Читать книгу Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian - Florian C. Booktian - Страница 5

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Sonia Kealy war gleichermaßen wütend wie enttäuscht und der Nächtbeste, der ihr über den Weg lief, würde all ihre Frustration zu spüren bekommen. Irgendjemand lief Gefahr, einen katastrophalen und letzten Tag zu erleben. Sonia musste ihn nur noch finden.

Seit mehreren Stunden fuhr sie durch die Gegend. Die Person, die sie eigentlich ins Visier nehmen wollte, wurde ihr verwehrt. Jemand, der über ihr stand, hatte ein Machtwort gesprochen und dagegen würde sich Sonia nicht erheben. Also musste jemand anders herhalten und diesen jemand suchte Sonia gerade. Sie fand, dass daran nichts Ungewöhnliches war. Viele Menschen fuhren den ganzen Tag auf der Suche nach Befriedigung umher. In Sonias Fall galt diese Sehnsucht einem Leben und ihre Befriedigung bestand darin, es zu nehmen. Für sie, die mit Film, Fernsehen und Musik nichts anfangen konnte, waren Bücher die einzige Faszination. Ein gutes Buch blieb für sie immer etwas Besonderes, denn eine außergewöhnliche Geschichte musste auf ihre ganz eigene Art komplex und einzigartig sein.

Sonia Kealy war auf ihre ganz eigene Art außergewöhnlich. Mord und Totschlag gehörten nicht etwa zu ihrem Alltag, sie war weder darauf aus, Unschuldige zu töten, noch so viele wie möglich umzubringen. Sonia hatte einen guten Grund, warum sie so handelte, wie sie es tat. Und jeder, der durch ihre Hand starb, hatte ihr irgendwann einen dieser Gründe gegeben. Mit Sicherheit hatte nicht jeder davon den Tod verdient, aber wenn Gerechtigkeit beim Sterben eine Rolle spielen würde, wäre die Welt ein andere.

Gerade eben machte Sonia einen Spaziergang. Es war Freitagabend und sie war auf der Suche nach einer Buchhandlung. Immer noch in Rage, dass sie von ihrem eigentlichen Opfer abgebracht wurde.

Jeder, der ihr begegnete wurde einem prüfenden Blick unterzogen. Der Abend war nur dann erfolgreich, wenn sie ein gutes Buch fand und einen Fremden, den sie überwältigen konnte. Vielleicht würde sie ihm dann wie einem Ventil den Kopf abschlagen, damit sie ihren Druck ablassen konnte.

Vielleicht würde sie sich auch nur mit ihm unterhalten, um herauszufinden, was ihm am Herzen lag, damit sie es ihm wegnehmen konnte. Das Leid anderer verschaffte ihr derartige Genugtuung, wie es sonst nur eine gute Geschichte konnte. Und gute Geschichten waren rar geworden. Erst recht, wenn man wie Sonia aufgehört hatte, regelmäßig zu lesen.

Ein großer Mann passierte ihre Rechte, was war mit ihm? Viel zu aufwendig. Was sie suchte, war mehr ein Snack, jemanden, den sie ohne große Anstrengung in ihr Taxi zerren und davonschaffen konnte. Sie ließ den großen Mann in Frieden. Er verschwand hinter ihr, wurde Teil der Vergangenheit. Sie sah ihn nie wieder.

Sonia blieb vor dem Schaufenster einer Buchhandlung stehen und betrachtete die Auslage. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken durcheinanderzubringen. Zu viel Ordnung im Kopf führte nur zu dummen Ideen für ungelöste Probleme.

Ganz links, neben Büchern mit endlosen Landschaften auf dem Covern stand eine Reihe von Büchern, die alle den gleichen Titel trugen. Darüber hing ein Schild und es hielt für jeden Kunden dieselbe Botschaft bereit: Der neue Booktian! Spannung bis zur letzten Seite, das verspreche ich Ihnen. Daneben war ein Bild des Autors abgedruckt, der freundlich lächelte und mit ausgestreckter Hand seine Bücher anpries. Am Bauch des Autors war sein Bruder angewachsen.

Jedes Exemplar dieser Daseinsform, ein Vielschreiberling, hatte ein Geschwister an seinem Bauch. Eine friedliche Symbiose, das Geschenk, niemals allein zu sein. In manchen Fällen aber auch der Fluch, den Erzfeind immer mit sich herumzutragen. Sonias Blick bohrte sich in den Pappaufsteller des Autors. Ihre Gesichtszüge verfinsterten sich. Florian C. Booktian, genau der Vielschreiberling, der an der Spitze ihrer Liste stand. Der produktivste Autor des ganzen Planeten. Er war verantwortlich für ihren Unfall und damit verantwortlich für den Verlust ihrer Kreativität.

Sonia hatte ein Geschwister im Bauch: Emilia. Momentan schlief ihr Bäuchling, so hatte dieser doch heute die letzten sechs Stunden bei der Arbeit übernommen. Dafür war Sonia noch fit und voller Tatendrang. Sie grübelte. Warum nicht ein Buch von genau dem Mann lesen, den sie irgendwann umbringen wollte? Vielleicht gab er ihr sogar irgendwelche nützlichen Informationen mit auf den Weg. Die Unterhaltung besteht aus dem Konflikt. So hatte man es ihr beigebracht. Eines der wenigen Dinge, an die sie sich noch erinnerte. Geschrieben hatte sie schon seit Jahren nicht mehr.

Sie betrat den Laden. Auf einem großen Holztisch lagerten exklusiv nur die Werke des erfolgreichsten Autors von ganz Gnaa: Booktian. Sonia nahm eines der Bücher mit dem Titel „Amaranthfarbene Sonntage“. Das Buch rasch umgedreht überflog sie den Klappentext, worunter verschiedene Zeitungen nebst Literaturkritikern die Einzigartigkeit des Werkes beschworen. Sie wiesen immer wieder auf den unvergleichbaren Stil des Autors hin, der es in seinem neusten Werk geschafft hatte, für mehrere Kapitel komplett ohne das Wort „und“ auszukommen. Sonia schmunzelte.

Diesem Buch wollte sie eine Chance geben. Fünfhundertzwanzig Seiten sollten reichen, um sie für ein paar Stunden davon abzuhalten, an all diejenigen zu denken, die noch da draußen waren. Schuldig und lebendig.

Sie ging an die Kasse, bezahlte das Buch und gönnte sich noch gleich ein neues Lesezeichen. Ihr Blick fiel auf die Kassiererin, eine kleine zierliche Frau. Sonias Gesichtszüge verfinsterten sich, ihre gespielte Freundlichkeit wechselte zu einer ausdruckslosen Starre. Die Frau war perfekt, oder? Zierlich und ohne viel Muskelmasse. Der Zeige- und Mittelfinger an ihrer rechten Hand waren von Nikotin vergilbt. Sie könnte bezahlen und vor dem Laden warten, bis die Kassiererin Feierabend hatte. Dort würde sie ihr auflauern, freundlich um eine Zigarette bitten und ihr beim Suchen in der Handtasche eins mit dem Schlagstock überziehen.

„Vielen Dank für Ihren Einkauf.“ Die Kassiererin stopfte zwei Bücher in die Tragetasche und reichte sie Sonia. Die registrierte das Gratisexemplar gar nicht, das man ihr gerade untergejubelt hatte.

Die ausdruckslose Starre verschwand, Sonias Lächeln kehrte zurück. Sie nahm die Tasche und verließ den Laden. Sie wollte nicht warten, es musste schnell gehen. Bis Ladenschluss waren es noch mehr als fünf lange Stunden. Sie schaute über die Straße. Ein kleiner Mann lief in einem Mantel den Gehweg hinab. Hinter ihm tauchte eine durchsichtige Sonia auf. Eine gespenstische Kopie. Sonia und nur Sonia fiel auf, dass die gespensterhafte Kopie gekonnt ein dünnes Filetiermesser aus ihrem Mantelärmel schnellen ließ, genau im richtigen Augenblick. Sie prallte mit dem dicken Mann zusammen, das Messer bohrte sich tief in sein Fleisch, sie entschuldigte sich und lief weiter.

Der Mann jedoch fasste sich an den Bauch und ging mit blutverschmierten Händen zu Boden. Niemand schien ihm irgendwelche Beachtung zu schenken. Sonia schaute nach rechts. Eine alte Frau wartete am Zebrastreifen, dass ihr jemand den Übergang ermöglichte. Eine halbdurchsichtige Sonia trat von hinten an sie heran und bot ihr an, sich einzuhaken. Die Dame lächelte und folgte Sonia in blindem Vertrauen auf die Straße. Ein Lkw raste ungebremst auf den Zebrastreifen zu. Die halbdurchsichtige Sonia blieb stehen, machte einen Schritt zurück und schleuderte das alte Frauchen vor den Lastwagen.

Das Gefühl der Unruhe wurde immer stärker. Sonia ergriff die Flucht vor ihren eigenen Mordfantasien und lief so lange die Straße hinunter, bis ihr die Beine schmerzten. Immer wieder erkannte sie neue Gelegenheiten. Ein gekonnt gestelltes Bein hier, ein Schubs in die richtige Richtung da. Sonia zog den Reißverschluss ihres Mantels zu und beschloss, zu ihrem Wagen zurückzukehren. Die Versuchung war überall. Da hörte sie eine Stimme aus einer dunklen Nebenstraße. Nicht mehr als ein leises Wimmern, aber es erregte ihre Aufmerksamkeit. Mit ihren Büchern fest unter dem Arm lief sie vorsichtig zum Eingang der Nebenstraße, die nicht sonderlich vertrauenswürdig erschien. Hier liefen alle die Hintertüren von Geschäften zusammen, deren Praktiken mehr als zweifelhaft waren. Kneipen, die schon mehr Spelunken als gepflegte Wasserlöcher waren, Restaurants, in denen seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen, aber trotzdem regelmäßig Geschäfte abgewickelt wurden.

Irgendjemand saß alleine in genau dieser Nebenstraße und weinte. Vielleicht ein Kind, das sich verlaufen hatte, oder einfach nur jemand, der Sonias Hilfe brauchte? Was für ein Geschenk des Zufalls. Sie musste nachsehen. Sie musste einfach. Sonia lief in die Nebenstraße und fand eine Frau, die hinter einer Mülltonne kauerte. Sie trug einen verdreckten pinken Hosenanzug. Ihr Gesicht war verheult und an einem ihrer hohen Schuhe fehlte der Absatz.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Sonia.

„Nein. Nichts ist in Ordnung“, sagte die Frau. „Ich habe kein Zuhause mehr und bin halb verhungert. Niemand will mir helfen und mir ist kalt.“ Die Frau wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute zu Sonia auf.

Sonia lächelte. „Ich habe ein Zuhause und jede Menge zu essen. Und ein gutes Buch!“, sagte sie und hielt ihr den Booktian zum Beweis vor die Nase.

„Das freut mich für Sie“, sagte die Frau und lächelte flüchtig aus ihrem verheulten Gesicht.

„Mein Name ist Sonia. Wie heißt du?“

„Vanessa, Vanessa May.“

„Hallo Vanessa, möchtest du mit mir nach Hause kommen und etwas essen?“

Sonia konnte erkennen, wie die Frau zögerte. Vanessa Mays Zweifel waren mehr als angebracht, vor ihr stand ihr Peiniger. Eine Frau, die sie nur noch weiter ins Unglück führen würde. Aber ein Lächeln und etwas Zuwendung im richtigen Augenblick täuschten über vieles hinweg. Vanessa griff nach Sonias Hand und stand auf. „Normalerweise würde ich so etwas nicht annehmen, aber mir fällt einfach nichts mehr ein. Macht es auch keine Umstände?“

„Aber nein“, sagte Sonia und lächelte. „Folge mir, wir gehen zu meinem Wagen.“ Sonia lief davon und drehte sich nicht ein einziges Mal nach der Frau um, die sie nur gerettet hatte, um über ihr Verderben zu bestimmen.

Vanessa folgte ihr stumm und die Zweifel an ihrem Retter wuchsen von einem Samen zu einem Sprössling. Als sie an ihrem Auto angekommen waren, öffnete Sonia die Tür zur Rückbank, um Vanessa einsteigen zu lassen.

„Nach hinten?“

„Ja, bitte.“

Vanessa stieg in den Wagen. Sonia nahm auf dem Fahrersitz Platz und steckte den Schlüssel in die Zündung. Dann drückte sie einen kleinen Knopf an der Mittelkonsole und alle Schlösser verriegelten sich. „Kein Grund zur Sorge, das ist die Macht der Gewohnheit. Man kann nie wissen, wer einem in dieser Welt dort draußen Schaden zufügen will.“ Sie tippte mit der Fingerspitze gegen die Scheibe. „Dann wieder“, fuhr Sonia fort, „weiß man auch nicht, mit welchem Übel man sich gerade eingesperrt hat.“ Ihre Stimme klang seicht und kalt. Sie schien ihre Worte nicht an Vanessa zu richten, vielmehr redete sie mit sich selbst.

Vanessa May rutschte unruhig auf der Rückbank umher. Im Rücksitz steckten diverse Zeitungen und Zeitschriften, unter dem Sitz lugte etwas hervor und glitzerte im schwachen Licht der Deckenbeleuchtung. Ein Ring.

„Hey, es sieht aus, als hätte jemand Schmuck verloren“, sagte Vanessa und hob den Ring auf. Sofort ließ sie ihn wieder fallen. Der Ring steckte auf einem Finger. Sie krallte sich in den Rücksitz.

Vanessa rüttelte an der Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Dann schrie sie, aber niemand konnte sie hören. Das Taxi parkte weit ab vom Fußgängerverkehr der Einkaufstraße.

Sonia blieb absolut ruhig.

„Was haben Sie mit mir vor?“, fragte Vanessa. Schweiß trat ihr auf die Stirn, die Angst legte ihren kalten Umhang über ihren Rücken.

„Das weiß ich noch nicht. Ist das nicht spannend? Aber es wird nicht lange dauern. Ich habe mir gerade ein neues Buch gekauft und ich kann es gar nicht mehr abwarten, es aufzuschlagen. Vielleicht müssen Sie sich unterordnen. Sehr wahrscheinlich sogar. Sagen Sie, Vanessa, haben Sie Angst vor dem Tod?“

„Ja“, wimmerte die Frau auf der Rückbank. „Aber ich war ihm schon näher, als Sie sich vorstellen können.“

„Tatsächlich? Na dann ist es ja, als würde man zwei alte Freunde wieder zusammenführen. Das Schlimmste am Tod ist die Ungewissheit. Das ist sie wirklich, die Ungewissheit“, wiederholte Sonia und startete den Wagen.

„Wer sind Sie?“

„Ich? Ich bin niemand. Aber du, Vanessa, du bist ein Geschenk. Und ich werde meinen Spaß mit dir haben. Oh ja, das werde ich.“

Keine Antwort. Ein Schluchzen. Vanessa hämmerte gegen die Fensterscheibe, doch die hielt stand, als wären es Gitterstäbe.

Sonia Kealy fuhr davon und mit ihr Vanessa.

Zwei Stunden später war deren pinker Hosenanzug rot getränkt.

Milten & Percy - Der Tod des Florian C. Booktian

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