Читать книгу Lumen - Florian Schäfer - Страница 4

Kapitel 1

Оглавление

Sarah

Seit dem Unfall waren mittlerweile drei Monate vergangen. Sarah saß in ihrem Wohnzimmer, als die Sonne gerade unterging. Den Tag hatte sie bisher mit Netflix und einer Flasche Wein in ihrem Bett verbracht. Die Bäume vor dem Fenster ihrer Zweizimmerwohnung verloren mittlerweile die ersten Blätter. Nach einem viel zu kurzen Sommer schien es nun so, als würde erneut ein kalter Winter bevorstehen.

Dies kümmerte sie jedoch nicht, da sie sich seit drei Monaten in dem ersten richtigen Winter ihres Lebens befand.

Damals hatte sie innerhalb von Sekunden den ersten Menschen verloren, den sie wirklich geliebt hatte. Auch wenn ihre Beziehung zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr perfekt verlief, bedeutete Max ihr trotz allem unbeschreiblich viel.

Seine Beerdigung vor neun Wochen hatte im kleinen Kreis stattgefunden. Lediglich einige Familienmitglieder und gute Freunde waren eingeladen gewesen. Sie selbst hatte sich sehr bedeckt im Hintergrund gehalten, um unerwünschten Konversationen und Aufeinandertreffen aus dem Weg zu gehen. Ihre beiden Familien hatten sich nie sonderlich gut verstanden, was durch die stille Atmosphäre auf der Beerdigung jedoch kaum erkennbar gewesen war.

Seit dem Unfall traute sich Sarah kaum noch in die Öffentlichkeit. Ihre Einkäufe und Verpflichtungen erledigte sie zwar weiterhin selbst, jedoch trug sie meist eine Sonnenbrille oder Perücke, um nicht von Bekannten erkannt zu werden. Dadurch versuchte sie es zu vermeiden, erneut auf ihre Situation angesprochen zu werden. Der Kühlschrank wurde nur noch ab und an befüllt und den Haushalt erledigte sie nur, wenn es zwingend nötig war.

Wir leben in einer Welt, die fast ausschließlich aus vorgetäuschten Gefühlen besteht. Einige Freunde und Bekannte melden sich nur einmal im Jahr, weil sie durch Facebook an den Geburtstag erinnert werden. Soziale Kontakte werden meist nur noch auf Facebook oder Whatsapp geknüpft und Beziehungen bestehen immer mehr aus Messages und Touchscreen-Berührungen. Nach dem Tod gerät ein Mensch, wenn er nichts außergewöhnliches vollbracht hat, vermutlich in Vergessenheit, da jeder daraufhin seinen gewöhnlich stressigen Alltag weiterverfolgt und dadurch das Fehlen der Whatsapp-Nachrichten kaum auffallen wird.

Nach dem Unfall war sie in eine tiefe Depression verfallen und konnte seither keinen Sinn mehr in ihrem Leben erkennen.

Jeder Tag, den sie lebte, erinnerte sie an ihr eigenes Schicksal. Da sie durch den Unfall das Letzte verloren hatte, das ihr noch geblieben war, hatte sie dadurch auch jedes Ziel verloren, welches sie sich für ihren Lebensabschnitt gesetzt hatte.

Sie wollte die Beziehung verbessern indem sie versuchte, mehr mit Max zu unternehmen und die häufigen Streits in objektive ruhige Diskussionen umzuwandeln. Seit einiger Zeit hatten sie sich auch ein eigenes Haustier gewünscht.

Doch dies alles wird sich nun niemals erfüllen. Alle Träume zerplatzten an diesem Tag vor drei Monaten innerhalb von Sekunden. Ich hätte viel mehr dieser Dinge schon viel früher erledigen sollen.

Hätte ich diese Diskussion nicht begonnen, würde er wahrscheinlich noch leben. Warum konnte ich damit nicht einfach warten, bis wir unsere Wohnung erreicht hätten? Vielleicht wäre dann weiterhin alles beim Alten geblieben.

Sie war nun fünfundzwanzig Jahre alt und hatte in ihrem Leben zuvor nie einen Menschen kennengelernt, von dem sie sich so angezogen fühlte, dem sie so viel Vertrauen entgegenbrachte und der sie akzeptierte und kannte wie kein anderer sonst.

So muss sich Liebe anfühlen. Wenn es jemanden gibt, der Kontrolle über das Leben der Menschen hat, muss ich zuvor einen großen Fehler gemacht haben, damit man mir so etwas antut. Womit habe ich dieses Schicksal verdient? Warum wurde der Himmel nach dem Unfall plötzlich so blau? War das ein Zeichen?

Einer der hinzukommenden Passanten hatte damals sofort den Notruf gewählt, um Hilfe zu holen. Jedoch dauerte es einige Minuten, bis die Rettungskräfte vor Ort eingetroffen waren. Sofort hatten sie Max und Sarah aus dem Wagen gezogen.

Im Krankenhaus hatten die Ärzte Sarah erzählt, dass sie vor Ort bei ihr noch einen Puls hatten ausmachen können. Bei Max sei dies, auch nach einigen Reanimationsversuchen, leider nicht der Fall gewesen.

Mit dieser Nachricht war Sarah schon damals vollkommen überfordert gewesen. Jedoch hatte sie ihre Emotionen nicht nach außen lassen können, da sie dafür viel zu schwach gewesen war. Heute war ihr klar, wie stark ihr damals schon sehr geringes Selbstvertrauen dadurch gelitten hatte.

Aufgrund dieser Gefühle und dem Wunsch zu sterben, hatte sie sich vor einigen Wochen auf die Empfehlung ihrer besten Freundin Linn hin in Therapie begeben. Sie hatte zwar nie viel davon gehalten und war der Meinung, sie würde dadurch nur Geld verschwenden, jedoch hatte sie selbst keine bessere Idee finden können. Die ersten beiden Sitzungen hatten jedoch noch zu keinem Erfolg geführt.

Mittlerweile war die Sonne vollkommen untergegangen und Sarah legte sich schlafen.

Kurze Zeit später sah sie auf ihrem weißen Bettlaken eine schwarze Spinne, die sich in Richtung ihres Gesichts bewegte. Da Sarah durch die Nase nicht ausreichend Luft bekam, atmete sie auch nachts immer durch den Mund. So auch diesmal. Nur mit der einzigen Ausnahme, dass es ihr gerade nicht möglich war, den Mund zu schließen. Die Spinne kam ihren Lippen immer näher und hatte bereits den Speichelfleck vor Sarahs Mund auf dem Leintuch erreicht, wodurch sie bereits die winzigen Härchen am Körper des Achtbeiners ausmachen konnte.

Seit sie mit fünf Jahren der ersten Spinne hinter einem Wandschrank im Wohnzimmer ihrer Eltern begegnet war, hatte sie panische Angst vor diesen Tieren.

Noch hatten die langen Füße ihre zarten weichen Lippen nicht berührt, doch sie meinte bereits das Kitzeln zu spüren.

Nun stellte sie sich vor, wie die Spinne in wenigen Sekunden in ihren Mund krabbeln würde, über ihre Zunge direkt in den Hals. Wie die winzigen Härchen an ihrem Rachen entlangstreichen würden, als hätte sie ein winziges Haarknäuel in ihrem Mund, das langsam bis ganz nach hinten in den Rachenraum glitt.

Hilfe!

Sie versuchte zu schreien, brachte jedoch kein einziges Wort heraus.

Sie versuchte ihren ganzen Körper anzuspannen, um sich aus der Schlaflähmung zu befreien.

Vergeblich.

Und ich kann nicht einmal zubeißen.

Wenige Sekunden später schreckte sie endlich aus ihrem Albtraum auf.

Gott sei Dank.

Sie hatte regelmäßig solche Träume. Oft handelten diese von dem Unfall, doch manchmal waren es auch einfach nur abstruse Szenen wie diese, die es ihr schwer machten, eine Nacht durch zu schlafen.

Als sie versuchte erneut einzuschlafen, hörte sie plötzlich Geräusche in ihrer Wohnung. Die Geräusche hatte sie vor einigen Tagen bereits wahrgenommen, jedoch hatte sie diese bisher ignoriert. Heute nahm sie sich fest vor, deren Ursprung zu ermitteln und machte sich auf den Weg aus dem Bett in Richtung der Schlafzimmertür, aus deren Richtung die Geräusche zu kommen schienen.

Lumen

Подняться наверх