Читать книгу Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian - Florian C. Booktian - Страница 11
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Die Uhr tickte und mit jeder Sekunde kam das gelbe Taxi dem Polizeipräsidium näher. Milten war schon auf die Straße herausgetreten, als ihm einfiel, dass er mit Percy hierhergekommen war und kein Auto hatte. Also hatte er sich kurzerhand ein Taxi bestellt und gewartet. Er hätte auch einen Dienstwagen beantragen können, aber da es sich nicht um eine offizielle Polizei-Angelegenheit handelte, hatte er darauf verzichtet. Vorschriften waren Vorschriften, auch wenn es ihn inzwischen nicht mehr so sehr störte, ein paar davon zu übertreten.
Die Wartezeit hatte Miltens Gedanken tief abdriften lassen. Es fing an mit Vanessas Tod, über die Ereignisse in Sharpytown bis hin zu dem Tag, als er Melody auf der Polizeiakademie kennengelernt hatte. Eigentlich war er ein Erfinder und kein Detective, aber nach der Zeit mit dem Erdmännchen in Sharpytown wollte er Percy nicht mehr von der Seite weichen. Das Erdmännchen, Detective und Jungesselle, war sein erster richtiger Freund geworden. Natürlich hatte Milten zuvor schon auf der Universität Freunde gehabt. Aber die Freundschaften zu seinen Mitschülern waren oftmals nur flüchtige Zweckbekanntschaften, die sich nach dem Semester auflösten. Wobei das nicht ganz stimmte. Milten hatte einen Freund, seinen Professor Charles P. Notlob, mit dem er ein gemeinsames Interesse an Erfindungen teilte. Notlob arbeitete an großen Projekten wie der Perpetuum-mobile-Eisenbahn und einer Zeitmaschine. Milten hatte dem Professor während seiner Studienzeit assistiert, ihm beim Korrigieren von Arbeiten und Vorbereiten von Lesungen geholfen. Zeitweise weckte er den Professor morgens sogar auf und schubste ihn unter die Dusche, wenn er wieder mal die ganze Nacht damit verbracht hatte, Berechnungen durchzuführen und Pläne zu zeichnen. Bisher war Notlob nur ein markanter Durchbruch gelungen. Er hatte ein Putzmittel erfunden, das Staub davon abhielt, sich auf Oberflächen abzusetzen, und ihn dazu zwang, sich in einem gesonderten Behältnis anzusammeln: direkt im Mülleimer. Ein Spritzer auf ein Regal, ein zweiter in die Tonne, fertig. Der Staub verkroch sich von alleine. Das Mittel bescherte ihm finanzielle Unabhängigkeit und einen Lehrstuhl, mit dem er weiter forschen konnte. Mancher Tage war Milten froh, dass der Professor jeden Morgen im Vorlesungssaal sein musste, denn wenn man ihn sich selbst überließ, schlief er bis in den Mittag und arbeitete bis in den Morgen hinein. Das ging so lange gut, bis er immer später aufstand und immer später schlafen ging. Dann brach für einen Monat alles zusammen, als der Biorhythmus von Notlob die Kapitulation anmeldete und durch Schlafstörungen klarmachte, dass keiner von beiden mehr wusste, wie ein geregelter Tagesablauf überhaupt auszusehen hatte.
Als Spätfolge wanderte der Professor einen Monat nachts umher und schlief irgendwann aus Erschöpfung an Ort und Stelle ein. Das hatte Milten genau einmal miterlebt. Es war scheußlich gewesen, seinen Freund so leiden zu sehen. Er wusch sich nicht mehr und verlor mehr und mehr an Gewicht, sodass man ihn schon fast nicht mehr wiedererkannte. Seitdem hatte Milten peinlichst genau darauf geachtet, dass Charles P. Notlob seinen Pflichten als Professor nachkam und sich ansonsten seiner Forschung widmete. Am Ende seines letzten Semesters hatte Notlob Milten gratuliert und ihn gefragt, was er jetzt vorhabe. Milten hatte gelächelt. Es war typisch für den Professor, so viel Zeit mit jemandem zu verbringen und dennoch derartige Kleinigkeiten zu vergessen. Milten hatte ihm etliche Male gesagt, dass er keine Ahnung habe, was er nach dem Studium machen wolle. Am liebsten hätte er einfach weiter studiert, weiter assistiert und weiter vor sich hin getüftelt. Notlob führte ihn in seine Lieblingskneipe, den Steppenden Drachen, und fragte bei einem heißen Donnerschwarztee, was ihm denn fehle. Milten hatte geseufzt, und dann hatte er gebeichtet, dass ihm wohl etwas Aufregung fehlte.
Einen Tag später bekam Milten einen Anruf seines Professors, der ihm erklärte, dass er sich auf der Polizeistation für ein Praktikum einfinden solle. Er hatte einen Gefallen eingeholt, ihm eine Stelle an der Seite eines berühmten Detectives besorgt. Zuerst hatte Milten gar nicht verstanden, was sein Freund ihm sagen wollte, es klang, als würde er während des Gesprächs Koffer aufwerfen und hastig seinen Kleiderschrank ausräumen. Auf Nachfrage erklärte er Milten, er habe ihn gefunden, den perfekten Ort für seine Zeitmaschine.
Dann war der Professor aus seinem Leben verschwunden. Weder an der Universität noch bei seinem ehemaligen Vermieter konnte Milten erfahren, wohin sein Freund gefahren war. Die Wohnung des Professors war wie leer gefegt, an der Universität hatte er eilig gekündigt. Aus seinem Arbeitszimmer an der Universität war alles verschwunden, einschließlich der Pläne für die Zeitmaschine. Für einen kurzen Moment war Milten ganz alleine. Und dann kam Percy. Nach ihrem ersten Fall wurde Milten im Schnelldurchlauf zum Detective.
Von Charles P. Notlob hatte er bis heute nie wieder etwas gehört. Er hatte ihn verlassen, genau wie Melody ihn verlassen hatte, und auch wenn Percy noch da war, seine Melody konnte das Erdmännchen nicht ersetzen.
Das gelbe Taxi hielt direkt vor Milten und eine nüchtern dreinblickende Fahrerin schaute zu ihm. Ihr Kopf war wie ihre Hände in Bandagen gehüllt. Sie ließ das Fenster herunter und entgegnete plump: „Taxi?“ Plötzlich kniffen sich ihre Augen zusammen, als hätte sie ihn wiedererkannt. Milten konnte mit der Frau aber nichts anfangen. Die winzige freie Stelle um ihre Augen war stark vernarbt und wirkte angespannt. Nichts Ungewöhnliches. In Bimbeldove wimmelte es nur so von billigen Chirurgen. Ein Trend, der scheußliche Nachteile mit sich brachte. Scharenweise kamen Leute unters Messer, die es sich weder leisten konnten noch nötig hatten. Das Ergebnis waren entstellte Gesichter und aufgeblasene Hintern. Der berühmteste unter ihnen war Jeremaya Steinman, ein Wahnsinniger von ganz eigenem Kaliber. Der Mann war vor Monaten verschwunden, angeblich in eine Unterwasserstadt, um sich dort neu zu entfalten.
Milten stieg ein. Die Fahrerin hatte runde Stumpen von Ohren. Vielleicht hatte sie schwere Verbrennungen erlitten?
„Wohin solls gehen?“ Ihre Stimme klang kratzig.
Milten sollte in die Yellowbuttonstreet Nummer 64, um für heute Abend etwas Wichtiges einzukaufen. Der Erfinder, inzwischen Detective, warf einen Blick auf seine traute Taschenuhr. In der Tat, der Tag war noch jung.
„Bringen Sie mich in den Tempelway 3.“
Die Fahrerin nickte und ordnete den Wagen an der Kreuzung zum Linksabbiegen ein.
In dem Taxi herrschte ein unangenehmer Geruch. Eine Mischung aus den vielen Körpergerüchen verschiedener Daseinsformen, die den ganzen Tag auf der Rückbank transportiert wurden.
Der Wagen hielt im Tempelway 3. Milten bat die Fahrerin zu warten und stieg aus. Gegen das Taxi gelehnt schaute er zu ihr empor, irgendwo dort oben war sie. Und vielleicht gab es ja eine Chance, dass sie doch wieder zusammenkamen, immerhin war der Grund ihrer Trennung kein ernster gewesen. Oder? Vielleicht konnte er sie doch teilen. Lieber ein bisschen Melody als gar keine.
Sie hatte die Ausbildung an der Polizeiakademie mit ihm abgeschlossen. Aber während Milten direkt Percy zur Seite gestellt wurde, und er somit Jahrzehnte an Vorarbeit und nötigen Beförderungen übersprungen hatte, arbeitete Melody als normale Streifenpolizistin. Vielleicht war Milten einfach zu wenig da gewesen, hatte zu viel gearbeitet. Vielleicht hätte er ein klein wenig mehr von sich erzählen sollen, etwas mehr preisgeben. Sie näher an ihn heranlassen.
Hinter einem Vorhang tauchte ein Schatten auf, ein paar Augen schauten direkt in Miltens Richtung und verschwanden wieder. Er lehnte sich vom Wagen und machte einen Schritt nach vorne. War das etwa Melody gewesen?
Miltens Handy vibrierte.
Er zog das Gerät aus seiner Weste und las die Nachricht. Sie war von Melody.
Ich weiß, dass du vor dem Haus stehst. Bitte geh. Wir reden später, ja? Ich melde mich bei dir, versprochen. Du bist mir sehr wichtig, Milten!
Was genau sollte das jetzt bedeuten? Milten konnte sie nicht leiden, diese kryptischen Nachrichten, in denen sich mehrere emotionale Ebenen verbargen. Natürlich war er ihr wichtig, sie war ihm auch wichtig. Soll das jetzt bedeuten, dass sie ihn noch liebte? Ging er überhaupt davon aus, dass sie jemals aufgehört hatte, ihn zu lieben? Und was soll dieses Wir sprechen später? Wollte sie ihn nur loswerden?
Leider beschränkte sich ihre Zuneigung nicht nur auf ihn, es gab noch mindestens zwei weitere. Aber die hatte Milten nie kennenlernen wollen. Und dann hatte Melody Schluss gemacht. Es war gut möglich, dass sie gerade nicht alleine war.
Milten sammelte seinen guten alten Optimismus zusammen und beschloss, dass sie nachher bei ihm anrufen würde. Und dann würde sich alles klären. Der Akku seines Smartphones rutschte von zwei auf ein Prozent. Dann ging der Bildschirm aus. Miltens Herz fing an, schneller zu schlagen. Was, wenn sie jetzt gerade versuchte, ihn anzurufen? Ihr jetzt allzu viel Zeit zu lassen, um nachzudenken und Dinge falsch zu interpretieren, konnte den Todesstoß für ihre nur noch halblebige Beziehung bedeuten.
Milten sprang zurück in das Taxi.
„Bringen Sie mich sofort nach Hause!“
Die Taxifahrerin drehte sich zu ihm um, aber bevor sie ihm klarmachen konnte, dass zu Hause etwas zu allgemein war, würgte Milten sie ab.
„Haben Sie ein Handyladegerät, das in Ihren Zigarettenzünder passt?“
Die Taxifahrerin verneinte.
„Dann schnell zu mir nach Hause. Halt! Zuerst muss ich in die Yellowbuttonstreet Nummer 64, und geben Sie Gas. Ich erwarte einen Anruf. Schnell!“
Die Taxifahrerin drehte sich um und steuerte den Wagen zurück in den Verkehr.
Der Laden, den Percy ihm aufgeschrieben hatte, war nur zehn Minuten von Melodys Wohnung entfernt. Milten stieg aus, bat die Taxifahrerin erneut, zu warten, und machte hastig die Besorgungen, die Percy ihm aufgetragen hatte. Einen niedrigen dreistelligen Betrag später stieg Milten zurück in das Taxi. Das Geld war ihm egal, auch der Inhalt der braunen Tüte interessierte ihn nicht. Er musste jetzt so schnell wie möglich nach Hause, um sein Smartphone aufzuladen. Und dann würde er neben dem Haustelefon Stellung beziehen und sich nicht mehr rühren, bis Melodys Anruf kam. Endlich würde sich alles klären und er konnte wieder zurück zu ihr.
„Hat sie Sie sitzen lassen?“, fragte die Taxifahrerin.
„Was?“, fragte Milten und tauchte aus seinen Gedanken auf.
„Die Frau. Sie haben da hinten immer mal wieder Melody gemurmelt und ich nehme an, die Wohnung, die wir gerade aufgesucht haben, gehört ihr. Richtig?“
„Oh, das stimmt“, gestand Milten ein. „Sie hat mich aber nicht sitzen lassen. Wir haben uns scheiden lassen ...“
„Niemals leicht“, sagte die Taxifahrerin und bekundete mit ihrer Stimmlage Mitleid, „der Verlust einer Person, die einem nahesteht. Ich habe gerade selber jemanden verloren.“
„Ach wirklich?“
„Ja. Eine Schwester, unsere Gedanken waren eins.“
Milten stutzte. Er warf einen Blick nach vorne und erkannte, dass sich die Fahrerin am Lenkrad geradezu festgekrallt hatte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Milten schaute in den Rückspiegel, um ihr Gesicht zu erkennen. Es war das Gesicht einer Daseinsform aus Gnaa. Der anderen Planetenhälfte, die mit der Erde verbunden war. Aber zu welcher Daseinsform die Frau gehörte, konnte Milten nicht ausmachen, dazu war sie in zu viele Bandagen gewickelt. Ihre Stimme war rau wie Sandpapier.
„Ist alles in Ordnung?“
Die Frau gab keine Antwort. Milten schaute auf die kleine Plastikhülle am Sitz. Normalerweise befand sich darin die Lizenz des Taxifahrers, aber die Plastikhülle war leer.
Als das Taxi Percys Wohnung erreicht hatte, bezahlte Milten und verabschiedete sich ohne ein weiteres Wort.
Die Taxifahrerin schaute dem Erfinder noch eine ganze Weile hinterher. Sie konnte nicht glauben, dass sie jetzt wusste, wo er wohnte. Der Mörder ihrer Schwester. Es hatte all ihre Kraft gekostet, sich zurückzuhalten und ihn nicht sofort ins stille Nirgendwo zu fahren, wo sie ihn ungestört bearbeiten konnte. Aber seine Stunde würde schon auch noch schlagen. Bisher war ihr noch keiner entwischt und das würde auch so bleiben.
Eine Frau in einem grünen Mantel lief die Straße herauf. Sie schaute sich suchend um, warf einen Blick nach links, dann schaute sie auf ein Haus gegenüber. Sie kam auf das Taxi zu und klopfte an die Scheibe.
„Entschuldigung?“, sagte die Frau im grünen Mantel. „Mein Name ist Beth Penny. Ich komme vom TailStripe Verlag, können Sie mir vielleicht sagen, ob Milten Greenbutton hier ansässig ist?“
Ja, das konnte sie durchaus. Sonias Blick löste sich von Miltens Zuhause und wanderte zu der Frau. Sie setzte einen freundlichen Blick auf und konzentriert sich.
„Guten Tag, Milten ist ein Stammkunde von mir. Er ist erst vor Kurzem umgezogen. Steigen Sie ein, ich habe gleich Feierabend. Ich bringe Sie hin.“
„Das ist aber freundlich“, sagte Beth und setzte sich auf den Rücksitz. „Leider ist Milten nirgends gemeldet und ich soll ihm einen Brief zustellen. Bei der Postverwaltung hat man mich hierhergeschickt. Aber sein Name steht nicht an den Briefkästen. Es handelt sich um ein äußerst wichtiges Schreiben. Eine Einladung.“
„Tatsächlich?“, sagte Sonia. Die Frau war ja ziemlich gesprächsbereit. Wie interessant, dieses Schreiben würde sie sich mal genauer ansehen.
„Was genau machen Sie denn in diesem Verlag?“
„Ich betreue einen unserer berühmtesten Klienten, Florian C. Booktian, kennen Sie ihn?“
Sonia wäre beinahe vor Schreck auf die Bremse getreten. Natürlich kannte sie diesen Bastard. Hätte der keine Bücher geschrieben, wäre sie heute erfolgreich als Autorin tätig.
„Wohin genau fahren wir eigentlich?“
„Wissen Sie was, Beth? Ich bin mir noch nicht sicher. Aber eins kann ich Ihnen versprechen. Wo immer ich als Nächstes anhalte, ist Endstation.“
Sonias zog eine Beretta aus dem Handschuhfach und richtete sie auf Beth. Der Blick der Frau gefror.
„Was haben Sie mit mir ... vor?“, würgte sie stückchenweise hervor.
Sonia trat das Gaspedal durch und das gelbe Taxi raste davon. Die Einladung sollte ihr Ziel später noch erreichen. Natürlich mit einem kleinen Umweg und mit ein paar kleinen Sprenkeln: Beths Blut.