Читать книгу Als der Bär am Zelt anklopfte - Florian Prüller - Страница 12

ALS WIR UNSERE LEKTION LERNTEN

Оглавление

Flo: Okay. Wir haben es anscheinend etwas übertrieben – alle Anzeichen sprechen dafür, auch wenn wir diese im derzeitigen Zustand nicht mehr richtig deuten können: Klaras Sinne sind nicht mehr fähig einzuordnen, ob sie sich auf oder neben der Piste befindet, während mir nicht mehr auffällt, dass ich gleichzeitig bremse und in die Pedale trete. Im trüben Licht der Mitternachtssonne streunen wir über das isländische Hochland, um die rettenden heißen Quellen des einzigen Camps weit und breit, Hveravellir, und vor allem das dringend benötigte Trinkwasser zu erreichen. In die missliche Lage haben wir uns wieder mal höchstpersönlich manövriert, da wir als vermeintliche Radreiseprofis keine genaue Routenplanung vorgenommen hatten (sehr schlau, ich weiß). „Schließlich sind wir sowieso nur zwei Wochen hier, was soll da schon großartig passieren?“, dachten wir hochnäsig. So fahren wir also von Abenteuerlust getrieben ein Stückchen in die Kjölur hinein, um zu schauen, wie so eine isländische Hochlandpiste aussieht. Mit ein bisschen weniger Luft in den Reifen, um etwas mehr Dämpfung zu erzeugen, so reden wir uns ein, würde das schon gehen – ein Stückchen zumindest und dann könnten wir ja jederzeit auch wieder umdrehen. So ignorieren wir unsere mickrigen Essensvorräte und die Tatsache, keine Ahnung über die Trinkwasserversorgung entlang der Route zu haben.

„Schön ist es hier schon“, stellen wir nach den ersten Kilometern steil bergauf und bei Nieselregen fest und negieren unsere Zweifel. Als wir zwei anderen Radfahrern begegnen, fragen wir sie etwas blauäugig, ob es auf dem Weg etwas zu essen gäbe und sich die Strecke tatsächlich lohnen würde. Die beiden sehen uns kritisch-irritiert an, doch davon lassen wir uns nicht einschüchtern. Das angepriesene Café, einige Kilometer entfernt, verleiht uns zusätzlichen Elan, zumindest psychisch. Denn rein aus physikalischen Gründen entspricht ein Tempo von 7 km/h hier schon fast Lichtgeschwindigkeit – und zwar bergauf und bergab (!). Schließlich ist die rutschige Wellblechpiste teilweise mit kopfgroßen Steinen und unzähligen Schlaglöchern ausgestattet.

Das Café, ein besonders niedliches aus weißen Holzlatten, gibt es zum Glück tatsächlich. Eine Oase inmitten wilder Natur, umgeben von reißenden Bächen, weiten Ebenen und den mächtigen Felsen des Langjökulls und des Hofsjökulls, zwei Bergmassive, deren Gletscher milchig graue Seen speisen. Und das Beste am Café: Wir erleben unsere fünf Minuten Ruhm! Wir fühlen uns wie Helden – zumindest für einen kurzen Moment. Dann nämlich, als eine Gruppe österreichischer Bustouristen zu uns stößt und uns, ob unserer – zugegebenermaßen noch nicht ganz vollbrachten Leistung – in den Himmel lobt. Ein mitgereister Hobbyjournalist interviewt uns sogar für seine Zeitung und notiert eifrig unsere Antworten. Anfangs ist uns der Rummel etwas peinlich, aber nach kurzer Zeit fühlt es sich nach den Strapazen doch recht angenehm an, so im Mittelpunkt zu stehen. Wir werden ganz überdreht und flicken vor den Augen unserer Bewunderer auch noch bestens gelaunt einen platten Reifen. „Alles kein Problem für uns!“, denken wir motiviert. Als sich die Gruppe dann verabschiedet, wird es still und wir sind wieder allein. Der Gegenwind ist nebensächlich, da wir die magische Schallmauer von 10 km/h ja sowieso nicht durchbrechen können. Schnell werden wir auf den harten Boden der Tatsachen zurückgeholt und wissen wieder, dass wir diese Reise sicher nicht für die Anerkennung anderer machen wollen, sondern nur für uns. Schließlich haben wir uns zu dieser Auszeit entschlossen, um viel Zeit draußen in der Natur genießen zu können.

Und diese Zeit brauchen wir auch dringend, um heute noch vor Mitternacht die heißen Quellen und den angrenzenden Campingplatz zu erreichen. Wir holpern weiter entlang der Hochlandpiste, über große Steine und durch tiefe Furten, ohne zu wissen, wann das Martyrium endlich ein Ende haben wird. Mehrmals sind wir knapp davor, für diesen Tag aufzugeben und das Zelt einfach im Nirgendwo aufzubauen, weil wir keine Kraft mehr haben. Als wir am Straßenrand unsere letzten Reserven verkochen, setzt nach einer kurzen Trockenphase auch noch starker Regen ein. Es ist kalt, es ist nass und wir fragen uns ernsthaft, was wir uns hier eingebrockt haben. Eigentlich reicht es uns jetzt endgültig, denn wir sind körperlich und nervlich fertig und können kaum noch klar denken. Doch uns bleibt keine Wahl: Das Wissen um die Wasserknappheit treibt uns voran. Und auch die Aussicht auf ein wärmendes Bad kann uns noch ein letztes Mal motivieren. Wir legen den Schalter im Kopf um, stellen auf Automatikmodus und wissen nicht mehr, was unser Körper eigentlich genau macht. So nehme ich auch die Vollkörperdusche eines durch eine riesige Pfütze vorbeifahrenden Geländewagens gelassen hin. Nach elf Stunden Anstrengung kostet mich das nur noch einen kurzen Seufzer (na ja, genug Kraft, um ihm den Mittelfinger zu zeigen, ist dann doch noch vorhanden).

Mittlerweile tut mir Klara schon leid. Für sie ist dieser Beginn der Reise ja noch viel anstrengender als für mich, schließlich haben wir ja eine etwas unterschiedliche sportliche Vergangenheit. Lief ich zuvor als semiprofessioneller Läufer an die 200 Kilometer wöchentlich, begnügte sich Klaras Training mit dem geradelten Arbeitsweg und sporadischen Laufeinheiten entlang der Donau. Wie sie die konditionelle Herausforderung während der ganzen Reise meistert, ist mir sowieso ein Rätsel. Zu Beginn frage ich mich des Öfteren, ob ich etwas falsch gemacht habe, da sie so locker mithält – wenn auch meist im Windschatten (diesen auszunutzen hat sie perfektioniert). Jetzt leidet sie aber und erste Tränen fließen. Ich merke, wie sie sich anstrengt und sich zusammenreißt – wie gerne würde ich ihr jetzt helfen und kann doch nichts für sie tun.

Endlich mache ich im seichten Licht die Silhouetten der dampfenden Quellen aus und versuche, sie damit zu trösten. Und tatsächlich: Mit etwas Verspätung (es ist jetzt ein Uhr nachts) erreichen wir den Campingplatz von Hveravellir. Die längsten und härtesten 70 Kilometer, die wir jemals gefahren sind, liegen hinter uns! Nach einem ausgiebigen Bad in den heißen Quellen fallen wir in einen komaähnlichen Tiefschlaf und hoffen unsere Lektion gelernt zu haben.


Der mächtige Gullfoss, eine der Hauptsehenswürdigkeiten Islands

Am nächsten Morgen müssen wir hurtig weiter, uns würde sonst das Essen ausgehen, denn weit und breit ist keine Siedlung zu sehen. Zudem treibt uns die Sturmwarnung eines Jeeptouristen voran. Die Straße ist nun etwas leichter befahrbar und der Rückenwind enorm. Der wirkliche Sturm beginnt zum Glück erst, als wir uns mit Nudeln im Zelt verbarrikadiert haben. In der Nacht fragen wir uns mehrmals, ob wir samt Zelt schon abgehoben haben. Die Straße wird tags darauf zunehmend besser, und als wir dann Asphalt unter unseren Rädern haben, ist die Welt wieder in Ordnung. Bei der anschließenden heißen Tasse Kaffee in einer Tankstelle ist sie sogar wieder perfekt und wir denken uns: „Ach, so schlimm war das Ganze doch eigentlich gar nicht. Irgendwie hat es sich sogar gelohnt, etwas chaotisch zu sein, denn hätten wir gewusst, was da auf uns zukommt, hätten wir dieses Abenteuer sicher nicht gewagt.“

Als der Bär am Zelt anklopfte

Подняться наверх