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1.2.1. Herder und die Slawen
ОглавлениеIn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war ein ganz eigentümliches geistiges Gewebe zwischen den Nachbarstädten Weimar und Jena entstanden. Aus der Vielfalt der Beziehungen zwischen Literaten und Wissenschaftlern ragte ein Mann mit umfangreichstem Wissen und entsprechender Produktivität gleichermaßen in Literatur wie in Philosophie hervor: Johann Gottfried Herder (1744 – 1803). Ohne diesen gebürtigen Preußen kann man sich Anfang und Entfaltung der klassischen deutschen Literatur wie der klassischen Philosophie kaum vorstellen. Und wenn beide Gebiete in die Nachbarländer ausstrahlten, dann hat Herder daran wesentlichen Anteil. Im Weimar jener Jahre verfügte er zudem über Spezialkenntnisse zu Osteuropa. Hauptsächlich über ihn oder von ihm veranlasst, erfolgte seit der Mitte der siebziger Jahre eine umfangreiche Aneignung der russischen Aufklärungsbewegung durch die deutsche Literatur.5 Mit ihm schließt eine „Linie deutscher Slawenkunde, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts“ aufgebaut worden war, ab. Von Herder aus führt der Weg weiter über Jacob Grimm, Wilhelm von Humboldt, Georg Niebuhr und andere zu den Universitätslehrstühlen für Slawistik an deutschen Universitäten.6
Die grundsätzliche Auseinandersetzung Preußens mit dem slawischen Thema erfolgte relativ spät. Sie kam erst zustande, als Herder die Geschichte der slawischen Völker in die allgemeine Geschichte der Völker Europas einzuordnen suchte. Im Jahre 1776 war Herder auf Goethes Fürsprache hin als Generalsuperintendent nach Weimar gewonnen worden. Dort hat er noch fast dreißig Jahre gewirkt und auch die beiden Werke geschaffen, die als die Höhepunkte seiner Lebensarbeit gelten dürfen: die „Stimmen der Völker in Liedern“ (1778/79) und 1783 bis 1791 die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“.7
In diesen „Ideen“ befindet sich das so berühmt gewordene „Slawenkapitel“.8
Dort beschrieb Herder in großen Zügen Lebensumwelt, Sitten und Gebräuche, Lieder und Sagen, Wirtschaft und Kultur der Slawen; er beleuchtete verschiedene Phasen ihrer geschichtlichen Entwicklung und verwies auf ihren Fleiß, ihre Friedfertigkeit und ihre Schöpferkraft. Gerade als Preuße verurteilte er die Eroberungskriege seit Karl dem Großen und verwies damals schon auf die ökonomischen Ursachen jener unter dem Deckmantel der Christianisierung veranstalteten Unternehmungen: „[…] ob sie gleich die christliche Religion zum Vorwande gebrauchten, denn den heldenmäßigen Franken musste es freilich bequem seyn, eine fleißige, den Landbau und Handel treibende Nation als Knechte zu behandeln, statt selbst diese Künste zu lernen und zu treiben. Was die Franken angefangen hatten, vollführten die Sachsen; in ganzen Provinzen wurden die Slawen ausgerottet oder zu Leibeigenen gemacht, und ihre Ländereien unter Bischöfe und Edelleute vertheilet.“
Abschließend erörterte Herder die historische Perspektive der slawischen Völker und prophezeite ihnen eine glückliche Zukunft: „Das Rad der ändernden Zeit drehet sich indeß unaufhaltsam; und da diese Nationen größtentheils den schönsten Erdstrich Europaʼs bewohnen, wenn er ganz bebauet und der Handel daraus eröffnet würde; da es auch wohl nicht anders zu denken ist, als daß in Europa die Gesetzgebung und Politik statt des kriegerischen Geistes immer mehr den stillen Fleiß und das ruhige Verkehr der Völker unter einander befördern müssen und befördern werden: so werdet auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker, endlich einmal von eurem langen trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreiet, eure schönen Gegenden vom adriatischen Meer bis zum karpathischen Gebürge, vom Don bis zur Mulda als Eigenthum nutzen, und eure alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dörfen.“9
Es ist hier nicht der Ort, den Realismus in Herders Slawenbild und die Verwirklichung seiner Prophezeiung zu beurteilen, so reizvoll das auch angesichts der jüngeren Ereignisse in Jugoslawien wäre. Das „Slawenkapitel“ hat deutliche, mitunter wieder vergessene Spuren im kulturellen Leben vieler Völker hinterlassen. Das Gesamtwerk wurde in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich stark aufgenommen. Bis spät in das 19. Jahrhundert hinein blieb Herder in Frankreich, England, der Schweiz, Italien und Amerika so gut wie unbekannt. Ganz anders lagen die Dinge im Vielvölkerstaat Österreich, im Baltikum und in der slawischen Welt. Hier waren die Wirkungen, die von Herder ausgingen, ungemein vielgestaltig, tief und dauerhaft.10 Gleich nach dem Druck wurde sein Werk ins Tschechische, Polnische und Russische übersetzt. Der slowakische Dichter Jan Kollar widmete ihm einen Sonett-Zyklus („Die Tochter des Slawa“, Slávy dcera, 1821/1824/1832).
Darüber hinaus unterstützte das Slawenkapitel in diesen Ländern eine allseitige Rezeption des Herder’schen Gesamtwerks.11 Seine Anstöße führten „bei allen slawischen Völkern“ zur Erarbeitung „eigener nationaler Geschichtsbilder“.12
Im geistigen Leben Polens haben vor allem die geschichtsphilosophischen Auffassungen gewirkt, sowohl in der Literatur (bei Autoren wie Michał Dłuski, Leon Borowski oder Kazimierz Brodziński, Adam Mickiewicz oder Zygmunt Krasiński) als auch bei Historikern (Wawrzyniec Surowiecki, Adam Potocki, Ignacy Benedykt Rakowiecki, Joachim Lelewel).
Einige „Wortführer der nationalen Wiedergeburt“ bei den Tschechen und Slowaken nahmen Herder’sche Ideen geradezu enthusiastisch auf. Sie beriefen sich auf ihn als zuverlässigen Anwalt ihrer politischen Kampfziele und kulturellen Projekte (František Ladislaw Čelakovský, Pavel Josef Šafařík, Jan Kollar, František Palacký und andere).
Der nachhaltige Einfluss, den Herder auf die Entwicklung der sorbischen Musikfolklore ausgeübt hat, reicht von der erstmaligen Publikation einiger Volkslieder durch den Gymnasiallehrer Jan Horoćanski (1782/1783) über die ausgedehnte Sammeltätigkeit des Dichters Handrij Zejler bis zur klassischen Volksliedsammlung von Jan Arnošt Smaler und Leopold Haupt („Volkslieder der Wenden in der Ober- und Niederlausitz“, Grimma 1841 – 1843).13
Schon früh und dann lange anhaltend war Herders Name im literarischen Leben Russlands populär. Nikolai Karamsin hatte 1789 in Weimar eine persönliche Begegnung mit Herder und berichtete darüber in seinen „Briefen eines russischen Reisenden“ (Pis’ma russkogo putešestvennika).14 Dieser, wie auch Wassili Shukowski und Gawrila Dershawin, waren von Herders Antike-Rezeption, von seiner Geschichtsphilosophie und von seiner Hinwendung zum künstlerischen Volksschaffen begeistert. Mehrfach übersetzten sie kleine Dichtungen Herders oder ausgewählte Passagen aus den umfangreicheren Prosawerken. Alexander Radischtschew bekundete 1790 bei seinen Verhören in der Peter-Pauls-Festung, Herders Schriften hätten zu den Anregungen gehört, aus denen seine „Reise von Petersburg nach Moskau“ (Putešestvie iz Peterburga v Moskvu, 1790) entstanden wäre; während der Zeit seiner Verbannung nach Ilimsk schrieb er ein philosophisches Traktat („Über den Menschen, seine Sterblichkeit und Unsterblichkeit“, O čeloveke, ego smertnosti i bessmertnosti, 1792), in dem er sich abermals in weitgehender Übereinstimmung mit politischen und erkenntnistheoretischen Positionen Herders zeigte. Während der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts lassen sich auffällige Nachwirkungen Herders eigentlich bei allen wesentlichen Exponenten der russischen fortschrittlichen Literatur aufweisen: bei Alexander Herzen und Timofej Granowski, bei Wissarion Belinski und Nikolai Tschernyschewski. Hier und da werden auch naturwissenschaftliche Fragestellungen durch Herdersche Ideen inspiriert und bereichert. Der Dekabrist Wilhelm Küchelbecker gedachte Herders in einem Gedicht „An Prometheus“ (K Prometeju, 1820), Nikolai Gogol würdigte ihn als Historiker in seinen „Arabesken“ (Arabeski, 1835). Und noch im zweiten Teil des zweiten Buches von Lew Tolstois „Krieg und Frieden“ (Vojna i mir, 1868/1869) dreht sich eines der entscheidenden philosophischen Gespräche zwischen Pierre Besuchow und Andrej Bolkonski gerade um die Lehre Herders.15