Deine Garderobe auffrischen. Dir etwas gönnen. Du verdienst es.“ Ihre Augen wanderten über Laceys Outfit. „Und es wird langsam Zeit.“
„Ich werde darüber nachdenken“, sagte Lacey trocken und erwiderte Taryns falsches Lächeln.
Sobald sie der Frau den Rücken zugedreht hatte, verwandelte sich das Lächeln in eine Grimasse. Taryn war wirklich die Königin der zweideutigen Komplimente.
Als sie wieder in den Laden kam, wartete ihr älterer Kunde bereits an der Kassa und eine zweite Person – ein Mann in einem dunklen Anzug – hatte das Geschäft betreten. Er sah sich gerade das Regal mit den nautischen Stücken an, die sie morgen bei der Auktion versteigern wollte. Ihr Hund Chester beobachtete ihn dabei mit wachsamen Augen. Sie konnte sein Aftershave bereits aus der Entfernung riechen.
„Ich bin gleich bei Ihnen“, rief Lacey dem neuen Kunden zu, während sie in den hinteren Teil des Ladens eilte, wo der ältere Gentleman wartete.
„Ist Ihre Hand in Ordnung?“, fragte der Herr.
„Alles okay.“ Sie blickte auf den kleinen Kratzer in ihrer Handfläche, der bereits aufgehört hatte zu bluten. „Tut mir leid, dass ich es so eilig hatte. Ich musste –“ sie wählte ihre Worte vorsichtig, „– etwas erledigen.“
Lacey würde sich nicht von Taryn herunterziehen lassen. Wenn sie es zuließ, dass ihr die Besitzerin der Boutique unter die Haut ging, würde sie sich nur ein Eigentor schießen.
Als Lacey hinter den Verkaufstresen schlüpfte, fiel ihr auf, dass der ältere Herr die gebrochene Figur darauf platziert hatte.
„Ich würde sie gerne kaufen“, erklärte er.
„Aber sie ist kaputt“, erwiderte Lacey. Er versuchte offensichtlich einfach nur nett zu sein, obwohl er keinen Grund hatte, sich wegen des Missgeschicks schlecht zu fühlen. Es war wirklich nicht seine Schuld gewesen.
„Ich will sie trotzdem haben.“
Lacey lief rot an. Er war sehr hartnäckig.
„Darf ich wenigstens versuchen, sie zu reparieren?“, fragte sie. „Ich habe Superkleber und –“
„Das ist nicht nötig!“, unterbrach sie der Herr. „Ich will sie genauso, wie sie ist. Sehen Sie, die Figur erinnert mich jetzt nur noch mehr an meine Frau. Das wollte ich eigentlich gerade sagen, als das Auto über die Schwelle gerumpelt ist. Sie war die erste Ballerina mit Handicap in der Royal Ballet Society.“ Er hielt die Figur hoch und drehte sie im Lichtschein. Das Licht spiegelte sich im rechten Arm, der immer noch elegant ausgestreckt war, am Ellenbogen jedoch in einem gezackten Stumpf endete. „Sie tanzte mit einem Arm.“
Lacey zog die Augenbrauen hoch. Ihr Mund stand offen. „Das kann doch nicht wahr sein!“
Der Mann nickte eifrig. „Ehrlich! Sehen Sie das nicht? Das war ein Zeichen von ihr.“
Lacey konnte ihm nur zustimmen. Sie war schließlich selbst gerade auf der Suche nach einem Geist in der Form ihres Vaters und daher besonders empfänglich für die Zeichen des Universums.
„Dann haben Sie recht, Sie müssen sie haben“, sagte Lacey. „Aber ich werde Sie nicht dafür bezahlen lassen.“
„Sind Sie sicher?“, fragte der Mann überrascht.
Lacey strahlte. „Absolut sicher! Ihre Frau hat Ihnen ein Zeichen geschickt. Die Figur gehört rechtmäßig Ihnen.“
Der Herr wirkte gerührt. „Dankeschön.“
Lacey begann die Figur in Seidenpapier einzuwickeln. „Lassen Sie uns sicherstellen, dass ihr keine weiteren Gliedmaßen abbrechen, nicht wahr?“
„Sie halten eine Auktion ab, wie ich sehe“, sagte der Mann und deutete über ihre Schulter auf ein Plakat an der Wand.
Anders als das plumpe, handgezeichnete Poster, das sie bei der letzten Auktion verwendet hatte, war dieses professionell angefertigt worden. Es war mit nautischen Bildern dekoriert; mit Booten und Möwen und einem Rahmen, der so aussah, als bestünde er aus blau und weiß karierten Wimpeln zu Ehren von Wilfordshires eigener Obsession mit Wimpeln.
„Das ist richtig“, sagte Lacey mit stolzgeschwellter Brust. „Es ist erst meine zweite Auktion. Sie dreht sich ausschließlich um antike Seefahrtobjekte. Sextanten. Anker. Teleskope. Ich werde eine ganze Reihe von Schätzen verkaufen. Vielleicht wollen Sie ja vorbeikommen?“
„Ja, vielleicht“, antwortete der Mann mit einem Lächeln.
„Ich lege Ihnen einen Flyer in die Einkaufstüte.“
Genau das tat Lacey auch und reichte dem Mann die zarte Figur über den Tresen. Er dankte ihr und machte sich auf den Weg hinaus.
Lacey beobachtete, wie der alte Herr den Laden verließ, berührt von seiner Geschichte, bis ihr der andere Kunde wieder ins Gedächtnis kam.
Sie blickte nach rechts, um ihre Aufmerksamkeit auf den anderen Mann zu richten. Doch er war bereits verschwunden. Er hatte den Laden leise und unbemerkt verlassen, bevor sie überhaupt die Chance hatte, ihm ihre Hilfe anzubieten.
Sie ging zu dem Areal, das er gerade noch begutachtet hatte. Auf der unteren Ablage hatte sie die Boxen abgestellt, in der sich alle Objekte für die Auktion befanden. Auf einem Schild in Ginas Handschrift stand geschrieben: Keines dieser Stücke steht zum Verkauf. Alles wird versteigert! Sie hatte daneben eine Zeichnung hinterlassen, die wohl einen Schädel mit gekreuzten Knochen darstellen sollte. Dabei musste sie das Seefahrtthema mit Piraten verwechselt haben. Hoffentlich hatte der Kunde das Schild gesehen und würde morgen wiederkommen, um auf den Gegenstand zu bieten, der ihn so brennend interessiert hatte.
Lacey nahm eine der Boxen mit zur Theke, in der sich noch nicht geschätzte Artikel befanden. Als sie ein Objekt nach dem anderen herauszog und sie auf dem Tresen aufreihte, konnte sie ihre freudige Aufregung nicht mehr verbergen. Ihre letzte Auktion war wunderbar gewesen, doch die Suche nach einem Killer hatte ihre Freude geschmälert. Diese würde sie in vollen Zügen genießen. Endlich würde sie die Chance erhalten, ihre Auktionskünste zu üben, und sie konnte es wirklich kaum erwarten!
Sie war gerade voll im Fluss beim Schätzen und Katalogisieren der Artikel, als sie von dem schrillen Läuten ihres Handys unterbrochen wurde. Mit leichter Frustration über die Störung, die sicherlich von ihrer melodramatischen, jüngeren Schwester Naomi und ihrer Alleinerzieherkrise ausging, blickte Lacey auf ihr Handy, das mit dem Display nach oben auf dem Tisch lag. Sie war überrascht zu sehen, dass der Name ihres Ex-Mannes David aufleuchtete.
Lacey starrte einen Moment lang auf den blinkenden Bildschirm, zu benommen, um zu reagieren. Ein Tsunami der Gefühle durchflutete ihren Körper. David und sie hatten seit der Scheidung kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt – obwohl er immer noch mit Laceys Mutter zu sprechen schien – und alles über ihre Anwälte geregelt. Aber dass er sie direkt anrief? Lacey wusste gar nicht, wo sie mit ihren Theorien über sein plötzliches Verhalten anfangen sollte.
Obwohl sie es eigentlich besser wissen sollte, hob Lacey ab.
„David? Ist alles in Ordnung?“
„Nein, ist es nicht“, erklang seine gereizte Stimme, die eine Million verborgene Erinnerungen aus Laceys Verstand hervorwühlte, wie als würde jemand Staub aufwirbeln.
Sie verkrampfte sich, bereit für schreckliche Nachrichten. „Was ist los? Ist etwas passiert?“
„Deine Alimente sind nicht angekommen.“
Lacey rollte ihre Augen so weit nach oben, dass es schmerzte. Geld. Natürlich. Es gab nichts, was David wichtiger war als Geld. Einer der lächerlichsten Aspekte ihrer Scheidung war die Tatsache, dass sie ihm Unterhalt zahlen musste, da sie mehr verdient hatte als er. Natürlich war dies der einzige Grund, um ihn dazuzubringen, mit ihr in Kontakt zu treten.
„Aber ich habe die Zahlungen bereits bei der Bank eingerichtet“, sagte ihm Lacey. „Sie sollten automatisch laufen.“
„Nun, scheinbar haben die Briten eine andere Definition von automatisch und falls du es nicht mitbekommen hast, die Deadline ist heute! Also schlage ich vor, dass du schleunigst bei der Bank anrufst und die Situation klärst.“
Er klang genauso wie ein Rektor. Lacey erwartete schon fast, dass er seinen Monolog mit den Worten „du dummes, kleines Mädchen“ abschloss.
Sie krallte sich in das Telefon und bemühte sich, David keinen Raum in ihrem Kopf zu lassen, nicht heute, am Tag vor der Auktion, auf die sie sich schon so gefreut hatte!
„Was für ein schlauer Vorschlag, David“, antwortete sie und klemmte ihr Handy zwischen ihrem Ohr und ihrer Schulter ein, damit sie die Hände freihatte, um sich in ihrem Online-Account der Bank einzuloggen. „Auf die Idee wäre ich nie gekommen.“
Auf ihre Worte folgte Stille. David hatte wahrscheinlich noch nie eine sarkastische Bemerkung von ihr erhalten und es brachte ihn aus dem Konzept. Der englische Humor ihres neuen Freundes schien sehr schnell abzufärben.
„Du nimmst das nicht sonderlich ernst“, erwiderte David, als er endlich durchblickte.
„Sollte ich?“, antwortete Lacey. „Es ist nur ein Missverständnis bei der Bank. Ich kann das wahrscheinlich bis zum Ende des Tages aus der Welt schaffen. Tatsächlich, ja, hier ist eine Nachricht auf meinem Account.“ Sie klickte auf das kleine, rote Symbol und eine Informationsbox poppte auf. Sie las laut vor. „Auf Grund der Feiertage werden alle planmäßigen Zahlungen, die auf Sonntag oder Montag fallen, erst am Dienstag bei den Empfängerkonten ankommen. Aha. Hier haben wir die Lösung. Ich wusste, dass es etwas Simples sein würde. Ein Feiertag.“ Sie pausierte und blickte aus dem Fenster auf eine Gruppe von Passanten. „Ich dachte mir schon, dass die Straßen heute besonders belebt wirken.“
Sie konnte beinahe hören, wie David auf der anderen Seite mit seinen Zähnen knirschte.
„Das ist wirklich sehr unpraktisch für mich“, fauchte er. „Ich muss meine Rechnungen bezahlen, weißt du.“
Lacey sah zu Chester herunter, als brauchte sie einen Kameraden in dieser besonders frustrierenden Unterhaltung. Er hob seinen Kopf von seinen Pfoten und zog eine Braue hoch.
„Kann dir Frida nicht ein paar Millionen borgen, wenn es knapp wird?“
„Eda“, besserte David sie aus.
Lacey wusste den Namen von Davids neuer Verlobten ganz genau. Aber Naomi und sie hatten begonnen, sie Zwei-Wochen-Frida zu nennen, bezugnehmend darauf, wie schnell die beiden sich verlobt hatten, und jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken.
„Und nein“, sprach er weiter. „Sie sollte das nicht müssen. Wer hat dir überhaupt von Eda erzählt?“
„Meine Mutter hat es möglicherweise bei ein oder zwei Dutzend Gelegenheiten erwähnt. Warum redest du eigentlich noch mit meiner Mutter?“
„Sie war vierzehn Jahre ein Teil meiner Familie. Ich habe mich ja nicht von ihr geschieden.“
Lacey seufzte. „Nein. Ich schätze nicht. Also, was ist der Plan? Dass ihr drei euch bei der Mani-Pedi trefft und beste Freunde werdet?“
Jetzt wollte sie ihn aufziehen und sie konnte sich einfach nicht zurückhalten. Es machte richtig Spaß.
„Du bist lächerlich“, sagte David.
„Ist sie nicht die Erbin eines Emporiums für falsche Nägel?“, fragte sie mit gespielter Unschuld.
„Ja, aber du musst es nicht so sagen“, erwiderte David mit einer Stimme, die das Bild von seiner beleidigten Schnute vor Laceys innerem Augen erscheinen ließ.
„Ich habe nur spekuliert, wie ihr drei wohl am ehesten eure gemeinsame Zeit verbringen würdet.“
„Mit kritischem Unterton.“
„Mom hat mir erzählt, dass sie jung ist“, sagte Lacey und versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu führen. „Zwanzig. Ich denke, zwanzig ist doch vielleicht ein bisschen zu jung für einen Mann deines Alters. Aber zumindest hat sie noch ganze neunzehn Jahre Zeit, um herauszufinden, ob sie Kinder will oder nicht. Neununddreißig ist bei dir schließlich die Grenze.“
Sobald sie es ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, wie sehr sie nach Taryn klang. Sie zuckte zusammen. Sie hatte kein Problem damit, dass Toms Eigenarten auf sie abfärbten, aber bei Taryn ging es wirklich zu weit!
„Entschuldige“, murmelte sie und ruderte zurück. „Das war unpassend.“
David wartete einen Moment. „Sorg einfach dafür, dass ich das Geld bekomme, Lace.“
Der Anruf wurde beendet.
Lacey seufzte und legte das Telefon zur Seite. Obwohl die Unterhaltung extrem ärgerlich gewesen war, würde sie sich nicht die Laune vermiesen lassen. David lag in ihrer Vergangenheit. Sie hatte sich ein ganz neues Leben in Wilfordshire aufgebaut. Und in Wirklichkeit war Davids neue Beziehung mit Eda ein Glück im Unglück. Sie würde ihm keinen Unterhalt mehr bezahlen müssen, sobald die beiden geheiratet hatten, und das Problem würde sich von selbst lösen! Aber so wie die Dinge normalerweise für sie liefen, hatte sie das ungute Gefühl, dass diese Verlobung lange andauern würde.