Читать книгу Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger - Страница 15
ОглавлениеRenn-steig. Renn-steig. Renn-steig.
Ich sitze im verwaisten Regionalexpress, drücke mir die Nase an der Scheibe platt, während ich die Silben wie magische Worte vor mich hin hauche: Beim „Renn“ sauge ich die Luft tief ein, beim „steig“ lasse ich sie langsam fahren; ein dunstig-milchiger Nebel beschlägt die Scheibe. Meine Pupillen ziehen mit den Landschaften hinter dem Fenster mit, im gleichförmigen Rhythmus eines Diaprojektors suchen sie da draußen Fixpunkte, um sich an ihnen Stück für Stück vorzuhangeln. Zarte, dunkel bewaldete Schluchten tauchen auf, alles dicht vor den Augen verschwimmend, erst die ferneren Bäume nehmen plastisch Figur an. Renn-steig. Da, irgendwo vor mir liegt er, verborgen im Dicht des Thüringer Waldes.
Der weiche Bahnsitz lädt zum Abschweifen ein. Ein Augenschließen, und schon bin ich Kind, sitze zu Hause im niedersächsischen Braunschweig am runden Esstisch aus dunkler Esche. Die Sonne scheint ungeniert durch die breiten Velux-Fenster, vorbei am zeitgegerbten Holz der Rahmen, fällt in Mosaiken auf die vertraute Kopie des Kandinsky-Bildes Jaune, Rouge, Bleu. Noch ungeduscht und in sportwarmem Jogginganzug berichte ich meinem Vater von den eben erlebten Bundesjugendspielen. Er schaut mich an; ein Lächeln huscht über sein Gesicht, die Wangen erwärmen sich daran, seine Augen, sie glimmen. Da ist etwas, eine belebende Erinnerung. Und dann folgt seine Geschichte vom Rennsteiglauf, die ich im Lauf der Jahre noch unzählige Male hören werde.
Sie handelt von einer knatternden „Schwalbe“, die sich Berge hochmüht, von viel zu viel Bieren am Vorabend, von Zu-spät-an-den-Start-Kommen; einer trotz allem noch zur Hälfte gerauchten Zigarette, einem Startritual. Sie handelt vom Überholen, Hunderte, für die der Vorbeilaufende kein Auge hat. Die Geschichte endet jedes Mal gleich: „(…) hatte ich vielleicht einen Muskelkater danach, oh, oh. Das musst du dir mal vorstellen: ohne Training. Aber irgendwie war’s klar, keine Frage, da läufste mit.“
Ich öffne die Augen. Die Orte streifen an mir vorbei wie vergehende Jahre. Ich reise nicht nur an einen Ort, ich reise in der Zeit. Reise mit der Geschichte.
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Auch wenn sie nicht läuft, kennt auch meine Mutter den Rennsteiglauf. Mit ihr bin ich am Nachmittag verabredet, ein gemeinsamer Ausflug wie früher. Obwohl wir beinahe ein Dreivierteljahr vor dem Lauf die Suche begonnen haben, gab es keine Unterkunft mehr in Oberhof, Schmiedefeld oder in einem der kleinen Rennsteigdörfer dazwischen, denen heute noch der Schiefer ein von anderen Mittelgebirgsgegenden unterscheidbares Aussehen verleiht. Das blaue Gold, dessen matter Schimmer auf Dächern in kaum befahrenen Gegenden wenig bewundert wird.
Nur in Ilmenau, in dem noch vor dem Ersten Weltkrieg Kurgäste – nicht selten dabei die Weimarer Prominenz – zwischen thüringischen Nadelwäldern, Bergbaubrüchen und Porzellanmanufakturen faulenzten, war online noch ein Schlafplatz verfügbar gewesen. Hier wird am nächsten Morgen ein Shuttlebus abfahren, der mich zum Startort bringt.
Ankunft in Ilmenau. Als der Zug vor meinen Augen ausfährt, stehe ich still in einem Gefühl der Verlassenheit; zwei Stunden zu verbringen bis zur vereinbarten Treffzeit, dabei große Anstrengungen vor dem morgigen Lauf vermeiden. Ohne Orientierung spaziere ich vom Bahnhof los, insgeheim auf der Suche nach mir Vertrautem: malerische Orte, wie ich sie von Besuchen in Weimar und Jena kenne, feudale Architektur, ein nettes Gartenhaus mit grünen Fensterläden, Büsten vergangener geistiger Größen. Oder das liebgewonnene Typikum südthüringischer Kleinstädte: aus den erdgeschössigen Fenstern lehnende, von weißen Häkelgardinen und blassrosa Orchideen umrankte Rentnerinnen, die dem Fremden mit sinistrem Blick folgen. So als wäre er die Fremde selbst.
Stattdessen finde ich: im Himmelsgrau eintönige Fassaden, herausragende Satellitenschüsseln, eine mittagsleere Stadt.
Ich gebe auf, akzeptiere das Unvertraute, setze mich auf eine öffentliche Bank und warte auf den Nachmittag.
Alle in meiner Familie haben rote Autos, das war schon immer so. Ich erkenne den roten Honda Civic meiner Mutter sofort, springe auf und hinein; kurzer Check-in in der Unterkunft, dann weiter zum Abholen der Startunterlagen nach Oberhof. Erstes Kribbeln in der Magenkuhle.
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Oberhof: Lotto Thüringen Arena, Biathlon, und das zum 20. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1969 eröffnete Panorama-Hotel, Sehnsuchtsort in Sprungschanzenform. Werbe- und Verkaufsstände, Intersport, TEAG, Thüringer Waldquell, Salomon, Läuferinnen und Läufer, die in ihren Sportinsignien, Laufschuhen und bedruckten Sportanzügen, schlendern, alle irgendetwas in der Hand, Starterbeutel, Bratwurst, Cola, so kraftsparend schlendern, dass man ihnen die Sportlichkeit kaum abnehmen will.
In mir wächst das Bedürfnis, mich aus diesem Massendruck zu entfernen. Ich spüre sie fast körperlich, die Boviscopophobie, „die Angst, als Herdentier angesehen zu werden“. Eine herausfordernde Phobie für einen Läufer. Ein Spaziergang im Wald als Erste-Hilfe-Maßnahme; barfuß über den Matsch, ab und zu kitzelt ein Kiesel.
Am Abend fahren wir zu unserer Unterkunft in Ilmenau: ein platter Bau, Garagen, die zu Ferienzimmern umgebaut wurden. Gegenüber ein Partyraum, den man mieten kann. Heute: Feier zum 50. Geburtstag, ein großes Plastikschild, „Geschlossene Gesellschaft“.
Die Zimmereinrichtung: hinter dem Bett Tapetenposter einer in der Savanne untergehenden Sonne, knallig rot-gelbe Bettdecken auf dünnen Schaumstoffmatratzen und Frotteelaken, auf den Regalen schwarze Giraffen in Groß und Klein, Krieger mit Speeren. Ein Schauer, der mir, Wirbel für Wirbel, den gebeugten Läuferrücken hinunterrinnt.
Beim Italiener in der Innenstadt üben sie sich in Improvisation: Weil der eigentliche Gastraum bereits gefüllt ist, sitzen wir auf Plastikstühlen im Flurbereich, passgenau gequetscht zwischen Eingangstür – dunkles Braun, zwei grobe Diamantkassetten, schwere Zwischenkämpfer und Wetterschenkel im TGL-Standard – und Treppe zur Anliegerwohnung. Die Unterseiten der Stufen verschwinden ins Unbekannte; ich stelle mir den unter Knarzschritten rieselnden Staub vor. Um uns kleine Grüppchen von Läufern, man erkennt einander an den Schuhen. Auf den Tischen der anderen Bier und Pizza, besonders beliebt Hawaii, Salami und Vier-Käse. Der Königsweg des Self-handicappings, der gekonnten Herbeiführung einer Ausrede für einen Leistungseinbruch am nächsten Tag: „Ihr habt ja gesehen, wie viel ich getrunken habe …“
Im Bett lese ich noch ein paar Einschlafseiten aus Max Frischs Tagebüchern. Ich finde Entspannung in den melancholischen Gedanken. Die Savanne glüht im hellen Leuchtstoffröhrenlicht. Nur langsam weicht das mulmige Gefühl, und der Herzschlag beruhigt sich.
Das alles soll das berühmte Rennsteiggefühl sein?
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Natürlich ist der Rennsteiglauf einzigartig. Es gibt wohl keinen weiteren Lauf, der neben einem eigenen Lied, „Ich bin ein lust’ger Wandersmann, so völlig unbeschwert“, und einer Hymne, „Hei, hei, hei, ho, der Rennsteiglauf. Hei, hei, hei, ho, wir sind gut drauf“, auch mit einem Walzer, „Doch bevor der Startschuss fällt, da singt die ganze Welt“, aufwarten kann. Rennsteiglauf, fester Termin im Jahreskalender singfreudiger Laufgruppen.
Nach zwei Jahren Testläufen wurde der Rennsteig 1973 zum ersten Mal auf annähernd offiziellen Pfaden belaufen, durch die vier Laufavantgardisten, Frischtluftfreunde und Orientierungsläufer, Hans-Georg Kremer, Hans-Joachim Römhild, Wolf-Dieter Wolfram und Jens Wötzel, alle vier damals an der Universität Jena. Der Weg bekannt – eben den Fernwanderweg Rennsteig entlang –, Länge, Dauer und konkreter Zielort ungewiss. Das heißt: Loslaufen und mal schauen, wie weit wir kommen.
Die mobile Verpflegungsstation damals, für ermüdete Entdecker: ein Wartburg, der im nahe liegenden VEB Automobilwerk Eisenach gefertigte Personenkraftwagen, den die Steigungen und Kurven ähnlich mühten wie die Läufer. Bei etwa 100 Kilometern Laufstrecke dann die gemeinsame Entscheidung der Läufer: Eigentlich reicht’s ja. Die Strecke war vermessen.
1975 gab es den ersten offiziellen Wettkampf, Taschenlampenstart um 1 Uhr nachts. Modifizierte lange Strecke, 50 Meilen, sprich 82 Kilometer: im Ziel 692 Männer, zehn Frauen. Kurze Strecke, 38 Kilometer: im Ziel 108 Frauen, ein Mann. Der Rennsteiglauf. Zunächst vom DDR-Sportverband nicht anerkannt, in der wachsenden Laufbewegung Weiterentwicklung zum Symbollauf, DDR-weites Kulturgut und Pilgerort der Hobbyläuferszene.
Ganz zeitgemäß ist der Rennsteiglauf heute, mit Angeboten für jeden: Lotto Thüringen-Supermarathon, 73,9 Kilometer, der Hauptlauf, der Mythos; Intersport-Marathon, 42,2 Kilometer, gelaufen; Intersport-Marathon, 42,2 Kilometer, gewalkt, gewandert; Thüringer Energie Halbmarathon, 21,2 Kilometer; Köstritzer Wanderung, 17 Kilometer; Thüringer Waldquell Nordic Walking Tour, 17 Kilometer; Bauerfeind Rennsteig-Junior-Cross und ein Wettbewerb „für Menschen mit geistiger und psychischer Erkrankung“. Der Rennsteiglauf. Vorzüglich platziert im Laufkalender: genügend Abstand nach den großen Frühlingsmarathons, noch ausreichend Zeit bis zu den aufreibenden Bergläufen des Sommers.
Damals wie heute Frischluftkur. Damals wie heute unter den Läufern die Vorfreude auf den Geschmacksvergleich der unterschiedlichen, meist magenverträglichen Haferschleime an den Verpflegungsstationen. Schon Monate vor dem Lauf herrscht reger Austausch in Online-Foren und sozialen Medien. Eindeutiger Konsens des letzten Jahres: der erste enttäuschend, der leicht rötliche am bekömmlichsten. Und dieses Jahr?
Als Teil der Startunterlagen erhalten die Läufer einen Gutschein für ein Köstritzer Bier nach dem Zieleinlauf.
Thüringische Foltermethode: Laufstart um 7:30 Uhr, Shuttle ab Ilmenau um 5:15 Uhr. Mein Wecker klingelt um 4:30 Uhr. Auf meinem Handy blinkt eine „Viel Glück“-WhatsApp-Nachricht von Lydia, die dieses Mal in Berlin geblieben ist. Ans gemeinsame Aufstehen gewöhnt, fehlt sie mir an diesem Morgen. Die Nachricht hat sie um 1:30 Uhr geschrieben, vor drei Stunden, als sie ins Bett gegangen ist. Wie fern unsere Welten in diesem Moment liegen.
Nach dem unfreiwilligen Miterleben des 50. Geburtstags – Chartmusik, ein paar DDR-Klassiker, Nina Hagen, Citys Am Fenster, trinkende, schwadronierende Menschen hinter dünnen Vorhängen, angestrahlt von Partyleuchtern und glimmenden Zigaretten – treffe ich in der Küche auf drei Sorben aus der Oberlausitz, die hier auf Montage sind. Man grüßt sich durch knappes Nicken. Kalte Dusche, Kaffee und dünn bestrichene Weizenbrötchen zum Mitnehmen. Nummer eins, Tomatenaufstrich, Nummer zwei, Honig. Los.
Etwa 90 bis 100 Gestalten der Dämmerung, nur das zarte Glühen gieriger Laufschuhe. Der erste Shuttlebus, die Ungeduldigen, darunter ich, drängen hinein, die Erfahrenen warten mit altklugen Sprüchen auf den nachfolgenden: „Es gibt genug Platz für alle.“
Gemütlicher Reisebus, das Uniforme der Funktionskleidung, gemeinsamer Zielort: Plötzlich bilden wir eine Reisegruppe, so etwas wie eine Gemeinschaft. Zu müde und ohne Alternativen, um meine Boviscopophobie auszuleben, ergebe ich mich in die Bustour als Teil einer Erfahrung, die weit größer ist als ich und meine Zeit.
Vereinzelt sehen wir eifrig winkende Läufer am Straßenrand, denen der Busfahrer durch einen nach hinten zeigenden Daumen cool verdeutlicht: Da kommt noch einer, nehmt doch einfach den. Die Läuferinnen und Läufer im Bus, die meisten zwischen 40 und 50, viele überausgerüstet für den Halbmarathon, für den wir uns angemeldet haben. Ich zähle neun Laufrucksäcke mit prallen Wasserblasen, die an die mit dünnem Stoff bezogenen Sitzschalen pressen, bei jedem Huckel lustig blubbern.
Manche Läufer haben die Augen geschlossen, andere tauschen Räuberpistolen der letzten Jahre aus, sprechen darüber, wer von den – anscheinend regional bekannten – Veteranen dieses Mal wieder mitläuft. Ein Typ muss so dringend pinkeln, dass er nach vorn stürmt und den Busfahrer bittet, anzuhalten. Das Murmeln der Läufer, als er aus dem Bus springt, kopfschüttelnde Blicke auf den nicht fern an einem Baum Lehnenden; Johlen, als er zurück in den Bus hüpft, erleichtert lächelnd, als hätte er nun das Schlimmste hinter sich. Beim Zurück-durch-die-Reihen-Gehen erhält er hier und da einen Schulterklopfer.
Während der Bus die Steigungen klettert, sich durch die Kurven schwingt, schält sich außerhalb des Fensters der Thüringer Wald aus der Dunkelheit. Die nahen Wiesen und Büsche dunkelgrün in der Dämmerung, die Hügel sanft, kontrastarm die Baumkronen im sich nach oben verengenden Halbrund. Über allem liegt ein Dunst, der sich mal in Schleiern an die Horizontgrenze hängt, mal sich verdichtet zu etwas ungreifbarem Schwerem, durch das nur hier und da ein alleinstehender Baum durchdringt. Ich beschwöre es nicht, doch das Wort „zauberhaft“ kommt mir in den Sinn. Märchenstimmung, das erste Mal Rennsteiggefühl.
Und wie.
Für einen Moment lehne ich mich hinein, in die Kurven, die Steigungen, in die nebelverdichtete Mystik des Thüringer Waldes.
Durch die Pinkelpause haben uns die nachfolgenden Busse überholt. Als plötzlich letzter Bus sammeln wir die Verspäteten ein, wodurch wir uns selbst verspäten: 45 Minuten vor dem Start biegen wir auf Oberhofs Betonwiese ein, das große Parkplatzareal zwischen Altstadt und Startgelände. Es ist keine Zeit mehr, sich in die jeweils 20 bis 30 Personen starken Dixi-Klo-Schlangen einzureihen. Ich suche mir ein Fleckchen am Waldesrand. Abprotzen, wie der Schriftsteller und Läufer Günter Herburger es liebevoll umschrieb und wie auch Lydia und ich es als Teil einer codierten Insidersprache verwenden.
Es geht nicht anders: Hinterher erweist mir das traditionsreiche Programmheft des Rennsteiglaufs großen Dienst.
Vor mir leuchten die gelben Posttüten, die Kleiderbeutel; im Pulk werde ich zum Start geschoben. Der Altersdurchschnitt hängt bei Mitte 40, hier und da ein jüngeres Gesicht. Frauen mit Kurzhaarfrisuren, die jüngeren mit Zopf und rötlichem Schimmer blass werdender Färbung. Tatsächlich sehe ich auch zwei mit Zigarette im Mundwinkel. Voranschieben der Versammlung, gemächlich wie ein verkaufsoffener Sonntag.
Dass es beim Rennsteiglauf weniger um eine ambitionierte Zielzeit als eine gesellschaftlich verordnete – und von den Krankenkassen begrüßte – Bewegungs- und Frischluftkur geht, wird unzweifelhaft vermittelt an den markigen Sprüchen auf einigen Läufershirts: „In der Ruhe liegt die Kraft – Rennsteiglauf, du wirst geschafft!“; sehr deutlich, und von zweifelhaftem Metrum: „Nicht die Zeit, die ich laufe, macht mir am meisten Spaß, sondern die Zeit, in der ich laufe!“; mein Favorit: „Runstig wie das wilde Schwein, muss ein Rennsteigläufer sein!“; und beinahe philosophisch: „Wir laufen, um zu leben, aber leben nicht, um zu laufen!“
Der Rennsteiglauf ist besonders. Den Rennsteig läuft man, weil es Vater, Mutter, Nachbarin, Kollege, Freundin auch schon getan haben. Den Rennsteig läuft man, um dabei zu sein, zu wissen, dass man dabei war, darüber zu sprechen. Für viele heißt Rennsteig: Loslaufen und Ankommen zugleich. Sie wollen ein Teil dieses Ganzen sein. Sie finden hier etwas, das sie sonst oft vergeblich suchen. Genau darum geht es.
Überraschend: Die Kleiderbeutel werden ungeordnet in fünf, sechs Postlieferwagen geschmissen, die am Anfang der Startblöcke bereitstehen.
Im Gehen tut sich eine Rechenaufgabe auf: Wie viele Freiwillige braucht es, um 10.000 Sportlerbeutel zu sortieren?
Der breite Weg am Waldrand ist durch rot-weißes Absperrband in Startblöcke unterteilt. Ein paar Helfer in leuchtenden Westen passen auf, dass sich jeder im zugeordneten Block, erkennbar durch die an der Brust befestigte Startnummer, einordnet. Der Weg nach vorn ist wie das Durchwandern eines Trainingsjahres: beinahe linear steigende Fitness der Teilnehmenden. Es wird ein wenig gedrängelt, der Startblock 1 auf der Startnummer ist wie ein VIP-Ausweis; Absperrband, das hochgehalten wird, neugierige Blicke.
Ich halte die Augen offen nach einem Bekannten von mir. Er startet trotz Muskelfaserriss, weil ihm in diesem Jahr die Ehre zukommt, im Jubiläumsclub der treuesten Rennsteigläufer zu starten. Die Traditionsläufer – ein Teil von ihnen ist hier schon vor 40 Jahren gelaufen – werden sich en bloc bewegen, „zusammen“ und „ankommen“ sind die Stichwörter ihrer Losung. Ein Altherrenclub um die letzten lebenden Gründerväter – der wahre Star des Rennsteiglaufs.
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Der Rennsteiglauf-Halbmarathon hat sein eigenes Ordnungssystem: Für einen der vorderen Startblöcke qualifizierst du dich nicht wie üblich über die in anderen Läufen erreichten Zeiten, du qualifizierst dich ausschließlich über in früheren Rennsteigläufen – genauer: innerhalb der letzten drei Jahre – erbrachte Leistungen. Das heißt, jemand, der den Rennsteig nicht schon mindestens einmal gelaufen ist, hat prinzipiell wenig Chancen auf den Sieg.
Du musst dich hier verdient machen, explizit hier, an keinem anderen Ort der Welt kannst du das.
Manchmal lernt man auf die harte Tour. Diskussionen und große Aufregung am Vortag bei der Startnummernausgabe. Ich hatte meine Schwester im Ohr, die zwei Jahre zuvor den Rennsteig gelaufen ist, gestartet aus Block 5: Kein Durchkommen, wo kein Bein ist, ist Wurzel. Am Info-Schalter zeige ich verzweifelt die Zeiten aus anderen Läufen vor, nervös, penetrant; letztlich auch unbarmherzig, die so festverwachsenen Regeln strapazierend. Als immer mehr Leute zu uns herüberschauen, willigt der Mann auf der anderen Seite des Schalters schließlich ein; wortlos tauscht er die Nummer meines Startblocks von 4 auf 1.
Die 45 Minuten seit Aussteigen aus dem Bus sind weniger schnell vergangen als befürchtet. Ich mache mich warm vor der Startlinie, wie immer der vorsichtige Gang um den Messteppich herum – wer weiß, ob der nicht doch schon scharf gestellt ist.
Aufgeregt sein, ein Ziehen durch den Solarplexus.
Antesten, die Gerade noch auf Beton runter, dann links in den Wald, noch vor dem Start ein erstes Erkunden des Streckenverlaufs. Grundsätzlich lasse ich mich von einer Laufstrecke gerne überraschen, entscheide mich gegen den zweifellosen Vorteil der Streckenkenntnis und für den Unterhaltungswert der Überraschung. Doch hier bin ich neugierig: Wann geht es denn in den Thüringer Wald? Ich meine, so richtig.
Mitten im Hopserlauf treffe ich Tom Thurley, einen Mittzwanziger aus Potsdam mit hohen Wangenknochen und freundlichem Lächeln. Ich kenne ihn aus der Berliner Laufszene und mache direkt einen Favoriten in ihm aus. Bin gespannt, wie er sich auf den Steigungen schlägt.
Bin gespannt, wie ich mich auf den Steigungen schlage.
Rechts geht sanft eine Wiese hinunter, eine Bobbahn, eine Holzhütte, aus der Musik dringt. Mit noch frischem Atem fange ich sie ein, die Vor-Lauf-Après-Ski-Atmosphäre.
Die Startaufstellung. Vor mir die Elite des Laufes: Ein paar Körper, die ich eben noch auf Lauffähigkeit abchecke, das linke Auge dabei zugedrückt, wie bei einem, der’s ganz genau wissen will. Es gibt wenig offensichtliche, konkrete Parameter. Die Dicke der Beinmuskeln, die Geschwindigkeit eines Warmmach-Spurts oder der angenommene Preis der Laufkleidung sind im Grunde Nicht- oder irreleitende Informationen. Oft sind die ausschlaggebenden Merkmale eher die Rundheit des Laufstils, das Selbstverständnis im Auftritt, die nach innen gerichtete Konzentration.
Ich sehe einige Jungspunde aus der Sportschule von Oberhof, Ski- und Bergbegeisterte, Jungs mit Kurzhaarfrisuren und glatten Waden, die Mädels mit geflochtenen Zöpfen.
Und dann ist es endlich so weit. Das Rennsteiglied ertönt, für viele der Höhepunkt des Erlebnisses: 10.000 Menschen, die schunkeln und singen. Sogar die in der ersten Reihe: Für einen Moment sind wir alle Thüringer.
Wir können nicht anders, klar wollen wir dazugehören.
Countdown und Startschuss durch Ministerpräsident Bodo Ramelow. Es knallt eine Sekunde zu früh: die Angst des Politikers, den richtigen Moment zu verpassen.
Bis in die letzten Reihen hallt da noch der Gesang nach, als würde der Körper auf den kommenden Kilometern nicht durch die Beine, sondern die Stimme bewegt.
„Ich wandre ja so gerne
am Rennsteig durch das Land,
den Beutel auf dem Rücken,
die Klampfe in der Hand.
Ich bin ein lust’ger Wandersmann,
so völlig unbeschwert.
Mein Lied erklingt durch Busch und Tann,
das jeder gerne hört.“
Die Meute kommt in Gang. Wirbelnde Beine vor mir, versuche ich ganz innen, waldseitig, durchzudringen. Die ersten 500 Meter halten die Laufschüler mit, dann wird deutlich, dass das gewählte Tempo für sie näher am Sprint als der Langstrecke ist; die Räder der Zukunft drehen noch ein wenig langsamer.
Vorn hält sich der spätere Sieger, Samson Tesfazghi Hayalu vom SV Sömmerda, noch bedeckt hinter dem tempomachenden Tom Thurley. Gemeinsam mit einem dritten Läufer setzen sie sich vom Feld ab. Ich sehe, wie sie Schritt für Schritt im Wald verschwinden. Meiner Kräfte unsicher halte ich mich mit einem gemäßigten Tempo zurück, bleibe heimelig verborgen in einer Gruppe unter den ersten 20. Ich bin froh, dass ich in den letzten Wochen wenigstens etwas habe trainieren können, wenn auch weit weniger, als ich geplant hatte. Schon die ersten Steigungen überraschen mich, der Puls ist noch nicht angekommen im Hochleistungsmodus, stottert haltlos einen zu schnellen Rhythmus, der Atem, der sich haspelnd darin verfängt. Der Kopf vergisst die Beschwerden des Körpers in dem Moment, als er merkt, dass wir uns, gemeinsam, Stück für Stück an die Vorderen saugen. Er prescht voraus. Dem Körper bleibt nichts, als sich den Erfordernissen anzupassen.
Insgesamt ist die Strecke – soweit habe ich mich doch informiert – ganz verträglich: etwa 282 Meter aufwärts, sogar 391 Meter abwärts. Luxus. Der höchste Punkt, Plänckners Aussicht auf 973 Metern, kurz vor der Hälfte. Ab dann quasi nur noch abwärtsrollen.
Es geht tiefer in den Wald, gemischtes Grün, dünne, diszipliniert aneinandergereihte Kiefern, hier und da aufgelockert durch eine Buche oder den hell gefleckten Saum einer Birke; Wanderer, die uns von einem benachbarten Weg zuklatschen. Nach circa fünf Kilometern fühle ich mich wohl im Rennen, nach zehn Kilometern habe ich mich, einen Läufer nach dem anderen passierend, an die Vorderen herangetastet. In einer Vierergruppe laufen wir jetzt ständig wechselnde Überholmanöver.
„Acht, neun, zehn“, zählt ein älterer Herr mit beigem Camperhut am Streckenrand und hält uns den erhobenen Daumen entgegen; kommt, weiter.
An der Verpflegungsstation greife ich zum Trinkbecher. Das Wasser schwappt, und mir bleibt nur ein Minischluck. Nach 20 Minuten hin und her setze ich mich von den drei Kameraden ab, mache die nächsten Meilensteine in Sichtdistanz aus. Der Weg ist nun kurviger, auch steiler und steinreicher. Meine schlanken Adidas Takumi Ren sind kompromisslos: Sie drücken und quetschen sich über Wurzeln, Matsch und Geröll, nie lange genug am Boden, um dem Fuß die manipulierende Erholung des Umknickens einzuräumen.
Nur noch fünf vor mir, drei davon uneinholbar enteilt. Ich fühle mich gut, frei, weder Druck noch Müdigkeit laufen mit, nur die Lust am Auf und Ab. Der Fünftplatzierte, ein kaum Volljähriger in rotem Shirt, rückt in Berührungsweite. Ich fühle mich schnell, schnell in einer Form, die nicht im Widerspruch zur Geduld steht: Es dauert, bis ich den rot Gekleideten überhole. Beinahe einen Kilometer hält er noch Schritt. Ich bin mir sicher: bloß das letzte Winden eines Geschlagenen.
Wichtig: bei all dem kein einziger Blick auf die Uhr. Rennsteigliche Zeitunabhängigkeit.
Es rollt gut bergab – schon vorbei am Vierten. Für einen Moment spüre ich bewusst den waldig-weichen Boden unter meinen Füßen. Ein paar Hundert Meter später ein Hecheln am Ohr. In einer Kurve drehe ich leicht den Kopf. Der schon Geschlagene im roten Shirt ist wieder da. Mann, was für ein entschlossener Blick; wir beide in Wahnsinnstempo, auch bergab kein Ausruhen, Beschleunigung. Ein sturer Kopf, der das Murren des Körpers missachtet. Klare Botschaft an die Beine: Hier geht’s um was.
Ohne dass wir es in diesem Moment bewusst reflektieren, folgen wir den Pfaden des Sportpädagogen und Mitbegründers des Turnens, Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Namenspatron des GutsMuths-Rennsteiglaufs. Körperliche Bildung, Wettkampfcharakter und der Blick in die umgebende Natur als Heilmittel gegen gesellschaftlichen Verfall. Guts-Muths selbst zeigte sich von Rousseau inspiriert, der das Spazierengehen in die Aufklärung brachte, der dadurch womöglich erst eine Aufklärung ermöglichte. Zumindest eine ganzheitlich gedachte und gesunde.
Nun also wir beide im Duell, drei vor uns, 10.000 hinter uns, alle in GutsMuthscher Tradition über Deutschlands ältesten und meistbegangenen Fernwanderweg.
„Gut Runst!“, würden wir hören, wenn wir dafür noch Ohren hätten, „Gut Runst“ grüßen sich traditionell die Rennsteigwanderer. Runst von rennen, wie Brunst von brennen und Kunst von kennen.
An der Kreuzung, an der wir in Richtung Schmiedefeld einbiegen, baumelt ein durchgelaufener Wanderschuh über einem Ast.
Ich schaffe es nicht, den Jungspund abzuschütteln. Lästig wie eine Wespe treibt er zur Eile: irgendwie reagieren. Schließlich wird sein Hecheln stabiler, dann höre ich es gar nicht mehr. Einen Kilometer vor dem Ziel zieht er an mir vorbei. Der sich langsam entfernende rote Tupfer, die beginnende Qual auf dem Doppelverbundpflaster, plötzlich härterer Tritt. Vereinzelt Rentner, die aus ihren Gärten schauen, endlich das Ankündigen der Erlösung: die mikrofonverzerrte Stimme des Zielsprechers, die aus irgendeiner Liste meinen Namen vorliest.
Der peitschende Applaus auf der Zielgeraden erzeugt ein Gefühl, das dem Gliederzucken und Muskelzwicken einen Sinn abringt; meine Mutter fiebernd unter ihrer Sonnenbrille, ich mit erhobenen Armen auf der Ziellinie.
Fünfter Platz beim Rennsteig-Halbmarathon; fast freundschaftliches Abklatschen mit dem, der eben noch mein Konkurrent war. Ein kaum 19-Jähriger, der mir auf dem letzten Kilometer noch viele Sekunden abgenommen hat.
Aufgeregt strahlt er mir entgegen: „Ich habe gedacht, du bist direkt hinter mir, das hat mich angetrieben wie der Teufel.“
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, schließlich gebe ich ihm als Älterer pflichtbewusst Tipps, wie er beim Abwärtslaufen noch schneller werden kann.
Erster wurde Samson, Zweiter Tom und Dritter Mike, ein Anfangfünfziger aus dem Harz, der mich im Jahr zuvor schon beim Havellauf geschlagen hat. Mike ist ehemaliger Marathon-Senioren-Europameister, auf seiner Homepage gibt er einen Körperfettanteil von 7,2 Prozent an.
Noch immer im abgesperrten Finisherbereich quatsche ich, die Hand voll mit Bananenscheibchen, über den Rennverlauf und sein gerade absolviertes Höhentraining in Kenia. Dann wird er weggerufen, zum Finisherfoto mit seiner teils thüringischen Familie. Ich hänge noch ein wenig im Zielbereich ab, eine offene, etwa 60 Quadratmeter große Fläche, die sich vorerst nur langsam füllt. Später wird hier kaum Platz zum Treten sein.
Es gibt Vita Cola, mit dem Extrakick Zitronensäure.
Ein kurzer Augenschlag, und ich lande in nostalgisch verbrachten Sommerurlauben an der Ostsee in den 1990er-Jahren, meine Eltern, die im Supermarktregal nach etwas greifen, das „anders ist“: kein Lebensmittel, sondern Lebensgefühl. Dennoch das alljährliche Resümee: Es schmeckt einfach nicht mehr wie früher.
Wieder im Hier mache ich mich auf in Richtung Ausgang. Beziehungsweise: Eingang.
Neben dem Zielbereich liegt das Festgelände. Und wenn beim Rennsteiglauf das gemeinsame Singen des Rennsteigliedes der erste eigentliche Höhepunkt ist, ist das gemeinsame Beisammensein, das Feiern im Anschluss, der nächste. Das Festgelände ist gut gefüllt, obwohl bisher erst ein paar Handvoll Läufer des Halbmarathons angekommen sind, noch keiner der anderen Disziplinen. Angehörige tummeln sich bei strahlendem Sonnenschein auf der Festwiese und an den Ständen. Jetzt schaue ich auf die Uhr. Es ist 9:55 Uhr.
Auf der anderen Seite des Zielareals befindet sich die Postwiese. Wie Adonisröschen recken sich die gelben Kleiderbeutel der Sonne zu. Ich wate durch ein Feuchtgebiet zu den noch die LKWs ausladenden Helfern; die Beutel liegen vor mir in Hunderterreihen.
90 Minuten. Das ist die Antwort auf die Rechenaufgabe vom frühen Morgen. Pfeifend wate ich zu meiner Mutter zurück, die etwas erhöht dasteht und fasziniert den Kopf samt Sonnenbrille schüttelt.
Wir klingen ein in den Volkstaumel. Entlang des Zielareals und der Festwiese führt ein dichter Gang mit Ständen. Lange bevor man den ersten der insgesamt vier Bratwurststände erblickt, liegt dunstig der Bratgeruch in der Luft. Original Thüringer, der hiesige Exportschlager schlechthin; authentisch verformt und auf großem Rost gegrillt, nur gedreht, nicht gehoben, alles händisch und handschuhfrei. Handwerk. Drückendes Dilemma für einen sich fleischlos Ernährenden. In der Vorstellung schwanke ich hin und her zwischen verurteilenden Blicken meiner Berliner Peergroup und dem verständnislosen Kopfschütteln meiner bewusstthüringischen Oma. Aus irgendeinem Grund läuft auch mein Trainer Egidijus mir in die Vorstellung, mit seiner stets diplomatischen Antwort: „Musst du selber wissen.“ Als Ausweg befrage ich meinen Körper, er ist es ja schließlich, der am meisten geschuftet hat: Was brauchst du denn eigentlich gerade? Die Antwort erfolgt als Magenknurren. Ich interpretiere das Orakel: eindeutig Eiweiß. Alles klar. Was gut für den Körper ist, ist gut für den Kopf. „So ist’s recht, mei Jung“, bilde ich mir die Stimme meiner Oma ein, im vertrauten südthüringischen Dialekt.
Die ersten Läufer mit dem Gratis-Köstritzer-Bier kommen uns entgegen.
Wir kommen vor dem Festzelt an. Noch verwaist, wird hier vom frühen Nachmittag an die größte Läuferparty des Jahres stattfinden. Für Außenstehende ein Mythos: Erfahrene Rennsteigfeierer berichten mit leuchtenden Augen von ausgelassener Stimmung und waghalsigen Beinschwüngen auf den Tischen. Geheimnisvoll nicken sie einander zu, sodass man meint, sie reden über die ersten Goa-Partys oder die Technopartys der 1990er-Jahre im Berliner Untergrund. Der Körper, kurz vorher noch bis an die Grenzen getrieben, spürt beim Eintritt ins Festzelt nichts mehr; will nichts, lässt bloß geschehen. Keine Spur von Schwere oder Ziehen in den Beinen, im Gegenteil, flüssiges Durchführen von Bewegungen, die bis dahin nicht mehr für möglich gehalten wurden. Alte Freunde treffen, neue Freunde, die beim nächsten Zusammentreffen schon alte Freunde sind: „Weil’s so schön war, ist doch klar, trifft man sich im nächsten Jahr.“
Rennsteigveteranen, Lebensgenossen: Wenn auch nicht gemeinsam, haben sie doch im jeweils Eigenen viel Gleiches erlebt. Dadurch bilden sich hier neue Bekanntschaften, die vom ersten Moment so sind, als würde man sich ein ganzes Leben kennen.
In einer verschämten Ecke des Zelts hole ich mir die ebenfalls im Starterpaket enthaltene Suppe ab. Dünne Brühe, lauwarm. Klar, wer nimmt auch schon Suppe, wenn es Bratwurst und Bier gibt.
Meine Mutter biegt ab und holt sich eine Waffel, nicht so eine belgische, dichte, sondern eine lockere, eine echte Ostblockwaffel; der süß-teigige Geruch zieht mir in die Nase, noch so ein Sommerurlaub-Heimatgefühl.
Lange Schlange am Zuckerwattestand daneben, lange Schlange am Köstritzer-Gratisbierstand. Ein Sammelsurium an Dialekten, dicht und durcheinander um die Feststände.
Wir warten auf die Siegerehrung, legen uns auf die Festwiese. Alle paar Minuten hole ich mir eine probiotische Joghurtprobe und beobachte die mehrmenschgroße Blasfigur aus beiger Plane, die dort hilflos verwachsen herumschlackert.
Aus dem Gras der Festwiese schauen glückliche, erschöpfte Gesichter, die nichts wollen, nichts brauchen. Ein wenig 1. Mai in unaufgeregt, friedlich. Es sind erstaunlich viele Menschen hier, die keine Sportklamotten tragen, aber ebenso glückliche und aufgeheizte Gesichter wie die eben Gelaufenen haben. Der Rennsteig ist nicht nur ein Lauf an einem besonderen Ort, er ist eine andere Zeit. Für einen Moment ist alles gut.
Die Siegerehrung ist wie bei den meisten Volksläufen von eher geringem Interesse: höfliches Applaudieren an der Bühne, ein viel zu hohes Podest, auf das ich als Studierendenmeister und Sieger meiner Altersklasse zweimal springe, ungeachtet der Verletzungsgefahr. Ehrungen für alle Altersklassen, weiblich, männlich. Die Zeremonie für den Halbmarathon dauert beinahe eine Stunde.
Wir verlassen den Festbereich, als der Stimmungspeak längst noch nicht erreicht ist. Durch Straßensperrungen und Umleitungen verzetteln wir uns zwischen Google Maps, Straßenatlas und Intuition; nur bedingt ein Ort für Ortsfremde. Einmal das Rennsteigfest verlassen, zurückgeworfen auf uns im Auto, plötzlich still, spüren wir eine eigenartige Spannung, die das eben Erlebte ins Traumnahe rückt; unwirklich, wie nie geschehen, dennoch Spuren hinterlassend: das Ende von etwas Wichtigem.
Wir fahren schweigend, jeder in eigenen Gedanken.
Der Rennsteig ist nicht nur ein Lauf an einem besonderen Ort, er ist eine andere Zeit. Für einen Moment ist alles gut.