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1.3. Dichters Wort – Dichters Ort 59

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(Um den Heimatort von Wiecherts Jeromin-Kindern)

Es geht hier um das masurische Dorf Sowirog, das die Nationalsozialisten 1934 in Loteswalde umgetauft haben. Die 160-Seelen-Gemeinde lag inmitten der weiten Kiefernforste der Johannisburger Heide, am Nordufer des unter Reisenden beliebten Niedersees. Der unweit davon geborene Försterssohn, Pädagoge und Schriftsteller Ernst Wiechert soll hier die Bühne errichtet haben, auf der er die „Jeromin-Kinder“, eine masurische Bauernfamilie, agieren ließ. Jedenfalls wurde das in den neunziger Jahren mehrfach auf Seminaren verbreitet, welche die Ostsee-Akademie von Lübeck-Travemünde in Masuren veranstaltet hat.

Bevor wir jedoch über Wiechert sprechen, wollen wir uns dem Altmärker Heinrich Schliemann zuwenden, der im 19. Jahrhundert antike Siedlungen ausgegraben hat. Er war überzeugt, das seien die Reste der berühmten Stadt Troja aus dem Epos des Homer. Uns interessiert vor allem seine Methode: Nämlich, den Dichter beim Wort zu nehmen, dessen Hinweise auf die geographischen Verhältnisse zu studieren und sie mit der Realität zu vergleichen. So fand er jene alte Siedlung.

Verfahren wir genauso bei der Suche nach jenem kleinen masurischen Dorf. Wir stellen darum die Frage: Ist das einst real existierende, heute von der Karte verschwundene Sowirog mit dem Lebensort der Jerominkinder identisch? Was sagt uns der Dichter darüber und wie sieht seine Wirklichkeit aus. Das Verfahren hat den Vorteil, dass wir uns im Verlaufe der Untersuchung zugleich an dem Wort des Autors, an seiner sprachlichen Meisterschaft freuen können.

Schauen wir uns also in dem Text um. Sechsmal müssen wir das tun, sechs Umschauen biete ich dem Leser an.

Umschau 1: Das Straßennetz

Beginnen wir mit einer Szene schon fast am Ende des Buches. Da fahren vier Männer in brauner Uniform im Auto durch Ostpreußen. „Sie müssen langsam fahren, ehe sie die große Chaussee erreichen, weil die Straße voller Sand und Löcher ist. Und da sie langsam fahren, fällt ihnen ein alter, schiefer Wegweiser auf, der seine Arme in den Wald strecken will, aber der so schief ist, dass er gen Himmel zu weisen scheint. Darüber machen sie nun ihre Scherze, und erst als sie den Namen lesen, der mit unbeholfenen Buchstaben auf das graue Holz geschrieben ist, ist es mit dem Scherz zu Ende. ‚Aha!‘ sagt der Mann am Steuer und tritt scharf auf den Bremshebel. ‚Nach Sowirog‘ steht auf dem Wegweiser …“60

Noch ein Bild: Eine Frau „stand noch ein paar Minuten unter den alten Kiefern am Waldrand und blickte auf die braunen Rohrdächer, auf den Balken des Brunnens und den See, der sich rötlich glänzend in die Wälder zog. – Ein verlorenes Dorf, mit einer staubigen Straße, die sich in Wald und Öde verlief.“61

Oder auch: „Eine sandige Straße zieht zwischen ihren verlassenen Gartenzäunen entlang. Sie kommt aus den weiten Wäldern und verschwindet wieder zwischen ihnen.“62

Auch das: „Der Totschläger wollte einen Umweg um Sowirog machen, weil er das Dorf hasste, mehr als andere Dörfer. Aber da es nur eine Straße gab, so hätte er den Umweg durch die Wälder machen müssen, und der Wagen liebte keine Wälder.“63

Und der Pfarrer kommt zu den Bauern aus dem fernen Kirchdorf64 – Was ist eine masurische Ferne? Sind das 3 Kilometer? 5? 10? Setzen wir fünf an und lassen wir das Kirchdorf an der Hauptstraße liegen.

Ergebnis 1: Augenscheinlich spielen die Straßen eine große Rolle bei Wiechert. Sie charakterisieren die waldeseinsame Lage des Dorfes. Sowirog liegt fern von der Chaussee, einsam inmitten von Wäldern, ein einziger Waldweg führt dorthin, der Wald lässt keine Umgehungsmöglichkeiten zu und zur Chaussee sind es angenommene fünf Kilometer. Dichterwort und Realität sind identisch.

Umschau 2: Die Hauptstraße

Auf einer Überblickskarte 1 : 300 000 aus dem I. Weltkrieg sind in dem Gebiet drei Chausseen verzeichnet: 1. Johannisburg – Rudzanny – Peitschendorf – Sensburg, 2. Ortelsburg – Schwentainen; die Verbindung von hier nach Rudzanny über Puppen verläuft als „gebesserter Weg“, das ist gewissermaßen ein Straße 3. Ordnung, sie hat als Bedeckung höchstens eine gewalzte Kiesschicht. Die dritte Chaussee zieht sich von Johannisburg, am Südostufer des Niedersees entlang, nach Turoschl. Will man von ihr aus nach Sowirog, dann muss man in Wiartel abbiegen, um auf das Nordwestufer des Sees zu kommen, und sich über Kruppa und Jaschkowen wenden.

Versuchen wir uns der Straße zu nähern, von der Kreisstadt her, die im Roman oft vorkommt, mit ihrem Markt, dem Bahnhof und dem Gymnasium.

Die Stadt steht im Anfang des Buches. Frauen aus Sowirog hatten ihre Produkte zum Markt gebracht, vor ihnen steht der Heimweg. Zwei Meilen müssen sie laufen.65 Sie sind „die Straße hinuntergegangen, die an der Kaserne vorbei ins offene Land führte“.66

Und wer zum Landrat bestellt wurde, wie Jons Jeromins Vater, um des Kaisers Patengeschenk in Empfang zu nehmen, hatte vier Meilen Wegs zurückzulegen.67

Und noch einmal taucht die Entfernungsangabe auf, sozusagen als Bestätigung. Der pensionierte Lehrer Stilling kauft während der Inflation in der Kreisstadt für sein letztes Geld ein Buch und geht nach Hause, „den langen Weg nach dem Dorfe“, „zwei Meilen lang“.68

Eine Meile entspricht 7 532 Metern, 2 Meilen sind also rund 15 Kilometer. Legt man ein Lineal auf die Landkarte, an Ortelsburg und misst zwei Meilen Luftlinie in Richtung Sowirog ab, dann kommt man nur bis Schwentainen, von Sensburg wiederum nur bis nach Peitschendorf und von Johannisburg einen ganzen Kilometer über Sowirog hinaus. Nimmt man den Weg unter die Füße und also den Abzweig über Wiartel, dann erhalten wir tatsächlich zwei Meilen.

Wiecherts Beschreibung der Chaussee enthält neben der Entfernung noch ein zweites Charakteristikum: An dem Heimweg der Bauersfrauen liegt eine Kaserne. Daraus ergibt sich die Frage: In welcher dieser Städte steht oder standen zu Wiecherts Zeit diese Truppenunterkünfte?

Ortelsburg muss ausgeschlossen werden, auch wenn das Kennzeichen „Kaserne“ erfüllt ist. Bedeutsamer ist: Schwentainen liegt in einer drei Dörfer umfassenden Siedlungsinsel am Westrand der Johannisburger Heide, jenseits aller Waldeseinsamkeit und Seenromantik. Sensburg besitzt ebenfalls Kasernen, aber Peitschendorf ist selbst Kirchdorf und es liegt direkt an der Hauptstraße, auch alle anderen Beschreibungen passen nicht dazu (Waldeseinsamkeit, Lage am See). Bleibt Johannisburg, das aber besaß keine Kaserne.

Ergebnis 2: Keine der möglichen Kreisstädte entspricht Wiecherts Beschreibung. Sie können daher nicht als reales Vorbild betrachtet werden.

Da ist auch ein Bild bei Wiechert, das dieses Resultat bestätigt: Wenn die Dorfleute im Herbst auf der Anhöhe im Dorf standen, dann konnten sie weit über den See blicken. Dort „sahen sie ein breites goldenes Band. Das war der Weißbuchenwald, der seit undenklichen Zeiten ‚Das Paradies‘ genannt wurde. Die Straße nach den nächsten Dörfern lief zwischen seinen grünen, bemoosten Stämmen dahin“.69

Das passt zu Sowirog und der Chaussee Johannisburg – Turoscheln. Aber: Steht oder stand dort einmal ein Weißbuchenwald? In Masuren existierten vor 1939 zwei größere geschlossene Buchenbestände: der eine südwestlich von Ortelsburg, der zweite im Gebiet von Rastenburg/Angerburg. Sie bildeten die europäische Ostgrenze der geschlossenen Buchenbestände. Sowirog liegt östlich dieser Linie. Des Dichters Bild widerspricht der Realität.

Umschau 3: Optische und

akustische Entfernungsangaben

Hier geht es um die Bestimmung von Entfernungen zu akustischen oder optischen Quellen. Für die Wertung notwendige Aussagen finden sich in Büchern über militärisches Grundwissen.

a) „Weit aus der Ferne kam der heulende Ruf eines Dampfers von dem großen See hinter den Wäldern.“70 – Dazu müssen wir festhalten: Dampferverkehr entwickelte sich vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Beldan- und dem Spirdingsee, noch nicht auf dem Niedersee. Mit dem „großen“ unter ihnen kann nur der Spirding gemeint sein.

Zwar fand ich keine Angaben über die Reichweite einer Schiffssirene, das „Schießen einer Artilleriebatterie“ aber soll man auf 6 km hören, ein einzelnes Geschütz auf 3 km. Wenn wir das als Vergleich für die Schifffahrt zulassen, dann muss der Spirdingsee 3 bis 6 km entfernt sein, maximal 1 – 2 km weiter, sagen wir 8. Die Luftlinie Sowirog – Insel Spirdingswerder beträgt 6,5 km. Bei Nacht und/oder bei günstigem Wind wäre also das Signal im Ort zu hören gewesen.

b) Nun zum See neben dem Dorf: Jons Großvater hatte sich auf der Insel niedergelassen. „Manchmal blieb er auch für Wochen auf der Insel im See. Dort sahen sie ihn in der Nacht am Feuer sitzen, wie einen Häuptling bei der Totenklage, und oft lauschten sie, ob nicht ein eintöniger Gesang herüberkomme, aber es war alles still.“71

Die Dorfbewohner konnten „die Gestalt des Großvaters in der Ferne erblicken, wie er aus den Wäldern am andern Ufer auf das Eis nieder stieg, den Schlitten mit Holz beladen, oder wie er unter den kahlen Eichen der Insel stand“.72

c) Später bezog Jons Bruder Friedrich die Insel. „Auf dem Hügel hörten sie seine Flöte“, „wie die Stimme eines vergehenden Menschen“.73 Vom See aus gesehen, liegt der Hügel mit der Kirche jenseits des Dorfes. Der Hügel ist also weiter von der Insel entfernt als das Dorf. Wie weit mag sie reichen, „die Stimme eines vergehenden Menschen“? Ein Gespräch hört man auf 200 m, einzelne Worte daraus auf 75, ein Husten auf 50 m. Die reale Insel im Niedersee, südöstlich von Sowirog, liegt aber über 500 m entfernt. Selbst bei günstigsten Bedingungen konnten solche Töne von dort nicht zum Dorf dringen.

d) Schließlich die optischen Angaben: Jons Großvater sahen die Dorfbewohner nachts „am Feuer sitzen“. Die Gestalt eines Pfarrers erblickten sie manchmal „in der Ferne … am andern Ufer“ des Sees. Einzelne Menschen sieht man als Punkte auf 1,2 bis 1,5 km, im Gesamtumriss auf 800 m, einen Kopf kann man auf 400 m unterscheiden. Diese Entfernungen entsprechen den Realitäten.

Resultat 3: Lediglich die Angaben zum Flötenspiel schließen Sowirog aus, alle anderen optischen und akustischen Angaben treffen zu und sprechen für den Ort.

Umschau 4: Der See

Wiechert hat zwei ausführlichere Beschreibungen der Umgebung des Sees geliefert: einmal als Naturbild und zweitens sozusagen als sportliche Leistung, nämlich der Ritt des Wachtmeisters Korsanke um den See herum. Wenden wir uns den Naturbildern zu: „Hinter der Insel stiegen sie ans Ufer, alle nun fiebernd vor Aufregung, und Christian steuerte das Boot langsam in das schwarze Fließ, das düster und fast ohne Bewegung unter Erlenwipfeln dahinfloss und wo in schwarzen Höhlungen und unter grauen Wurzeln die Krebse wohnten. Hier war eine fahle, geheimnisvolle Landschaft, Ausläufer des Moores mit Hügeln, auf denen alte Eichen wuchsen.“74 Und „man kommt tief ins Moor hinein. Keiner kann einen mehr sehen. Dort habe ich eine kleine Hütte gebaut, aus Rasen und Schilf“.75

Hier das zweite Bild: „Jons und Hanna aber fuhren am Nachmittag vor Ostern in dem kleinen Boot den See hinunter, wo zwischen hohen Schilfwänden eine schmale, dunkle Straße in ein stilles Waldgewässer führte. Eichen und Kiefern standen über dem sandigen Ufer, und nur nach Westen öffnete der Wald sich und ließ den Blick auf Hügel und Wiesen frei, bis eine ferne, blaue Linie ihn wieder begrenzte, aus der Rauch aufstieg wie aus Dörfern, die in der Einöde lagen.“76

Wenn wir davon ausgehen, dass hier der Niedersee beschrieben wird, dann stimmt keines der Bilder mit der Wirklichkeit überein. Die Leute erreichen an der Insel vorbei das gegenüberliegende Seeufer. Dort aber befinden sich weder Fließ noch Moor, denn da erhebt sich über dem See ein teilweise bis zu 20 m hoher Steilhang. Zweitens: Jons und Hanna: Sie fuhren den See „hinunter“. Das lässt eine Abfahrt sowohl nach Nordosten als auch in entgegengesetzter Richtung zu. Im ersten Fall landen sie am Dorf Jaschkowen, danach erreichen sie Wiartel. Sie kommen also in belebte Gegenden, heraus aus der Waldeseinsamkeit. Fahren sie Richtung Rudzanny, dann finden sie dort keine Wasserverbindung zu einem stehenden Gewässer. Und schon gar nicht öffnet sich da der Blick nach Westen auf Hügel und Wiesen, eben wegen des Steilhanges.

Nun zum Ritt des Wachtmeisters Korsanke. Er will zu dem Mädchen, das den flötenspielenden Friedrich auf der Insel besucht hatte. Welche Route schlägt er ein? „Korsanke ritt um den See herum.“ Durch den Weißbuchenwald, „das Paradies“, „nach dem Dorfe, in dem das Mädchen zu Hause war, das dem Toten die ‚letzte Freude‘ geschenkt hatte … Der Polizist ritt nicht denselben Weg zurück. Er setzte ihn fort, um den ganzen See herum, langsam und in Gedanken verloren“. Und dann, ganz logisch und gleichsam den Umritt bestätigend: „Er kam von der andern Seite ins Dorf zurück.“77

Sehen wir uns die Wegstrecke um den Niedersee herum auf der Karte an. Er durchritt auf seinem Pferd die Dörfer Jaschkowen, Wiartel, Vorder- und Hinter-Lippa, Przyroscheln (in diesem Abschnitt mag der Buchenwald liegen), dann Curwien, Nieden, Rudzanny und Kowallik, um dann geradewegs durch die Heide nach seinem Dienstort zu traben. Das ist eine Tagesstrecke von über 40 km, eine sehr große Leistung für ein Polizeipferd. Außerdem entbehrt der lange Weg einer inneren Logik. Wenn wir annehmen, dass das Mädchen in Przyroschl gelebt hat, dann hätte der Polizist über Wiartel hin und zurück nur 16 km zurückzulegen gehabt. Wiechert gibt keinen Grund für diesen riesigen Umweg an.

Gehen wir also vom Niedersee aus, dann hat Wiechert entweder einen anderen See im Auge gehabt oder er lässt uns über Korsankes Motive im Stich, was angesichts des tiefen psychologischen Eindringens Wiecherts in seine Helden äußerst unwahrscheinlich ist. Es kommt ein zweiter Einwand hinzu, den wir aber nicht beweisen können. Hier wird ja die Amtshandlung eines Polizisten beschrieben. Jeder Beamte hatte einen bestimmten genau umrissenen Bezirk, in dem er dienstlich tätig sein durfte. Mir erscheint es unwahrscheinlich, dass Korsankes Territorium nach Süden über den See hinausreichte. Es dürften in den dortigen größeren Dörfern ebenfalls Gendarmerieposten bestanden haben.

Ergebnis 4: Wiecherts Sowirog lag nicht am Niedersee.

Umschau 5: Die Schlacht bei Tannenberg

Nach dem Erscheinen der ersten Kosaken und dem Brand der Kirche „zogen nun ohne Aufhören Truppen durch ihr Dorf, solange, bis im Nordwesten das Gebrüll der Kanonen sich zu einer einzigen Donnerstimme erhob, die Tag und Nacht nicht schweigen wollte. Da begann der Strom zu stocken, der nach vorwärts floss … Danach begann der Strom sich zu stauen und rückwärts zu fluten“.78 Die Weichenden legten im Dorf Feuer und es entstand eine „Feuermauer, die zu beiden Seiten der Straße stand, und in deren Schein der Rest des geschlagenen Heeres in den Wäldern verschwand“.79

Augenscheinlich wird hier der Durchmarsch bedeutender Truppenmassen der russischen Armee beschrieben. Wiechert schildert sowohl die angreifenden wie auch die zurückgehenden Einheiten. Massen von derartigen Umfang, Wiechert sagt: ein Strom, ohne Aufhören, pflegten sich aber nicht auf Seitenwegen zu bewegen. Sowirog liegt innerhalb des hufeisenförmigen Niedersees, es war also in Richtung auf die russische Grenze völlig geschützt. Wollte der Gegner den Ort erreichen, dann musste er von der Hauptstraße, auf der er sich bewegte, ein bedeutendes Stück zur Seite und gar nach rückwärts abweichen. Fliehende Gegner befanden sich dagegen dort wie in einem Sack ohne schnellen Ausgang. Während des ersten Weltkrieges führten nur zwei bedeutendere Straßen von den südlich gelegenen russischen Festungen Ostrołęka und Łomża nach Ostpreußen hinein. Die eine über Myszyniec – Friedrichshof – Puppen nach Sensburg, die andere über Kolno nach Johannisburg. Sie umgingen also das große Waldgebiet der Heide. Zusätzlich sperrt noch der Niedersee. Die Straße Johannisburg – Turoscheln endet dort, verläuft außerdem quer zur Marschrichtung und hat auf russischer Seite keinen direkten Anschluss zu den Bereitstellungsräumen der Russen. Außerdem, auf polnischer Seite, im Rechteck zwischen Grenze und den beiden Festungen, verlaufen die unbefestigten Landwege eher in Ost-West-Richtung, als auf die Grenze zu.

Es gibt also keinen vernünftigen Grund, warum die russische Armeeführung einen solchen „Strom“ unbedingt um den See herum in das völlig unbedeutende Sowirog führen sollte, der dann weiter durch die trockene, sandige und heiße Heide geführt hätte. Wäre man von hier aus auf den schnurgeraden Schneisen weiter nach Norden marschiert, wäre man in den Halbinseln vor dem Spirding gefangen gewesen. Man hätte also vorher nach Rudzanny oder Johannisburg abbiegen müssen. Soviel logistischen Unsinn wollen wir der russischen Generalität nun doch nicht zutrauen. Genauso wenig hat ein vernünftiger Grund für die Auswahl des Fluchtweges durch die Heide bestanden.

Ergebnis 5: Die Beschreibung des Truppendurchzugs lässt sich mit den realen Gegebenheiten von Sowirog nicht verbinden. (Ein noch sicherer Beweis aus dem Jahre 2009: Hier die Bewegung der russischen Einheiten, die dem Dorfe am nächsten kamen. Während der Schlacht bei Tannenberg im August 1914 stieß das russische VI. Armeekorps über Ortelsburg bis nördlich Bischofsburg vor. Es retirierte über Ortelsburg und Friedrichshof nach Polen. Im September 1914 griff die russische 1. Armee in der Schlacht an den Masurischen Seen noch einmal an. Deren 1. Division attackierte von Osten Johannisburg, wurde abgewiesen und zog sich nach Südosten zurück.80 Das heißt, dass größere Einheiten der Russen überhaupt nicht durch Sowirog durchgekommen sein können. Sie marschierten in Entfernungen zwischen zwanzig und vierzig Kilometern am Dorf vorbei.)

Umschau 6: Die Lösung

Der erwachsene Jons erzählt in der Familie seines Königsberger Professors von seinem Heimatort. Die Dame des Hauses wendet sich an ihn. „, Ein sonderbarer Heiliger sind Sie‘, sagte sie seufzend … ‚Ich denke mir, dass Ihr Eulenwinkel gar nicht mehr in Deutschland liegt …‘ ‚Doch!‘ betonte Jons ruhig. ‚Unter 22 Grad östlicher Länge und 53 1/2 Grad nördlicher Breite.‘“81

Nun wissen wir es ganz genau. Jedoch: Der also definierte Punkt liegt 20 km südöstlich von Johannisburg, während unser Sowirog südwestlich liegt. Überdies befindet er sich südlich der alten Grenze zwischen Deutschland und Polen, um noch exakter zu sagen: Er liegt im damaligen Russisch-Polen, nämlich in der Nähe der Dörfer Danowo und Filipki Duźe, unweit der Höhe 160, ein ganzes Stück von der Johannisburger Heide entfernt. In der Nähe gibt es kaum Wald, keinen See. Das einzige Gewässer ist der Wincenta-Bach, etwas weiter nördlich. Er bildet hier ein Stück der jahrhundertlang unveränderten Grenze zwischen Preußen/Polen, bzw. zwischen Deutschem Reich/Russland.

Da stehen wir nun und sehen uns an. Hat uns der Autor an der Nase herumgeführt? Uns und die Professorengattin? Vielleicht schließt uns der dem Gespräch folgende rätselhafte Trinkspruch des Professors die Tür zum Verständnis auf? „Der Professor seufzte nicht, wie Jons es sich angewöhnt hatte, aber er blickte eine ganze Weile auf die Tür, durch die seine Frau verschwunden war. Dann holte er aus einem Nebenraum eine Flasche und goss den roten, schweren Wein in zwei Gläser. Er hielt sein Glas lange in der Hand, ließ das Licht der Lampe sich darin spiegeln und stieß es dann leise an das andere. ‚Auf Ihr Dorf, Jons Ehrenreich!‘ sagte er feierlich. ‚Das unter dem Mondgebirge liegt.‘“82

Das wird es sein, das Sowirog unter dem Mond, fern von dieser Welt, nirgendwo und uns Masuren doch so nahe. Unter die Sterne setzt es der Autor, Symbol für das bevorstehende Verschwinden alles Masurischen? Schwindel also? Mitnichten! Wiechert tat nur das Gleiche, was zum Handwerk des Schriftstellers gehört. Was auch ein Goethe machte, als er seine Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ nannte, die Dichtung stellte er voran. Mindert das den literarischen wie den heimatkundlichen Wert des Werkes? Ich denke - Nein! Das ist eben ein guter Roman. Er verführt uns so sehr, dass wir die Erfindung gar nicht erkennen. Im Gegenteil, die gut gemachte Fiktion lässt uns glauben, dass wir die volle Realität erleben.

Inferno Ostpreußen

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