Читать книгу Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger - Страница 8

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„You won’t return the same person.“ Lässig winkt mich der glatzköpfige Hostelangestellte heran, zwinkert mir zu, steht da in Kranichmusterkimono und Ledersandalen, aus denen blanke Zehen lugen. „Are you sure you want to do this?“

Ich zucke mit den Schultern, woher soll ich das wissen.

Er kramt kurz, reicht mir zwei Wanderstöcke, Quechua, Eigenmarke Decathlon. „Take these at least then.“

Wieder zucke ich mit den Schultern, nicke ihm zu, nehme die Stöcke und lege sie auf den Boden neben das Doppelstockbett. Lege sie zu meinen anderen Utensilien für die Besteigung: eine Packung Cranberries für die schnelle Kohlenhydratversorgung, eine salzige Nussmischung für Fette und Mineralien, eine Wasserflasche und die Plastikpackung Udon-Nudeln vom 7-Eleven um die Ecke für das Mittagessen auf dem Gipfel.

Der Wecker ist auf 4 Uhr gestellt. Um 23 Uhr lege ich mich in die untere Ebene des Doppelstockbetts. Obwohl ich allein im Achterzimmer bin, ziehe ich den am Bett über mir befestigten dunkelblauen Vorhang zu. Wie immer, wenn ich weiß, wenig Schlaf liegt vor mir, habe ich eine unruhige Nacht.

Am Morgen stecke ich mir Kopfhörer in die Ohren und höre einen Radiobeitrag vom Deutschlandfunk, den ich mir vor zwei Tagen heruntergeladen habe, als ich beschloss, von Tokyo aus zum Fuji zu reisen.

„Mögen unsere sechs Sinne gereinigt und möge das Wetter an diesem ehrenwerten Berg schön sein“, klingt es beschwörend aus dem Lautsprecherwagen, der die Prozession zur alljährlichen Gipfeleröffnung des Fuji anführt.

Ich frühstücke hastig, Toastbrot, Tofu und salzig eingelegte Ume-Früchte, schnappe meinen Rucksack, trete aus der Hosteltür. Ich blinzle, als ein frischer Windhauch mich berührt.

Der Morgen ist verheißungsvoll: Über dem erst matt beleuchteten Himmel sind kaum Schleier zu erkennen. Der Fuji steht fest, klar sichtbar. Dabei heißt es, der Fuji sei schüchtern, lieber bedecke er sein Gesicht hinter Dunst und Wolken. Folgt man dem Bild – der Fuji-san als empfindsames Wesen –, gibt er sich heute offenherzig. „Komm“, sagt er, „worauf wartest du?“

Das Wetter ist schön.

44 Kilometer, 3000 Meter aufwärts, 3000 Meter abwärts. Zahlen, die ich vor mich hin wiederhole, um ihre Bedeutung zu erfassen. Normalerweise begeht man den Fuji von hier aus in zwei Tagen, am ersten bis zu einer der Unterkünfte an den oberen Bergstationen, am zweiten die letzten Meter zum Gipfel und wieder bergab. Ich nehme mir nur diesen einen Tag, mein Reisegepäck lasse ich im Hostel liegen. Vor mir der lächelnde Berg, unverrückbar.

Ich mache die ersten Schritte. Bald schon merke ich: Auf zwei leichte, wie verflogene, folgt ein schwerer, hinkender. Etwas hängt noch an mir, bedrückt mich. Aus dem Alltag ist es mir bis an den Fuß des Fuji gefolgt: Die Arbeit an meiner Dissertation drückt auf meine Schultern; sie ist ein Ungeheuer, übergroß und wabernd, ich bekomme es nicht zu fassen; nicht zu zähmen, nicht abzuwerfen.

Es wird nicht leichter dadurch, dass ich es selbst gewählt habe. Motiviert hatte mich das Ziel, durch meine Forschung einen Unterschied zu machen. Doch auch nach Jahren Arbeit ist wenig konkret von diesem Unterschied zu merken. Mir ist mein Ziel abhandengekommen.

Im Wissenschaftsbetrieb fühle ich mich fehl am Platz, ich denke, spreche, fühle anders als meine Kolleginnen und Kollegen. Ich gehöre dort nicht hin. Das muss man mir nicht sagen, das spüre ich. Und dennoch komme ich nicht weg von all dem – ich wüsste nicht, wohin.

Wie soll ich ändern, wenn ich nicht weiß, zu was ich ändern soll?

Bewegen muss ich mich, in irgendeine Richtung muss ich gehen.

Die ersten Schritte gehe ich geduckt. Um mich die klare Luft des morgendlichen Bergortes Yamanashi.

Der Fuji liegt da, nah. Konkret und eindeutig hebt sich seine Bergspitze ab, das breite Plateau, das von hier unten den innenliegenden Krater nur vermuten lässt. Ich stehe auf dem Fußweg einer Stadtbrücke, links von mir die flachen Absperrpoller zur Schnellstraße, rechts ein dreigliedriges Geländer. Die Ampel leuchtet Grün auf die leere Straße; japanische Schriftzeichen, die Wege für andere weisen. Vor mir liegt als einzige Erhebung weit und breit, freistehend, der Vulkan. Davor nur ein paar Häuser, ein brauner Kastenwagen, ein Hund, der mich von seiner Hütte wie vom Thron anschaut, und eine Reihe an Strommasten, in gleichmäßigem Abstand. Ich zähle, 13 Kabel. So viel Energie.

Das Ziel liegt klar vor mir, ich muss nur darauf zugehen. Aufrechter nun, beschleunige ich meinen Schritt.

Immer besser gelaunt lasse ich die noch schlaftrunkene Kleinstadt hinter mir und setze die ersten Schritte in den Wald. Der Pfad, den ich betrete, stammt aus der Edo-Zeit, in der die Tokugawa-Shogune die Insel vom Rest der Welt abschotteten. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert war der Yoshidaguchi-Weg ein vielgenutzter Pilgerpfad.

Eine Allee führt mich zum roten Tor des Sengen-Schreins. Ein steinerner Junge mit platter Mütze, der mir wahlweise frech oder ermutigend zulächelt; meine Ausrüstung auf dem Boden zur ersten Pinkelpause.

Im Shinto-Glauben ist der Fuji ein heiliger Berg, Wohnort zahlreicher Gottheiten, über allen die Konohanasakuya-hime, „die wie Baumblüten herrlich-blühende Prinzessin“. Ihr Symbol ist die Kirschblüte, das Feinfühlige und Süße des Lebens. Es ist gut, dass sie hier ist, aufmerksam, dass sie die verschwitzten und verschmierten Wanderer empfängt.

Es gibt eine Glaubensgemeinschaft, die sich einzig der Anbetung des Fuji verschrieben hat, die Fujiko. Einmal im Jahr besteigen sie gemeinsam ihren Berg. Auf Saibokus, Holztafeln, schreiben sie ihre Wünsche auf, Gesundheit, beruflicher Erfolg, Liebesbeziehungen. Dann werfen sie die Tafeln in ein großes Feuer, aus dem das schnell brennende Holz in grauen Schwaden fortsteigt; die Pilger hinterher. Der Yoshidaguchi-Pfad ist gesäumt von Schreinen, die kontemplativ und nach festen Riten begangen werden.

Warum begibt sich jemand auf Pilgertour?

Reinigung. Läuterung. Hoffnung.

Loswerden, Annehmen, Wunsch zur Änderung.

Der Weg vor mir ist verwachsen, Blättergrün, unter dem ich mich wegbeuge, manchmal nur mühsam erkennbare Spur. Der Pfad scheint von der Zeit abgelöst, ausgetauscht durch moderne Moden. Die ab und zu auftauchenden bemoosten Steinfiguren und Torbögen verstärken den Eindruck. Es ist mein Glück: Die Einsamkeit und das Unwegsame werden für mich zum Wert, der mich in meiner Bewegung trägt.

Ich weiß sehr wohl: Über mir, in etwa 2300 Metern, warten Scharen an Wanderern, die bis zur Baumgrenze, der vierten Station, in Bussen hochgekarrt werden, über eine befestigte Straße; die das Loslaufen aussparen. Von dort schlängeln sie sich die Vulkanpfade hinauf, in Strömen. Eine andere Art von Energie, eine andere Art des Pilgerns. Mittlerweile hat mich hoher Wald verschluckt, zwischen 20 bis 30 Meter hochragenden Bäumen bin ich selbst noch keinen Meter in die Höhe gegangen.

Der Fuji-san hat viele Übersetzungen, „endloser Berg“, „reicher Krieger“, „Blume“, „Regenbogen“. Wie kann etwas, mit nur einem Wort bedacht, so viele unterschiedliche Namen haben?

Es heißt, die Aussprache japanischer Schriftzeichen wandelt sich, und mit ihr die Bedeutung der Zeichen. Es ist nur ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, dass sich mit der Bedeutung der Zeichen auch das Wesen des Bezeichneten ändert. Vielleicht entwickeln sich die Namen von etwas zu etwas anderem. Vielleicht haben sie nie etwas Konkretes gemeint. Vielleicht erscheinen sie dem Betrachter als Kippfigur, die spontan ihre Gestalt wechselt, werden zu einem „Mal so, mal so“.

Meine Haare schon nass von der hohen Luftfeuchtigkeit wird der Wald dichter. Er nimmt mich auf. Ein paar zaghafte Schritte, ein Schnuppern: der Geruch von japanischen Rotkiefern. Zuletzt ein kurzer Blick auf den Weg hinter mir. Dann laufe ich los. Laufe einfach los, Waldwege hinauf, enge Kurven entlang, über Wurzeln, unter Ästen, an wuchernden Sträuchern vorbei; meine Beine, die unentwegt durch die Luft schwingen. Es läuft sich gut.

Mischwald nun, mal heller, mal dunkler, eine Aussicht taucht vor mir auf, zwingt mich zum Stehenbleiben. Ich schaue hinunter, ohne zurückzuschauen – so gewunden sind die Wege, dass ich längst den geografischen Überblick verloren habe, nicht mehr weiß, wo ich gestartet bin. Wanderer begegnen mir, eine Kindergruppe, die wohl kaum heute zum Gipfel steigt; sie grüßen herzlich, „Konnichiwa“, mit leichter Verbeugung, auch ich, selbst in der Bewegung. Wir lassen die Zeit gegeneinander laufen: Die Beine bewegen sich voran, der Oberkörper beugt sich herüber.

Ich laufe einfach immer weiter.

Nach etwa vier Stunden erreiche ich die vierte Station – den größten Teil der horizontalen Wegstrecke habe ich geschafft, dazu 1500 Höhenmeter. Ich stehe nun auf 2300 Metern, warte auf den hinterherhinkenden Atem und schaue auf Menschen, die aus Bussen steigen, die sich in feinporiger Funktionskleidung aneinanderreihen; dicke Handschuhe, Selfies vor den ersten Wanderschildern. Für einen Moment werde ich Teil ihres wattegebauschten Aufbruchs. Wie Wattebäusche legen sich auch die Schleierwolken um uns, nicht unschön. Sanft stupsen sie uns auf das Wesentliche. Da geht’s lang.

Keine Sorge, das hatte ich nicht vergessen. Weiterlaufen.

Unterwegs begegne ich Kraxelnden, 60-, 70-, 80-jährig. Einmal im Leben auf den Fuji. Seit der Busstation tragen viele der Wanderer Sauerstoffgeräte, die aussehen wie auf den Rücken geschnallte Wasserkocher; auch Jüngere, die ihrer Ausdauer nicht trauen, eine Frau, die für eine andere die Sauerstoffflasche trägt, ein Schlauch, der von ihrem Rücken hinüber zum Mund der anderen reicht. Drumherum Kinder, die die Aufregung der Erwachsenen spüren, die mehr zu ihnen als hoch zum Gipfel schauen. Die Menschenmenge verdichtet sich auf dem schmalen Weg.

Die Japaner sagen: „Wer einmal auf den Berg Fuji steigt, ist weise. Wer ihn zweimal besteigt, ist ein Narr.“ Vielleicht ist es gut so, diese sprichwörtliche Reglementierung, vielleicht müssten sie sonst weitere Wege in den Vulkan hauen.

Die größten Schlangen sind am Fuji-san nachts zu erwarten: Der Sonnenaufgang vom Fuji betrachtet gilt als „legendär“, als „einmalig“. Ich stelle mir das vor wie in den Tempeln von Angkor Wat, in Machu Picchu oder an der Golden Gate Bridge: Du reckst den Kopf hinter den Menschenmassen und stimmst ein in das sich jeden Tag wiederholende kollektive „Ah“, einfach, weil du hier bist, weil du früh aufgestanden bist, weil du gelesen hast, wie besonders es ist. Hinterher beschreibst du es dann selbst als toll, weil du fürchtest, durch Zweifel deine Erfahrung zu schmälern. Vielleicht kommt daher die nebelumwundene Schüchternheit des Fuji – eine Provokation, eine Zumutung an das störungsfreie Erleben.

In der Schlange zu gehen, fühlt sich an wie Stillstehen. Mich hält es nicht lange in der artigen Reihe, auf die Stöcke gestützt, stoße ich mich ab vom Boden und an den anderen vorbei. In großen, breiten Schritten ziehe ich mich in Richtung Spitze.

Die Koordination der Körperteile klappt immer besser, auch hier, wo es vulkansteiniger, gerölliger und steiler wird. Mein Atem geht schwer, der Puls schnell; der Kopf schwirrt leise – doch das Dauerlächeln überzeichnet alles. Je schneller ich werde, umso stiller wird es. Ich rausche im Sinne des Berges.

Als ich die Wolkengrenze erreiche, entlädt sich mein Glück in Tränen. Es hinterlässt Schlieren auf meiner von Schweiß und Staub angebräunten Haut.

Der Fuji ist ein Anfang. Das ahne ich im Hochschwingen.

Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass ich laufe – aber Loslaufen ist anders als Laufen. Loslaufen ist Lustgewinn, der das Weiterlaufen zur Notwendigkeit macht.

Ich will mehr davon.

Der Weg schlängelt sich weiter den Gipfel empor. Nicht besonders schön, nicht besonders anspruchsvoll; dunkelbraunes Vulkangestein, straffe Seile als Halt und Grenze. Gerade der richtige Schwierigkeitsgrad. An den Hütten, die den Weg alle paar Hundert Meter aufwärts säumen, liegen kleine Plateaustücke. Ich halte nur kurz an. Zwischen Wasserkocherträgern balancierend schiebe ich mir abwechselnd Cranberries und Salznüsse in den Mund, aus halb vollen Händen, immer das, was mein Körper gerade braucht. Das spüre ich jetzt genau.

Nach sechseinhalb Stunden Wandern und Laufen erreiche ich den Gipfel. Natürlich erkenne ich ihn daran, dass keine Wege mehr höher führen, nur noch im Kreis. Aber sicher auch daran, dass direkt vor mir ein Kaffeeautomat steht, einfach so, am Rand des Vulkankraters; mit Kabeln, die im Nichts verschwinden.

Es ist gut so. Nach den Stunden anstrengender Besteigung habe ich tatsächlich unglaubliche Lust auf Kaffee. Woher wussten die das? Warmer Dampf steigt aus dem braunen Plastikbecher.

Die Toilette ist am äußeren Kraterrand gebaut, unmittelbar neben dem Weg. Die einzelnen Kabinen sind durch dünne Holzwände unterteilt und mit Stroh ausgelegt; zwischen Dach und Kabinenkante kann man ein Stück Himmel erkennen. Dreimal komme ich wieder, dreimal zahle ich brav bei der älteren Dame im Kassenhäuschen.

Es ist kalt und windig hier oben. Die modernen Pilger ziehen sich die nächste Schicht Funktionskleidung über.

Auch längst nachdem ich den Becher in einem der Mülleimer versenkt habe, lässt mich der Kaffeeautomat nicht los. Überall in Japan sind diese Maschinen zu finden, überall, wo auch nur ein wenig Vorstellung besteht, dass ein Mensch sich einmal an diesen Ort vorwagen könnte; überall. Die Vending Machines sind ein Symbol der Freiheit: Jeder kann sich so einen Automaten als eigene kleine Unternehmung anschaffen. In Tokyo sind allerdings mittlerweile wohl alle – bereits ständig erweiterten – Plätze belegt. Hier auf dem Fuji könnte ich mir noch zwei oder drei Örtchen vorstellen. Und sicherlich auch reges Interesse am typischen Sortiment, Elektrolytgetränke, Regencapes und Leberwurst-KitKats.

Wie wach ich bin, meine Beine tänzeln am Kraterrand, als wäre ich Drahtseilartist, und sie sind geübt in dem, was sie da tun. Ich verzichte auf eigentlich obligatorische Gipfelfotos, drehe eine Runde mit Blick abwechselnd auf das rot-schwarze Kratergestein mit den dazwischen schimmernden gelben Blüten und in die mir mittlerweile hoch gefolgten Wolken. Der Fuji-san bedeckt sein Gesicht, fast frigide; wo wir uns nun schon so gut kennen. Vielleicht will er Raum schaffen für die nächsten Ankommenden, vielleicht ist es Zeit für einen Abschied. So laufe ich den Berg wieder hinab.

Es gibt zwei Wege am Fuji, einen für den Aufstieg, einen für den Abstieg; Berührungen Entgegenkommender sind ausgeschlossen. Bei näherer Betrachtung ergibt auch die Wahl der Wege ästhetisch und psychologisch Sinn: der Aufstieg mit kürzeren Wegen und Wenden, steilerem Gefälle; einige Unwegsamkeit, Felsbrocken, so belassen, womöglich künstlich angereichert. Der Abstieg zwar länger, aber auf breitem Weg und mit geringem Gefälle: hochgradig unspektakulär. Er zeigt an: Du hast dein Abenteuer schon hinter dir, es geht nach Hause, in aller Gemütlichkeit.

Wäre man über diesen Pfad schon hinaufgestiegen, das Gipfelerlebnis wäre blass geblieben: zu gering die Herausforderung, zu wenig wäre die Besteigungslust entfacht.

Ich verweigere mich dieser Unterscheidung von Hin- und Rückweg. Ich beginne, bergab zu laufen, ich renne, bei jedem Schritt beide Füße für einen langen Moment in der Luft.

Die Stöcke, die beim Aufstieg meinen Körper stützten, mir Auftrieb und Tempo verliehen, schützen mich nun vor allzu hoher Geschwindigkeit und Kontrollverlust. In den Kurven ramme ich den äußeren Stock in die Erde und stoße mich seitlich zurück in die Bahn. Staub wirbelt auf. Es raschelt laut. Kleine Steinchen, die größere anstoßen, rollen meinen Füßen nebenher, der Klang aneinanderstoßender Hartkörper, ab und zu einer, der meinen Knöchel trifft. Kleine Kiesel fallen in den Abgrund; japanische Paare, die sich erschrocken wegducken.

Ich habe keine Angst vor Überschwang – ich will ja da runter.

Auf 2300 Metern verabschiede ich mich von den Massen, und mit der Nachmittagssonne geht es in den Wald. Ich rechne: Halte ich mein Tempo, schaffe ich es gerade vor Einbruch der Dunkelheit zurück in meine Bergkleinstadt.

Ein letzter Blick von oben auf die Baumwipfel. Woran erkennt man, dass etwas Neues beginnt?

Der Weg wird immer anstrengender, er zieht sich; Müdigkeit schlägt durch, das Auf und Ab, beinahe 3000 Meter rauf und runter; nicht spurlos, nicht spurlos. Ich löse mich auf: Ich kann meinen Sinnen nicht mehr trauen, es ist windstill, und alles bewegt sich im Wald, die Baumstämme beginnen zu wandern, unbekanntes Etwas zischt durch das Gebüsch. Meine Rezeptoren stehen unter Dauerfeuer, es dauert, bis die Verarbeitung gelingt, und ich denke, das kann ja gar nicht sein. In meinen Ohren herrscht Negativrauschen, hohler Nacheffekt der Höhe; ab und zu das Fiepen der Zikaden, deren Geburtsrufe auch ihre Todesschreie sind.

Vielleicht bewege nicht ich mich durch den Wald, sondern der Wald sich an mir vorbei, durch mich hindurch.

Gerade bricht die Dunkelheit an, als ich von hinten durch das rote Tor des Sengen-Schreins auf die Allee mit den hohen Bäumen trete; dahinter die flimmernde Kleinstadt mit ihren flachen beigen Häusern, den hellen Straßen und Stromleitungen. Mein Blick gewinnt an Festigkeit. Es ist nicht mehr weit.

Ich bin so erschöpft, dass ich nichts will. 44 Kilometer, 3000 Höhenmeter; zwölf Stunden unterwegs, beinahe ununterbrochen.

Als ich am Hostel ankomme, steht dort der Glatzköpfige auf der Türschwelle, die Arme in die Seiten seines Kimonos gestemmt. Aufmerksam schaut er mich an. Ich reiche ihm die Stöcke. Er nickt bloß. Zufrieden, wie mir scheinen will.

Ich habe keinen Hunger. Ich bin so erfüllt, dass ich nichts will. Ich lege mich in die untere Ebene des Doppelstockbetts. Es ist 19 Uhr.

Am nächsten Morgen sitze ich mit dem Glatzköpfigen am Frühstückstisch. Wir essen Reis mit Eiern und Natto, einer klebrigen Masse aus fermentierten Sojabohnen. Wir spülen nach mit pechschwarzem Kaffee.

Der Glatzköpfige schaut mich an, kneift ein Auge zusammen: „Running up mountains, eh. Must be exhausting. And kind of dangerous, I’d assume.“

Ich schüttle den Kopf, lächle ihm zu.

Was soll ich sagen, er weiß es ja schon.

Klar ist es gefährlich, sich zu ändern.

Ich sitze im Bus zurück nach Tokyo, spüre die Erschöpfung körperlich wie geistig. Die Leere ist angenehm.

Als ich vom Dach der Tokyo Busstation einen Blick auf den 150 Kilometer entfernten Gipfel des Fuji werfe, kommt es mir unglaublich vor: Unglaublich, dass ich einmal einer gewesen bin, der nicht dort oben war, der nicht spontan dort hinauf- und hinuntergelaufen ist.

Ich koste den stärker werdenden Muskelkater aus, ich habe ihn liebgewonnen, er bezeugt das Erreichte. Schief lächelnd kaufe ich mir im 7-Eleven auf dem schmalen Grünstreifen zwischen zwei verkehrsreichen Straßen eine Zwölferpackung Maki-Sushi. Ich esse den rohen Fisch zwischen Gedanken an den nächsten Lauf und Abgasdämpfen wartender Toyotas.

Im Rhythmus des Laufens

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