Читать книгу Ein Werdender - Dritter Band - Fjodor M. Dostojewski - Страница 10
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ОглавлениеEs war ein selten klarer Tag; der Vorhang in Makar Iwanowitschs Zimmer war auf Anordnung des Doktors gewöhnlich den ganzen Tag nicht aufgezogen worden; jetzt aber befand sich an dem Fenster kein Vorhang mehr, sondern nur eine kurze Gardine, die den obersten Teil des Fensters frei ließ; diese Änderung war deshalb vorgenommen worden, weil es den Alten bedrückt hatte, daß ihn der Vorhang früher die Sonne überhaupt nicht hatte sehen lassen. Und wie wir nun so dasaßen, kam auf einmal der Augenblick, wo plötzlich der Sonnenschein Makar Iwanowitsch direkt ins Gesicht fiel. Er hatte das im Eifer des Gespräches anfangs gar nicht beachtet, dann aber, während er sprach, den Kopf ein paarmal mechanisch zur Seite geneigt, weil das grelle Licht seine kranken Augen sehr reizte und angriff. Mama, die neben ihm stand, hatte schon ein paarmal unruhig nach dem Fenster geblickt; man hätte das Fenster einfach ganz verhängen sollen, aber, um das Gespräch nicht zu stören, wollte sie versuchen, die Fußbank, auf der Makar Iwanowitsch saß, ein bißchen nach rechts herüberzuziehen: man brauchte sie nur eine oder höchstens zwei Spannen weiter zu rücken. Sie hatte sich schon ein paarmal gebückt und an die Fußbank gegriffen, hatte sie aber nicht bewegen können; die Bank mit Makar Iwanowitsch darauf rührte sich nicht. Makar Iwanowitsch hatte ihre Bemühungen gespürt und ein paarmal unbewußt versucht, sich zu erheben, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Mama plagte sich aber doch immer weiter und zog daran; und da schließlich machte das alles Lisa furchtbar böse. Ich hatte ein paar funkelnde, zornige Blicke von ihr aufgefangen, hatte aber im ersten Augenblick nicht gewußt, worauf ich sie beziehen solle, und zudem war ich von dem Gespräche sehr in Anspruch genommen. Da auf einmal höre ich, wie sie mit scharfer Stimme Makar Iwanowitsch beinah anschreit:
»Ja, erheben Sie sich doch wenigstens ein bißchen: Sie sehen doch, wie Mama sich anstrengt!«
Der Alte warf einen schnellen Blick auf sie, verstand sofort, was sie wollte, und versuchte sich hastig zu erheben; es wurde aber nichts daraus: er kam vielleicht eine Spanne hoch und fiel wieder auf die Bank zurück.
»Ich kann nicht, Liebe«, antwortete er Lisa gleichsam klagend und sah sie mit einer eignen, ergebnen Demut an.
»Lisa!« schrie nun Tatjana Pawlowna. Makar Iwanowitsch machte mit der größten Kraftanstrengung noch einen Versuch.
»Nehmen Sie Ihren Krückstock, neben Ihnen liegt er, mit dem Krückstock kommen Sie schon hoch!« sagte Lisa noch einmal hart.
»Das ist auch wahr«, sagte der Alte und griff sogleich hastig nach dem Stocke.
»Man muß ihm einfach aufhelfen«, sagte Wersilow und erhob sich; auch der Doktor und Tatjana Pawlowna sprangen auf, aber sie hatten ihm noch nicht beispringen können, als sich Makar Iwanowitsch, der sich aus aller Kraft auf den Stock gestützt hatte, auf einmal erhob und in freudigem Triumphe dastand und um sich blickte:
»Also, nun bin ich doch aufgestanden!« sagte er beinahe stolz und lachte vergnügt. »Ich danke dir auch schön, Liebe; du hast mich zu Verstand gebracht; und ich dachte schon, die lieben Füße gehorchten mir gar nicht mehr . . .«
Aber er blieb nicht lange stehen, er hatte noch nicht ausgesprochen, als plötzlich der Krückstock, auf den er sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers lehnte, auf dem Teppich ausrutschte; und da die »lieben Füße« ihn so gut wie gar nicht unterstützten, stürzte er von seiner ganzen Höhe zu Boden. Das war fast grausig anzusehen, weiß ich noch. Alle schrien auf und stürzten hinzu, um ihn aufzuheben, aber er hatte sich Gott sei Dank nichts getan; er war nur schwer und laut auf beide Knie gestürzt, hatte aber doch vermocht, die rechte Hand vor sich auf den Boden zu stemmen und sich so zu halten. Er wurde aufgehoben und aufs Bett gesetzt. Er war sehr bleich, nicht vor Schrecken, sondern von der Erschütterung. (Der Doktor hatte bei ihm außer allem andern auch ein Herzleiden konstatiert.) Mama war vor Schrecken außer sich. Und auf einmal wendete sich Makar Iwanowitsch, immer noch ganz bleich, mit zitternden Gliedern und gleichsam noch nicht wieder ganz bei Bewußtsein, zu Lisa und sagte mit fast zärtlicher stiller Stimme zu ihr:
»Nein, Liebe, die lieben Füße tragen mich wahrhaftig nicht mehr!«
Ich kann nicht beschreiben, was für einen Eindruck das auf mich machte. Die Sache war die, daß bei diesen Worten des armen Alten nicht die Spur einer Klage oder eines Vorwurfes mitklang; ganz im Gegenteil: man merkte deutlich, daß er von Anfang an wirklich nicht das geringste Bösartige in Lisas Worten gefunden hatte, sondern es statt dessen für ganz gerecht gehalten hatte, daß sie ihn anschrie, das heißt, er fand, diese Zurückweisung hätte er für sein Verschulden reichlich verdient. Das alles wirkte auf Lisa sehr heftig. Als er gestürzt war, war sie wie alle andern aufgesprungen und hatte leichenblaß dagestanden und selbstverständlich Schmerz empfunden, weil sie die Veranlassung zu dem allen war; als sie aber diese Worte hörte, wurde sie plötzlich, fast momentan, glühend rot vor Scham und Reue.
»Jetzt ist's genug!« kommandierte auf einmal Tatjana Pawlowna. »Das kommt nur von dem ewigen Geschwätz! Es ist Zeit, auseinanderzugehen; wozu soll das führen, wenn der Doktor selber mit dem Geschwätz anfängt!«
»Freilich«, stimmte Alexander Semionowitsch ihr zu, der sich um den Kranken zu schaffen machte. »Das war nicht recht von mir, Tatjana Pawlowna, er braucht Ruhe!«
Aber Tatjana Pawlowna hörte nicht auf ihn: sie musterte Lisa wohl eine halbe Minute lang schweigend und verbissen.
»Komm her, Lisa, und gib mir einen Kuß, wenn du Lust hast; ich altes, dummes Frauenzimmer!« sagte sie dann unvermittelt.
Und sie küßte sie, ich weiß nicht weswegen, aber eben das war es, was sich gehörte; ich wäre am liebsten selber auf Tatjana Pawlowna zugestürzt und hätte ihr einen Kuß gegeben. Es war jetzt nicht am Platze, Lisa durch Vorwürfe nur noch tiefer niederzudrücken, sondern es war viel richtiger, das neue, schöne Gefühl, das jetzt sicherlich in ihr geboren wurde, mit Freude zu begrüßen und sie zu beglückwünschen. Aber statt mich allen diesen Gefühlen hinzugeben, sprang ich plötzlich auf und rief, jedes Wort hart betonend:
»Makar Iwanowitsch, Sie haben heute wieder das Wort ›Vornehmheit‹ gebraucht, und ich habe mich gerade gestern und alle die Tage mit diesem Worte abgequält . . . und habe mich überhaupt mein Leben lang damit gequält, ich wußte früher nur nicht, daß es das war. Und dieses Zusammentreffen der gleichen Worte halte ich für einen Wink des Schicksals, fast für ein Wunder . . . Ich erkläre hier in Ihrer Gegenwart . . .«
Aber die anderen taten mir sofort Einhalt. Ich wiederhole es: ich wußte nichts von ihrer Abrede wegen Mama und Makar Iwanowitsch; und sie hielten mich, nach früheren Erfahrungen, natürlich zu jedem Skandal in der Art für fähig.
»Hinaus mit ihm, hinaus!« schrie Tatjana Pawlowna wie ein wildes Tier. Mama zitterte vor Angst. Makar Iwanowitsch sah, daß alle erschraken und erschrak selber auch.
»Arkadij, laß das!« rief Wersilow strenge.
»Mir, meine Herrschaften,« schrie ich noch lauter, »mir erscheint es einfach scheußlich, wenn ich Sie alle neben diesem reinen Kinde ansehe« (ich deutete auf Makar). »Nur eine Heilige sehe ich – das ist Mama, aber selbst sie . . .«
»Sie regen ihn auf!« sagte der Doktor eindringlich.
»Ich weiß, daß die ganze Welt wider mich ist«, stotterte ich (oder etwas Ähnliches), aber blickte noch einmal rundum und sah dann Wersilow herausfordernd an.
»Arkadij!« schrie er noch einmal, »genau so eine Szene hat hier schon einmal stattgefunden. Ich beschwöre dich, nimm dich zusammen!«
Ich kann nicht beschreiben, mit was für einem tiefen Gefühl er das sagte. Eine außerordentliche, aufrichtige, tiefe Traurigkeit sprach aus seinem Gesicht. Das Erstaunlichste war, daß er schuldbewußt dreinschaute: ich war der Richter, und er der Verbrecher. Das alles machte mich vollends toll.
»Ja,« schrie ich zurück, »genau so eine Szene hat schon einmal stattgefunden, als ich Herrn Wersilow begrub und ihn aus meinem Herzen riß . . . Aber später ist darauf eine Auferstehung von den Toten gefolgt, jetzt aber . . . jetzt folgt kein Morgen mehr darauf! Aber . . . aber ihr alle hier werdet noch sehen, wozu ich imstande bin: ihr laßt euch nicht träumen, was ich euch noch beweisen werde!«
Als ich das gesagt hatte, stürzte ich in mein Zimmer. Wersilow eilte mir nach . . .