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1.2.2. Mohrungen, eine preußische Kleinstadt

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Beim Überlegen, woher Herder sein großes Verständnis für die Slawen bekam, muss man auf seine Kindheit und Jugend zurückblicken. Zweifellos beruhen seine Kenntnisse auf eigener Anschauung, auf eigenen Einblicken in Lebensweise und Kultur, in Eigenarten und Gesinnungen der slawischen Bevölkerung. Die heimatlichen Quellen dieser Beziehungen wurden in der wissenschaftlichen Literatur nur selten behandelt.16 In der DDR unternahm Ulf Lehmann solch eine Quellensuche: „In seiner ostpreußischen Heimat war Herder in unmittelbarer Beziehung zu einem slawischen Volk, den Polen, aufgewachsen und hatte später von Riga aus die eindrucksvolle Größe des […] Russischen Staates […] bewundert […] Wir dürfen die Perspektive Riga als die Alternative Herders zur Weltabgeschiedenheit des wirtschaftlich unterentwickelten und kulturell zurückgebliebenen ostpreußischen Heimatortes […] verstehen […] Die Rigaer Jahre sind fraglos jener Abschnitt in Herders Entwicklung, dessen Erfahrungen die Basis für seine weitverzweigten Fragestellungen zur Geschichte der slawischen Völker und zur Geschichte insgesamt bilden.“17

Herder wurde 1744 in dem kleinen ostpreußischen Städtchen Mohrungen geboren. Wenn Lehmann und andere Autoren „ostpreußisch“ sagen, dann lassen sie eine geographischpolitische Ungenauigkeit zu. Herders Geburtsort lag gar nicht in Ostpreußen. Sein erster Schritt in diese Welt machte ihn zum Untertan des 1701 entstandenen Königreichs Preußen. Das war ein selbständiger, souveräner Staat außerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Sein Territorium umfasste im Wesentlichen und ausschließlich Gebiete des einstigen Staates des Deutschen Ordens zwischen der Memel und der Weichsel. Der Name „Ostpreußen“ wurde erst 1773, nach der ersten Polnischen Teilung, durch Friedrich II. eingeführt. Damit degradierte er das Königreich zur Provinz und spaltete es zum „Doppelpack“ Ost- und Westpreußen. Friedrich II. entwendete dem Land den Königstitel und den alten Namen und wandte beides auf alle seine Territorien bis hin zum Rhein im fernen Westen an. Daher existieren eigentlich zwei Namen „Preußen“. Der Ursprüngliche bezeichnet das alte Ordensland, der andere, künstliche, abgeleitete, das Gesamtgebiet der hohenzollerischen Territorien in Norddeutschland. Um die beiden besser unterscheiden zu können, wurde das Ordensland oft als „Altpreußen“, heute häufig als „Preußenland“ bezeichnet.

In Mohrungen war Herders Vater als Glöckner und Mädchenschullehrer angestellt, zugleich diente er der polnischen Gemeinde als Kantor.18 Infolgedessen muss der kleine Gottfried Kontakte zum Leben dieser Polnisch sprechenden Mitbürger gehabt haben. Zudem lebten in den Dörfern der Umgebung auch polnische Bauern, die ihre Produkte an den Markttagen in der Stadt feilboten. Die polnische Sprache gehörte also schon von Kindheit an zur Lebensumwelt des Jungen.19

Zum Verständnis dieser Situation muss man wissen, dass die Bevölkerung Altpreußens im 18. Jahrhundert aus Deutschen, Litauern und Polen mit deutlich unterschiedenen Siedlungsgebieten bestand. Nationaler Hader war den Preußen, wie sie sich alle verstanden, so gut wie fremd. Eine staatlich oder kirchlich gelenkte Germanisierungspolitik war noch unbekannt.20

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass das 1525 in einem Staatsstreich gebildete Herzogtum Preußen der erste europäische Staat war, in dem die Landesherrschaft die Reformation zur eigenen Sache gemacht hatte. Das wirkte auf die Entwicklung aller drei Sprachgebiete, besonders ihrer Literaturen.

An der 1544 gegründeten Landesuniversität in Königsberg, der Albertina, wurden Polnisch und Litauisch unterrichtet. Sie waren Pflichtfach für Geistliche und Lehrer. Wenn sie ihren Beruf in einem der nichtdeutschen Sprachgebiete ausüben wollten, mussten sie die dort gesprochene Sprache beherrschen. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen in Königsberg und im masurischen Lyck alle für den Protestanten notwendigen Schriften in Polnisch und Litauisch, dazu geistliche Erbaungsbücher, in Polnisch auch das Neue Testament. Für das Litauische blieb diese Funktion Ostpreußens bis zur Bildung eines eigenen Staates (1918) erhalten.21 Für das Polnische erlosch sie allerdings bereits im 17. Jahrhunderts.22 Der polnische Regionalhistoriker Andrzej Wakar zitierte Tadeusz Grabowski, einen Spezialisten für die polnische Renaissance, wonach das „Herzogtum Preußen die Wiege des polnischen Schrifttums“ war. Er fügte hinzu, das gelte genauso für die litauische Literatur.23 Eine polnische Bibel, der Katechismus, das Gesangbuch und weiteres religiöses Schrifttum könnten also im Herderschen Haushalt alltäglich gewesen sein, Herders Vater muss zudem höchstwahrscheinlich Polnisch beherrscht haben.

Ein Aktenfaszikel mit dienstlichem Briefwechsel von Ortsgeistlichen und Schulbeamten belegt, dass im Kreis Mohrungen noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Gemeinden neben der deutschen eine Polnisch sprechende Bevölkerung lebte. Sie saß hier in der sprachlichen Diaspora, außerhalb des geschlossenen masurischen Siedlungsraumes. Ihre Kinder besuchten selbstverständlich die vorhandenen Schulen. Die Gleichberechtigung der Sprachen war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch so hoch, dass Klassen und einige kleine Schulen mit polnischem Unterricht gebildet wurden. Die Beamten berichteten sogar von (einigen) Lehrern, die besser polnisch als deutsch sprachen. Die Akten spiegeln zugleich die jetzt einsetzenden Bemühungen der staatlichen und der geistlichen Verwaltung wieder, Lehrer wie Geistliche in dem Einsatz gegen das Polnische zu bestärken. Infolgedessen gingen polnischer Schulunterricht wie auch Gottesdienst und Konfirmandenunterricht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich zurück.24

Ob der junge Herder das südlicher gelegene geschlossene preußisch-polnische Sprachgebiet erlebt hat, bedarf der weiteren Forschung. Man muss aber mit einer gewissen Berechtigung fragen, ob Herder nicht gerade diese preußischen Polen zum Vorbild für seine Beschreibung von Leben und sozialer Lage der Slawen genommen hat. Ich bin verführt, die Quellen für seine Beschreibungen sowohl der Idyllik als auch des Elends und der Knechtschaft hier zu sehen, also in der Kenntnis der masurischen Bauern seiner Heimat.

In den herrschenden Kreisen Altpreußens lebte noch im 18. Jahrhundert die Erinnerung an die heftigen Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Landesherrschaft:

– gegen den Deutschen Orden hatten sich der Preußische Bund und der Dreizehnjährige Krieg Mitte des 15. Jahrhunderts gerichtet;

– gegen Kaiser und Papst stand die Säkularisierung des Ordensstaates 1525;

– gegen die Unterordnung unter Brandenburg wandte sich die ständische Bewegung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Oberst Kalckstein, Schöppenmeister Roth).

Der Adel übte seit der Säkularisierung die Macht im Lande aus. Zugleich hatte er es gelernt, sich wirtschaftlich zu betätigen. Er produzierte Getreide für den Export nach England.25 Zudem hatte er Traditionen des staatlichen und militärischen Dienstes in der Rzeczpospolita Polska, in Russland,26 in den Niederlanden und Frankreich27 kennengelernt. Beides, Getreide und Dienst, brachte Geld ins Land, weitete den Gesichtskreis und stärkte das Selbstbewusstsein.

Als Herder acht Jahre alt war, hatte Friedrich II. in seinem politischen Testament die innere Lage in Preußen eingeschätzt. Sein Nachfolger brauche trotz jener Traditionen „weder Parteiungen noch Aufstände zu fürchten.“ Er solle „beim Regieren nur Milde walten lassen und sich nur gegenüber einigen in Schulden geratenen und unzufriedenen Adeligen“ vorsehen.28 Dass die Stände 1758 der Zarin Elisabeth anstandslos gehuldigt haben, hat er ihnen aber nie verziehen.29 Und einigen altpreußischen Regimentern, die in den Schlachten des Siebenjährigen Krieges gegen die russische Armee unterlegen waren, hat er erst 1773 offiziell vergeben.30 Auf Friedrichs Haltung zum Handelskapital von Königsberg werde ich noch zurückkommen.

Der junge Herder spürte von diesem Geist noch nichts. Seine Kindheit stand unter dem Unstern eines prügelnden Lehrers, die religiöse Unterweisung unter der Fuchtel eines orthodoxen Geistlichen. Seine ersten zwei Erwerbsjahre als Abschreiber bei dem Diakon Friedrich Trescho verbrachte er in härtester Zwangsarbeit. Dennoch konnte er in dessen Bibliothek die meisten deutschen wie auch die ersten ausländischen Schriftsteller lesen. Hier wurde schon der Grund zu seiner Kenntnis der gesamten über die Slawen handelnden Literatur des 18. Jahrhunderts gelegt.31

Seine Jugend unterlag noch dem Druck, den der Staat auf ihn ausübte. Zu seiner Zeit wurden die Jungen, die in der Armee für des Königs Interessen zu dienen hatten, durch die „rote Halsbinde“ gekennzeichnet. Im Volke galt es „als Unglück und Schande, Soldat in dieser Armee zu sein.“32 Herder war die zweifelhafte Ehre dieser Auszeichnung zuteil geworden. Er hat sie zeitlebens gehasst. Ehe er später nach Riga reiste, musste er schwören, nach Preußen zurückzukehren, sobald er als Rekrut einberufen werden würde.33 Er hat diesen Zwangseid nicht gehalten und ist niemals in seine damit ungastlich gewordene Heimat zurückgekehrt. In dieser persönlichen Zwangssituation ist eine der Quellen seiner nachdrücklichen Freiheitsliebe zu suchen. Ob die altpreußischen Traditionen des Widerstandes gegen starke Zentralgewalten auf ihn gewirkt haben, ist meiner Kenntnis nach bisher nicht untersucht worden.

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