Читать книгу Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger - Страница 13

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Meist endet das Training im Herbst, mit dem als Hauptlauf auserkorenen Marathon. Das Laufen bekommt dann eine andere Bedeutung: Es verliert an Dringlichkeit, Pointiertheit und Struktur. Es löst sich dabei nie ganz auf – es ändert bloß seinen Seinszustand.

Waldläufe in der Märkischen Schweiz, das Lichtspiel der Bäume, dunkelgraue Stämme auf dem Feldweg, das Schwirren und Klingen der Birkenblätter. Laufen auf Sandpfaden, blättergesäumte Weggabelungen, einladende Wanderschilder statt monotoner Runden im eng gewordenen Stadion. Ich laufe darüber hinweg, vermesse die Tiefe des Waldes. Es ist frühmorgens, die Sonne schlängelt sich durch die Baumreihen, kitzelt mir die Nase. Ich niese mit beiden Beinen in der Luft.

Wie laut der Wald ist, wenn man ihn lässt. Im Morast der Senke bleiben meine Füße kleben, es ploppt und platzt, wenn ich sie heraushebe. Einmal stolpere ich, weil der Körper den trägen Beinen davonprescht. Tschilpen die Vögel leiser oder lauter, wenn ich stehen bleibe? Sie interessieren sich kaum für mich. Immer wieder Wege, die an Hochsitzen, auf Lichtungen oder im Sumpfigen enden. Einmal laufe ich im Kreis, merke es erst, als ich schon mitten auf der zweiten Runde bin. Knittern und Knacken der Sandfichten. Orientierung am Sonnenstand, über bekannte und unbekannte Wege auf groben Pflastersteinen am Dorfbeginn; wie ausgespuckt.

Zwei Kraniche auf dem Weg vor mir, vertraut und stolz dicht nebeneinander. Als ich mich nähere, schnellen ihre Flügel breit zur Seite, beinahe stoßen sie sich: Absprung, Aufflattern, Segeln, Niederlassen. Hundert Meter weiter dasselbe. Sie gleiten zwischen den hohen Bäumen, ich laufe, ohne sie aus den Augen zu lassen; sie gleiten dahin, ohne mir davonzufliegen.

Auf dem fernen Feld fünf Tiere, die aussehen wie Alpakas, sich bewegen wie Füchse. Und doch müssen es Rehe sein.

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Den Winter im Rückspiegel, klirrend kalte Läufe durch New York. Harlem am Sonntagmorgen, Gospel und Jazzfrühstück; Familien, die eng zusammenstehen, bis zu den Kleinsten in Anzug und Kleidchen. Wandbilder, Branntweinhände, Menschen, die an dampfenden Gullys stehen. Das Leben findet auf der Straße statt. Die Kälte friert mir den Atem ein, brennt sich hindurch bis zur Lunge; Nasenluft, feine Kristalle am Oberlippenbart. Ich flüchte mich zum Aufwärmen in ein Bankgebäude, wo ich warme Aufnahme in die Gruppe der Wartenden finde.

„Damn cold, eh?“

Lauf zu den Innennähten Brooklyns. Auf den dunkelgelben, dickbereiften Schulbussen hebräische Schriftzeichen. Ich laufe auf den menschenleeren Straßen, Shabbat. Am späten Nachmittag treten die Ersten aus den Synagogen und Reihenhäusern, Männer in schwarzen Mänteln, mit dunkelbraun glänzenden Schtreimeln aus Zobelschweifen oder Grisfuchsfellen, die sie in leichter Beugung mit der linken Hand dem Wind zum Trotz festhalten. Ihre Schritte sind klar bemessen, das Ziel ihres Weges traditionell und rituell bedingt. Ich laufe, gegen den Wind, solange ich kann und suche mir dann eine Subway-Station.

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Während der Trainingspausen bewegen sich die Erinnerungen.

In Japan laufe ich am liebsten in der Dämmerung. Ich statte in Nara dem Daibutsu, dem großen Kosmischen Buddha, einen Besuch ab. Würde er sich in der um ihn herum gebauten Halle aufrichten, sicher stieße er sich den Kopf. Ob er die frische Luft vermisst? Ab und zu besuchen ihn Vögel, und die Nara-Hirsche schmiegen sich zahm an ihn, wärmen seinen Leib aus 450 Tonnen Kupfer.

Am Hokkedo-Tempel mache ich Treppenhüpfen, abwechselnd nehme ich jede Stufe und jede zweite Stufe mit, dann eine Schleife am Mannaoshi-Jizoson-Tempel entlang bis zur Bar am Scheitelpunkt. Ein Tanuki, ein Marderhund, steht dort auf zwei Beinen, hält mir auffordernd die Sake-Flasche hin, grüßt mich keck, zwei Finger am Strohhut.

Im Garten meines Hostels, einem traditionellen japanischen Haus, fließt das Wasser über stumme Steine. Ist es auf der Ebene angekommen, wird es über ein unsichtbares Rohr zurück zu den obersten Steinen gepumpt. Ein Kreislauf. Nach einiger Zeit des Schauens lerne ich, die Steine zu unterscheiden; vom Wasser verstehe ich nur, dass es fließt.

Abends schiebe ich die Shoji zu, die mit Papier bespannte japanische Schiebetür; matte Schatten, alles Äußere legt seine Deutlichkeit ab.

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Die Erinnerungen tragen nicht weit, man bricht ein mit ihnen auf dünnem Eis. Die Erinnerungsbänder müssen ständig neu belaufen werden.

Die Reiselust lässt nie lange auf sich warten, noch einmal verschiebe ich den Trainingseinstieg: Fernlauftour im Schwarzwald, über den Westweg. Zusammenstauchen der Wanderetappen, es läuft sich einfach: immer dem roten Quader auf den Holzschildern nach. Am ersten Tag 75 Kilometer, der Laufrucksack anschmiegsam, ein Schlafsack, Verpflegung und Dostojewskis Der Idiot – 900 Seiten Datscha-Gefühl, Spaziergänge und schleichender Wahnsinn. Brunnen und Waldquellen füllen mir die Wasserblase, der undurchlässige Fichtenwald bedrückt mich bis zu dem Gefühl, hier oben alles Lebendige zurückgelassen zu haben.

Als es dunkel wird, die Suche nach einem Schlafplatz, die dicht aneinandergerückten Nadelbäume, das unruhige Gehölz; es lädt mich nicht ein. Ich erreiche eine unbeleuchtete Herberge, verschlossen. Auf der Rückseite ein weiterer Eingang, ich trete ein, laufe über den Flur; hinter einer zweiten Tür höre ich einen Fernseher. Ich klopfe. Der Gastwirt, verärgert, mehr noch überrascht, nimmt sich meiner an. Er erklärt mir den Weg zu einer versteckten Hütte, unten am Karsee. Ich muss ihm versprechen, es niemandem zu verraten. Im letzten Licht des Tages komme ich an: Wie ein verloren gegangener schwarzer Knopf liegt der See da, unergründlich tief zwischen steilen Karwänden, die der Sonne nur den Mittagsbesuch gewähren. Die Hütte steht offen, weite Öffnungen für Tür und Fenster, deren Einbau nie beabsichtigt war; innen Seitenbänke aus fünf faustbreiten, runden Holzstäben, Spuren hinterlassende Druckpunkte auf dem müden Läuferkörper. Ich sitze am Tümpel und esse Pumpernickel und Räuchertofu.

Nachts läuft zweimal etwas Schweres über meinen Körper; ich schüttele es bloß ab, wische es weg wie einen Albtraum. Ich bin zu erschöpft, um schlecht zu schlafen. Später liege ich doch wach: Es kratzt und knarzt. Ich schalte meine Stirnlampe ein, schiele aus zusammengekniffenen Augen auf die fette Ratte in der Ecke der Hütte. Sie mümmelt an einem Taschentuch.

Ich versuche, die Ratte zu verscheuchen, aber sie bleibt; sie hat recht: Ich bin hier der Eindringling. Ich packe meine Sachen, esse noch im Dunkeln am Tümpel eine Portion kalter Haferflocken und mache mich im ersten Licht auf die zweite Tagestour des Westwegs; es ist dunstig.

Im Rhythmus des Laufens

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