Читать книгу Ein Werdender - Dritter Band - Fjodor M. Dostojewski - Страница 5

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Am vierten Tage, nachdem ich mein Bewußtsein wiedererlangt hatte, lag ich, so um drei Uhr nachmittags, in meinem Bette, und es war niemand bei mir. Es war ein heller Sonnentag, und ich wußte genau: um vier Uhr, wenn die Sonne unterginge, würde ein schiefer, roter Strahl genau auf die Ecke der Wand, an der ich lag, fallen und einen grellen Lichtflecken dahin werfen. Ich wußte das von den früheren Tagen her, und der Gedanke, daß das ganz bestimmt nach einer Stunde eintreffen müsse, und vor allem, daß ich das voraus wußte, so genau, wie ich wußte, daß zweimal zwei vier ist, erboste mich bis zur Wut. Ich warf mich konvulsivisch mit meinem ganzen Körper herum; da hörte ich auf einmal, mitten in der tiefen Stille, deutlich die Worte: »Herrgott, Jesus Christus, unser Herr, erbarme dich unser.« Diese Worte wurden halblaut geflüstert, darauf folgte ein Seufzer aus tiefster Brust, und dann wurde es wieder ganz still. Ich hob hastig den Kopf.

Ich hatte schon früher, das heißt gestern und schon vorgestern, bemerkt, daß irgend etwas Besondres in unsern drei Zimmern hier unten vorgehen müsse. In dem Zimmer auf der andern Seite des Wohnzimmers, wo früher Mama und Lisa geschlafen hatten, hauste jetzt sichtlich jemand anders. Ich hatte schon ein paarmal allerhand Geräusche vernommen, bei Tage und nachts, aber sie hatten immer nur einen ganz kurzen Augenblick gedauert, und sofort war wieder für mehrere Stunden tiefste Stille eingetreten, so daß ich nicht weiter darauf geachtet hatte. Gestern war ich auf die Idee gekommen, Wersilow wäre dort drüben, zumal er bald darauf zu mir hereingekommen war, obgleich ich aus ihren Gesprächen ganz bestimmt wußte, daß Wersilow für die Zeit meiner Krankheit in eine andre Wohnung gezogen war, wo er auch schlief. Was Mama und Lisa anbetrifft, so war mir schon länger bekannt, daß sie beide (damit ich Ruhe hätte, glaubte ich) hinaufgezogen waren in meinen ehemaligen »Sarg«, und ich hatte schon einmal so bei mir darüber nachgedacht, wie sie da wohl zu zweien Platz finden könnten. Und jetzt auf einmal erwies es sich, daß in ihrem früheren Zimmer ein Mann hauste und daß dieser Mann nicht Wersilow war. Mit einer Leichtigkeit, die ich mir durchaus nicht zugetraut hätte (denn ich hatte bis zu diesem Augenblick geglaubt, ich wäre noch ganz schwach), ließ ich meine Beine vom Bett hinunter, schlüpfte in die Pantoffeln, zog den grauen Lammfellschlafrock an, der auf dem Stuhle lag (und den mir Wersilow abgetreten hatte) und begab mich durch unsre Wohnstube in Mamas früheres Schlafzimmer. Was ich dort erblickte, gab mir gleichsam einen Schlag vor den Kopf: so etwas hätte ich mir nicht träumen lassen. Ich blieb wie angewurzelt stehen.

Da saß ein alter, uralter Mann mit einem großen, schneeweißen Barte, und man sah auf den ersten Blick, daß er schon lange dasaß. Er saß nicht auf dem Bette, sondern auf Mamas Fußbank, und lehnte sich nur mit dem Rücken ans Bett. Übrigens hielt er sich so gerade, daß er überhaupt keine Stütze zu brauchen schien, obgleich er sichtlich krank war. Er trug über dem Hemde einen überzogenen kurzen Pelz, über seine Knie war Mamas Plaid gebreitet, seine Füße staken in Pantoffeln. Man konnte ahnen, daß er hochgewachsen und breitschultrig war; er sah trotz seiner Krankheit sehr frisch aus, wenn er auch ein wenig blaß und mager war; sein Gesicht war länglich, die Haare dicht, aber nicht sehr lang; er mochte ungefähr siebzig Jahre zählen. Auf einem Tischchen neben ihm lagen, so daß er sie mit der Hand erreichen konnte, drei oder vier Bücher und eine silberne Brille. Wenn ich auch nicht mit dem leisesten Gedanken erwartet hatte, ihn hier zu treffen, so erriet ich doch sofort, wer er war; ich konnte mir nur immer noch nicht vorstellen, wie er diese zwei Tage hier so still hatte sitzen können, beinahe Wand an Wand mit mir, ohne daß ich bis jetzt etwas davon vernommen hatte.

Er rührte sich nicht, als er mich erblickte, sondern sah mich nur fest und schweigend an, genau wie ich ihn, nur mit dem Unterschiede, daß in meinem Blick ein maßloses Erstaunen lag, in seinem aber nicht das geringste. Im Gegenteil, als er mich in diesen fünf oder zehn Sekunden des Schweigens gleichsam bis zum letzten Zuge mit den Augen aufgenommen hatte, begann er plötzlich zu lächeln und lachte dann still und lautlos, und wenn dies Lachen auch gleich wieder verschwand, so blieb doch eine helle, heitre Spur davon auf seinem Gesicht und besonders in den Augen, die blau, leuchtend groß waren, wenn auch die Lider vom Alter schwer herabgesenkt und geschwollen waren und unzählige winzige Fältchen sie umgaben. Und dieses Lachen wirkte am stärksten auf mich.

Ich finde: wenn ein Mensch lacht, ist es weitaus in der Mehrzahl der Fälle unangenehm, ihn anzusehen. Meistens äußert sich im Lachen der Menschen etwas Häßliches, etwas, was gleichsam den, der da lacht, herabsetzt, obgleich der Lachende selbst fast nie etwas von dem Eindruck weiß, den er hervorbringt. Genau, wie er nicht weiß, und wie überhaupt niemand weiß, was für ein Gesicht er im Schlafe hat. Mancher Mensch hat auch im Schlafe ein kluges Gesicht, bei andern wieder, selbst bei klugen Leuten, wird das Gesicht im Schlafe furchtbar dumm und infolgedessen lächerlich. Ich weiß nicht, woher das kommt; ich will nur sagen, daß ein Mensch, der lacht, genau so wie einer, der schläft, fast nie weiß, was für ein Gesicht er macht. Die überwältigende Mehrzahl der Menschen versteht überhaupt nicht zu lachen. Übrigens, da ist gar nichts zu verstehen: das ist ein Talent, und man kann sich's nicht geben. Höchstens kann man sich's dadurch geben, daß man sich durch Selbsterziehung ändert, daß man sich zum Besseren durchringt und die schlechten Instinkte seines Charakters niederkämpft: es ist durchaus wahrscheinlich, daß auf die Weise auch das Lachen eines Menschen sich zum Besseren verwandeln könnte. Durch sein Lachen verrät sich so mancher, und man erkennt auf einmal sein Innerstes. Unstreitig ist auch ein kluges Lachen zuweilen abstoßend. Zum Lachen gehört vor allen Dingen Aufrichtigkeit; aber wo findet man in den Menschen Aufrichtigkeit? Zum Lachen gehört nichts weniger als Bosheit; die Menschen lachen aber am häufigsten boshaft. Ein aufrichtiges, nicht boshaftes Lachen, das ist Fröhlichkeit; aber wo findet man bei den Menschen von heute Fröhlichkeit; und können die Leute überhaupt noch fröhlich sein? (Dieses Wort über die Fröhlichkeit von heute stammt von Wersilow, und ich habe es mir gemerkt.) Die Fröhlichkeit eines Menschen ist der Zug, der am meisten von ihm verrät. Mancher Charakter ist wie eine Nuß, an der man sich lange die Zähne ausbeißt, aber der Betreffende braucht nur einmal recht ungeniert zu lachen, und sein Charakter liegt offen da, wie auf der flachen Hand. Nur ein Mensch mit der höchsten und glücklichsten Kultur versteht es, so zu lachen, daß er seine Fröhlichkeit andern mitteilt, das heißt, unwiderstehlich und gutmütig. Ich spreche hier nicht von Verstandeskultur, sondern von der Kultur des Charakters, des ganzen Menschen. Also, wenn man einen Menschen durchschauen und sein Herz erkennen will, so muß man sich nicht darum kümmern, wie er schweigt, oder wie er spricht, oder wie er weint, oder wie er von edelsten Idealen durchglüht wird; sondern man beobachtet ihn am besten, wenn er lacht. Hat ein Mensch ein gutes Lachen, so ist er ein guter Mensch. Man muß dabei übrigens gut auf alle Nuancen achten: so darf einem zum Beispiel das Lachen eines Menschen auf keinen Fall dumm erscheinen, so fröhlich und gutmütig er auch lachen mag. Bemerkt man auch nur den kleinsten Zug von Dummheit in seinem Lachen, so ist dieser Mensch sicherlich von beschränktem Verstande, mag er auch so tun, als schüttle er die großen Gedanken nur so aus dem Ärmel. Und wenn sein Lachen auch nicht dumm ist, wenn aber der Betreffende selber einem beim Lachen aus irgendeinem Grunde plötzlich lächerlich erscheint, wenn auch nur ein ganz klein wenig lächerlich, so bedeutet das, daß dieser Mensch keine echte persönliche Würde besitzt, oder wenigstens nicht genug davon. Oder schließlich: wenn eines Menschen Lachen sich zwar mitzuteilen vermag, einem aber ungeachtet dessen abgeschmackt erscheint, so ist dieser Mensch sicherlich selber ein abgeschmackter Kopf, und alles Edle und Hohe, das man früher an ihm bemerkt hat, ist entweder mit Vorbedacht geheuchelt oder unbewußt von außen angeeignet; so ein Mensch wird sich späterhin sicherlich zum schlechteren verändern, er wird sich auf Dinge werfen, die »gemeinen Nutzen« versprechen, und die edeln Ideen ohne Bedauern als jugendliche Verirrungen und Schwärmereien abtun.

Diesen langen Exkurs über das Lachen habe ich in wohlerwogner Absicht hier eingefügt und ihm sogar den glatten Fluß meiner Erzählung geopfert, weil ich ihn für eine der wichtigsten Erkenntnisse halte, die das Leben mir gebracht hat. Und besonders empfehle ich ihn jungen Bräuten, die im Begriff stehen, den erwählten Mann zu heiraten, aber ihn doch noch immer nachdenklich und mißtrauisch beobachten und keinen endgültigen Entschluß fassen können. Und niemand soll über den trübseligen Halbwüchsling lachen, weil er sich in seinen Moralpredigten mit der Frage der Ehe befaßt, wovon er doch nicht das geringste versteht. Soviel verstehe ich doch, daß das Lachen die sicherste Probe auf den Gehalt eines Herzens ist. Schauet die Kindlein an: nur die Kinder verstehen es, vollkommen gut zu lachen, – deshalb sind sie auch so bezaubernd. Ein Kind, das weint, ist mir widerlich; ein lachendes, fröhliches aber ist wie ein Strahl vom Glanze des Paradieses, eine Offenbarung aus der Zukunft, wo die Menschen wieder rein und einfältig wie die Kindlein sein werden. – Und so etwas Kindliches und ganz unwahrscheinlich Einnehmendes leuchtete auch aus dem flüchtigen Lachen dieses alten Mannes. Ich trat sogleich auf ihn zu.

Ein Werdender - Dritter Band

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