Читать книгу Ein Werdender - Dritter Band - Fjodor M. Dostojewski - Страница 6

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»Setz' dich nieder, setz' dich, du kannst wohl noch nicht recht auf den Füßen stehen«, forderte er mich freundlich auf und wies auf einen Platz neben sich; dabei sah er mir immer noch mit demselben strahlenden Blick in die Augen. Ich setzte mich neben ihn und sagte:

»Ich kenne Sie, Sie sind Makar Iwanowitsch.«

»Sehr richtig, lieber Freund. Schön, daß du aufgestanden bist. Du bist ein junger Mensch, für dich ist's schön. Der Alte gehört in die Grube, der Junge soll leben.«

»Sind Sie denn krank?«

»Freilich, mein Lieber, die Füße besonders; bis an die Tür hier haben sie mich noch getragen, die alten Füße, aber kaum hab' ich mich hier niedergesetzt, da sind sie gleich aufgeschwollen. Das hab' ich seit letztem Donnerstag, wo der Frost so stark wurde. Ich habe sie bisher immer mit einer Salbe eingeschmiert, weißt du; die hat mir ein Doktor in Moskau, Edmund Karlytsch Lichten hieß er, vor drei Jahren verschrieben, und die Salbe hat geholfen, so gut hat sie geholfen; na, und jetzt hilft sie halt nicht mehr. Und auf der Brust hab' ich's auch. Und seit gestern tut mir der Rücken arg weh, als ob mir die Hunde drin herumbissen . . . Und schlafen kann ich auch nicht die Nächte.«

»Wie kommt's denn, daß man Sie hier gar nicht hört?« unterbrach ich ihn. Er sah mich an, als überlege er sich etwas.

»Weck' nur deine Mutter nicht auf«, fuhr er dann fort, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Sie hat da nebenan die ganze Nacht geschafft, so leise, daß man nichts hören konnte, wie eine Fliege; und jetzt, weißt du, hat sie sich hingelegt. – Ach, so ein kranker alter Mann hat's nicht gut«, seufzte er. »Woran hängt das Herz nur so, und will und will nicht loslassen, und immer noch freut es sich am Licht; und wenn's drauf ankäme, das ganze Leben noch einmal von vorn anzufangen, ich glaube, auch davor würde das Herz sich nicht fürchten; zwar, so ein Gedanke ist vielleicht sündhaft.«

»Warum denn sündhaft?«

»Ein Traum ist's, so ein Gedanke, und ein alter Mann muß mit Freuden dahingehen. Denn, siehst du, wenn du den Tod mit Murren oder mit Mißvergnügen begrüßt, so ist dieses eine große Sünde. Nun, aber wenn einer aus geistlicher Fröhlichkeit das Leben liebgewonnen hat, so denke ich mir, wird Gott ihm verzeihen, wenn er auch ein alter Mann ist. Schwer ist's für den Menschen, zu wissen bei jeder Sünde, was da sündig ist, und was nicht: da ist ein Geheimnis dabei, das über Menschenverstand geht. Ein alter Mann aber muß zufrieden sein zu jeder Zeit, und sterben muß er in der vollen Blüte seines Verstandes, selig und gern, gesättigt von seinen vielen Tagen, entgegenseufzend seiner letzten Stunde und freudig, wie eine Ähre zur Garbe dahingeht, wenn er sein Geheimnis erfüllt hat.«

»Sie sagen immer ›Geheimnis‹; was heißt das: sein Geheimnis erfüllt haben?« fragte ich und sah mich nach der Tür um. Ich freute mich, daß wir allein waren, und daß ringsum unverbrüchliche Stille herrschte. Die untergehende Sonne schien grell ins Zimmer. Er sprach ein wenig schwülstig und unklar, aber sehr überzeugt und in einer starken Erregung, als freue er sich in der Tat sehr über mein Kommen. Aber ich bemerkte wohl, daß er zweifellos fieberte, und zwar recht stark. Ich war gleichfalls krank und fieberte seit dem Augenblick, da ich zu ihm gekommen war.

»Was das Geheimnis ist? Alles ist ein Geheimnis, lieber Freund, in allem ist das göttliche Geheimnis. In jedem Baume, in jedem Kraute ist dieses selbe Geheimnis beschlossen. Ob nun ein kleines Vöglein singt, ob die ganze Schar der Sterne in der Nacht am Himmel glänzt – das alles ist dieses Geheimnis, gleicherweise. Und das größte Geheimnis liegt in dem, was die Seele des Menschen in jener Welt erwartet. So ist es, lieber Freund!«

»Ich weiß nicht, in welchem Sinne Sie . . . Ich sage das natürlich nicht, um mich über Sie lustig zu machen, und Sie können mir glauben: ich glaube an Gott; aber alle diese Geheimnisse hat der Verstand schon lange durchschaut, und was er noch nicht entdeckt hat, das wird alles entdeckt werden, ganz sicher, und vielleicht in kürzester Frist. Die Botanik weiß ganz genau, wie der Baum wächst, der Physiolog und der Anatom wissen sogar, warum der Vogel singt, oder werden es bald wissen; und was die Sterne betrifft, so sind sie nicht nur alle gezählt, sondern jede ihrer Bewegungen ist genau auf die Minute ausgerechnet, so daß man sogar auf tausend Jahre hinaus voraussagen kann, genau auf die Minute, wann irgendein Komet erscheinen wird . . . Und heutzutage ist auch schon die Zusammensetzung der entferntesten Sterne bekannt. Nehmen Sie ein Mikroskop – das ist ein Vergrößerungsglas, das die Dinge millionenfach vergrößert, und schauen Sie sich einen Wassertropfen dadurch an: Sie werden dort eine ganze neue Welt erblicken, eine ganze Welt von lebenden Wesen; und sehn Sie, auch das war ein Geheimnis, aber man hat es doch entdeckt.«

»Ich habe wohl davon gehört, mein Lieber, mehr als einmal haben mir die Leute davon erzählt. Da ist nichts zu sagen, das ist ein großes und rühmliches Werk; alles ist dem Menschen gegeben nach Gottes Willen; nicht umsonst hat Gott ihm seinen lebendigen Odem eingeblasen: ›Lebe und erkenne‹.«

»Nun, das sind Gemeinplätze. Sie sind also kein Feind der Wissenschaft, kein Klerikaler? Das heißt, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen . . .«

»Nein, lieber Freund, ich habe von Jugend auf Achtung vor der Wissenschaft gehabt, und wenn ich selbst nicht gescheit darin bin, so murre ich doch nicht darüber: ist sie mir nicht zuteil geworden; so ist sie andern zuteil geworden. Es ist vielleicht auch besser so, weil so jeder sein Teil hat. Weil auch nicht jedem die Wissenschaft zum Nutzen dienen würde, lieber Freund. Gar mancher kann sich keine Grenze ziehen, gar mancher möchte die ganze Welt in Erstaunen setzen, und ich würde das vielleicht mehr als irgendein andrer wollen, wenn ich gelehrt wäre. Aber wo ich jetzt ganz und gar nicht gelehrt bin, wie kann ich mich da überheben, wo ich doch selber ganz und gar nichts weiß? Du aber bist jung und hast scharfe Augen, und dir ist das als Gebiet gegeben, lerne du nur. Suche alles zu erkennen: wenn dir dann ein Gottloser oder ein Frecher begegnet, so kannst du ihm antworten, und er kann dich mit seinen hitzigen Redensarten nicht irreführen und deine unreifen Gedanken nicht verwirren. – Und so ein Glas, wie du sagst, hab' ich selbst gesehen, es ist noch nicht so lange her.«

Er holte Atem und seufzte. Ich hatte ihm durch mein Kommen entschieden große Freude gemacht. Sein Durst, sich mitzuteilen, war fast krankhaft. Außerdem täusche ich mich ganz bestimmt nicht, wenn ich behaupte, daß er mich zuweilen mit ganz besondrer Liebe ansah: er legte seine Hand liebkosend auf die meine und streichelte mir die Schulter . . . allerdings manchmal, muß ich gestehen, vergaß er mich dann wieder ganz, es war, als säße er ganz allein; und wenn er auch eifrig weitersprach, so sprach er doch gleichsam in die leere Luft.

»Lieber Freund,« fuhr er fort, »es lebt da im Gennadios-Kloster ein sehr gescheiter Mann. Er ist aus vornehmer Familie, nach seinem Range Oberstleutnant und sehr reich. Als er noch in der Welt lebte, wollte er sich nicht durch eine Heirat binden; jetzt ist es schon das zehnte Jahr, daß er sich von der Welt abgeschlossen hat, er liebt die stillen, schweigsamen Zufluchtstätten, und sein Gefühl hat das weltliche Sorgen und Eifern abgetan. Er hält alle Klosterregeln ein, aber Mönch werden will er nicht. Und Bücher, lieber Freund, hat er soviel, wie ich noch bei keinem Menschen gesehen habe, – er selbst hat mir gesagt, sie haben ihn achttausend Rubel gekostet. Er heißt Piotr Valerianytsch. Er hat mich zu verschiedner Zeit viel gelehrt, und ich hab' ihm immer furchtbar gern zugehört. Also frage ich ihn einmal: ›Wie kommt es, Herr, daß Sie bei Ihrem großen Verstand, und wo Sie schon zehn Jahre im Mönchsdienst leben und in der vollkommenen Abtötung Ihres Willens – wie kommt es, daß Sie nicht das löbliche Ordensgelübde ablegen, um dadurch noch vollkommener zu werden?‹ Und er gibt mir zur Antwort: ›Was redest du da von meinem Verstande, Alter; vielleicht hat mich mein Verstand zu seinem Gefangnen gemacht, und nicht ich habe ihm seine Grenzen gesetzt. Und was redest du von meinem Mönchsdienst: vielleicht habe ich längst das eigne Maß für mich verloren. Und was redest du von der Abtötung meines Willens? Meinem Gelde würde ich sofort entsagen, Rang und Stand würde ich hergeben, und alle meine Orden würde ich auf den Tisch legen, aber meiner Pfeife Tabak kann ich nicht entsagen, und kämpfe doch schon zehn Jahre darum. Was wäre ich also für ein Mönch, und was für eine Willensabtötung rühmst du an mir?‹ – Ich wunderte mich damals über diese Demut. Na, und also im vorigen Sommer, um die Zeit der Peter- und Paulsfasten, komme ich wieder in dieses Kloster – Gott hatte mich hingeführt – und da sehe ich, in seinem Zimmer steht eben so ein Ding – ein Mikroskop – das hatte er sich um viel Geld aus dem Ausland kommen lassen. ›Wart', Alter‹, sagt er zu mir, ›ich zeig' dir etwas ganz Erstaunliches, weil du so etwas noch nie gesehen hast. Sieh diesen Wassertropfen, er ist rein wie eine Träne: na, also, schau dir an, was darin ist, und du wirst sehen, daß die Mechaniker bald alle Geheimnisse Gottes durchforscht haben werden, nicht ein einziges werden sie für dich und mich übriglassen.‹ Mit den Worten sagte er das, ich hab' es genau behalten. Aber ich hatte in so ein Mikroskop schon fünfunddreißig Jahre vorher hineingeschaut, bei Alexander Wladimirowitsch Malgasow, unserm Herrn, Andrej Petrowitschs Onkel von Mutters Seiten, von dem Andrej Petrowitsch dann nachher, nach seinem Tode, das Stammgut geerbt hat. Er war ein großmächtiger Herr, ein hoher General, und hielt sich eine große Hundemeute, und ich war damals lange Zeit Jäger bei ihm. Na, und damals stellte er auch so ein Mikroskop auf, das er mitgebracht hatte, und befahl dem ganzen Gesinde, Männern und Weibern, sie sollten eins nach dem andern herkommen und hineinschauen, und da wurde denn auch allerhand gezeigt: ein Floh und eine Laus, eine Nadelspitze, ein Haar, ein Tropfen Wasser. Und das war ein Spaß: die Leute fürchteten sich, hinzugehen, und vor dem Herrn fürchteten sie sich auch – er konnte sehr böse werden. Manche konnten überhaupt gar nicht hineinschauen, sie kniffen die Augen zu und sahen gar nichts; andre grausten sich und schrien, und Sawin Makarow, der Starost, hielt sich die Augen mit beiden Händen zu und schrie: ›Macht mit mir, was ihr wollt, – ich geh' nicht hin!‹ Törichtes Gelächter gab's da genug. Piotr Valerianytsch sagte ich aber nichts davon, daß ich schon früher, vor fünfunddreißig Jahren, das gleiche Wunder gesehen hatte, weil ich sah, er hatte große Freude daran, es mir zu zeigen; darum tat ich so, als ob ich mich schrecklich wunderte und entsetzte. Er ließ mir Zeit zur Überlegung und fragte dann: ›Na, Alter, was sagst du jetzt?‹ Ich aber verneigte mich und sagte zu ihm: ›Gott sprach: es werde Licht, und es ward Licht‹, und er fragte auf einmal hastig zurück: ›Ward nicht am Ende Finsternis?‹ Und das sagte er so sonderbar, und lachte nicht einmal dazu. Da wunderte ich mich über ihn, und er war förmlich böse geworden und sagte nichts mehr.«

»Ganz einfach, Ihr Piotr Valerianytsch ißt im Kloster geweihten Reis und macht vorgeschriebene Kniebeugungen, aber er glaubt nicht an Gott, und Sie sind gerade in einem solchen Augenblick zu ihm gekommen – das ist die ganze Geschichte,« sagte ich, »und außerdem ist er ein recht lächerlicher Mensch: er hat doch sicher seine zehnmal vorher schon ein Mikroskop gesehen; warum schnappt er dann beim elftenmal plötzlich in der Weise über? Das ist so eine nervöse Empfindlichkeit . . . die hat sich wohl durch das Klosterleben bei ihm entwickelt.«

»Er ist ein Mensch von reinem Herzen und hohem Verstande,« sagte der Alte eindringlich, »und er ist kein Gottloser. Er hat eine Menge Verstand, aber sein Herz ist unruhig. Solche Leute gehen jetzt sehr viele aus dem herrschaftlichen und gelehrten Stande hervor. Und noch eins will ich dir sagen: solch ein Mensch straft sich selber für seine Sünden. Und du mach' einen Bogen um solche Leute und ärgere sie nicht, aber bevor du nachts einschläfst, gedenke ihrer im Gebete, weil solche Leute Gott suchen. Betest du vor dem Schlafengehen?«

»Nein, ich halte das für eine leere Formalität. Ich muß Ihnen übrigens gestehen, daß Ihr Piotr Valerianytsch mir gefällt: er ist wenigstens kein leeres Stroh, sondern immerhin ein Mensch, und hat ein wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen, der uns beiden nahe steht, und den wir beide kennen.«

Der Alte beachtete nur den ersten Satz meiner Antwort:

»Das ist gar nicht recht, lieber Freund, daß du nicht betest; beten ist etwas Gutes und macht das Herz froh, vorm Schlafengehen, und wenn man in der Früh aufsteht, und wenn man nachts erwacht. Das kann ich dir sagen. Vorigen Sommer, im Juli, pilgerten wir zum Kirchenfeste nach dem Bogorodskij-Kloster. Je näher wir hinkamen, desto mehr Leute stießen zu uns, und schließlich waren wir unser fast zweihundert, die alle die gleiche Straße pilgerten, um die heiligen und gnadenkräftigen Reliquien der beiden Wundertäter Anikios und Gregorios zu küssen. Wir nächtigten im freien Felde, und ich erwachte am Morgen sehr früh, alle schliefen noch, und selbst die liebe Sonne sah noch nicht hinter dem Walde hervor. Also, lieber Freund, ich neigte mich im Gebete, ließ meinen Blick in die Runde gehen und seufzte! Eine Schönheit überall, daß man es nicht sagen kann! Alles still, die Luft ist weich; die Gräschen wachsen – wachst nur, ihr Gräschen Gottes; ein Vöglein singt – sing nur, Vöglein Gottes; ein Kindchen schreit im Arm seiner Mutter – der Herr sei mit dir, Menschlein, wachs zum Glück auf, Kindchen! Und siehst du, es war, als hätte ich damals zum erstenmal in meinem ganzen Leben das alles in mich aufgenommen . . . Ich neigte mich wieder im Gebet; dann schlief ich so gut ein. Schön ist's auf dieser Welt, lieber Freund! Weißt du, wenn es mit mir besser werden sollte, dann ziehe ich im Frühling wieder aus. Und was das Geheimnis betrifft, so macht es das ja nur noch besser: das Herz scheut sich und staunt davor; und diese Scheu gereicht dem Herzen zur Erbauung: ›Alles ist in dir beschlossen, o Herr, und auch ich bin in dir beschlossen, und du nimm mich auf!‹ Murre nicht dawider, junger Mensch: darum eben ist es noch schöner, weil es ein Geheimnis ist«, fügte er ergriffen hinzu.

»›Darum eben ist es noch schöner, weil es ein Geheimnis ist‹ . . . Dieser Worte werde ich gedenken. Sie drücken sich furchtbar ungenau aus, aber ich verstehe Sie schon . . . Mich überrascht es, daß Sie viel mehr wissen und verstehen, als Sie ausdrücken können; nur reden Sie gleichsam wie im Fieber . . .« sagte ich unwillkürlich, wie ich so in seine fiebrigen Augen und sein bleich gewordnes Gesicht sah. Aber er schien meine Worte überhaupt nicht zu hören.

»Weißt du auch, lieber junger Mensch,« begann er wieder in einem Tone, als setzte er seine frühere Rede fort, »weißt du auch, daß dem Gedächtnis des Menschen auf dieser Erde eine Grenze gesteckt ist? Das Gedächtnis des Menschen währt nur hundert Jahre. Hundert Jahre nach seinem Tode können noch seine Kinder seiner gedenken, oder seine Enkel, die sein Angesicht gesehen haben, später aber kann wohl noch sein Gedächtnis fortleben, aber bloß im Munde der Leute, bloß im Gedanken, dieweil alle dahingegangen sind, die sein lebendiges Antlitz geschaut haben. Und verschwinden wird sein Grab auf dem Friedhof unter Gras, zerfallen wird der weiße Stein darauf, und vergessen werden ihn alle Leute, und selbst seine eignen Nachkommen, vergessen wird selbst sein Name werden, dieweil nur wenige bleiben im Gedächtnis der Menschen – und was schadet das! Mögt ihr mich vergessen, Geliebte, ich liebe euch noch aus dem Grabe heraus. Ich höre eure fröhlichen Stimmen, Kinderchen, ich höre eure Schritte über die Gräber eurer leiblichen Vorfahren wandern; lebt nur noch so lange unter der lieben Sonne und freuet euch, ich will für euch zu Gott beten, im Traum will ich zu euch kommen . . . ob man auch tot ist, die Liebe bleibt dennoch! . . .«

Die Sache ist die, daß ich selber genau in demselben Fieberzustande war wie er; statt hinauszugehen oder ihn zu beruhigen oder ihn vielleicht auch ins Bett zu bringen, weil er geradezu im Fieberdelirium war, – statt dessen ergriff ich plötzlich seine Hand, ich beugte mich über ihn, drückte seine Hand und flüsterte erregt, das Herz geschwellt von Tränen:

»Ich bin so froh, daß Sie da sind. Ich habe vielleicht schon lange auf Sie gewartet. Von den andern habe ich nicht einen lieb: ihnen allen fehlt die Vornehmheit . . . Ich kann nicht mit ihnen gehen, ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, ich gehe mit Ihnen . . .«

Zum Glück kam Mama herein, ich weiß nicht, wie das sonst noch geendet hätte. Sie kam mit noch schlaftrunknem und aufgeregtem Gesicht; in der Hand hatte sie ein Medizinfläschchen und einen Eßlöffel; als sie uns erblickte, rief sie:

»Ich hab' es doch gewußt! Ich habe ihm die Chinatropfen nicht zur Zeit gegeben, er hat wieder starkes Fieber! Ich habe mich verschlafen, Makar Iwanowitsch, Lieber!«

Ich stand auf und ging hinaus. Sie gab ihm die Arznei und brachte ihn zu Bett. Ich legte mich auch zu Bett, war aber sehr erregt. Eine große Neugierde hatte ich mit herübergebracht, und ich dachte mit allen Gedanken nur an diese Begegnung. Was ich damals davon für Folgen erwartete, – ich weiß es nicht. Natürlich, ich dachte ohne Zusammenhang, und was durch meinen Kopf ging, waren keine Gedanken, sondern nur Bruchstücke von Gedanken. Ich lag mit dem Gesicht zur Wand und erblickte auf einmal in der Ecke den grellen Sonnenflecken, auf den ich vorhin unter Stöhnen und Fluchen gewartet hatte; und ich weiß noch, wie mein ganzes Innres gleichsam frohlockte und gleichsam ein neues Licht mein Herz erfüllte. Ich gedenke dieses herrlichen Augenblicks und will seiner nicht vergessen. Das war nur ein Augenblick neuer Hoffnung und neuer Kraft . . . Ich war damals in der Genesung, und da war also wohl dieser Aufschwung die unvermeidliche Folge meines Nervenzustandes; aber derselben lichten Hoffnung vertraue ich auch heute noch – das ist es, was ich hierher schreiben und wessen ich damit gedenken wollte. Natürlich wußte ich auch damals genau, daß ich nicht mit Makar Iwanowitsch auf die Pilgerfahrt gehen würde, und daß ich selber nicht wußte, worin eigentlich dieser neue Drang bestand, der mich erfaßt hatte, aber ein Wort hatte ich schon ausgesprochen, wenn auch bloß im Fieberdelirium, das hieß: »Sie haben die Vornehmheit nicht!« – »Es ist ganz klar,« dachte ich in meiner großen Erregung, »von diesem Augenblick an will ich die ›Vornehmheit‹ suchen, den andern aber fehlt sie, und darum will ich von ihnen gehen.«

Etwas raschelte hinter mir, ich drehte mich um: da stand Mama, über mich gebeugt, und sah mir mit schüchterner Neugier in die Augen. Ich ergriff auf einmal ihre Hand:

»Mama, warum haben Sie mir denn nichts von unserm teuern Gaste gesagt?« fragte ich plötzlich, ohne selber vorher gewußt zu haben, daß ich so fragen würde. Alle Unruhe verschwand auf einmal aus ihrem Gesicht, und eine Art Freude leuchtete darin auf, aber sie gab mir zur Antwort nur dieses eine Wort:

»Du solltest Lisa auch nicht vergessen; du hast Lisa vergessen.«

Sie sagte das hastig, wurde rot dabei und wollte schnell davoneilen, denn sie liebte es gar nicht, aber auch gar nicht, Gefühle breitzutreten; und in der Beziehung war sie genau wie ich, das heißt, zurückhaltend und keusch; außerdem natürlich wollte sie auch nicht mit mir von dem Thema Makar Iwanowitsch anfangen; es war genug daran, was wir uns gegenseitig mit unsern Blicken sagen konnten. Aber ich, ich, der jedes Breittreten von Gefühlen haßt, ich hielt sie mit Gewalt am Arme zurück: ich sah ihr freundlich in die Augen, lachte still und zärtlich und streichelte mit der andern Hand ihr liebes Gesicht, ihre eingefallenen Wangen. Sie beugte sich über mich und preßte ihre Stirn gegen meine:

»Christus beschirme dich,« sagte sie und richtete sich plötzlich auf, mit strahlendem Gesicht, »werd' nur gesund! das vergesse ich dir nicht. Er ist krank, sehr krank . . . Gott ist der Herr über Leben und Tod . . . Ach, was sage ich da, das kann ja gar nicht sein! . . .«

Sie ging hinaus. Sie hat ihren ehelichen Mann, den Pilger Makar Iwanowitsch schon wirklich ihr Leben lang verehrt, in Furcht und Zittern und in Andacht, ihn, der ihr so großmütig, und ein für allemal verziehen hatte.

Ein Werdender - Dritter Band

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