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Der Schock

Als wäre es gestern gewesen, höre ich das schrille Klingeln, das mich sechs Jahre später, am 18. Januar 2004, hochschrecken liess. Das Display meines Handys zeigte den Sonntagmorgen an. 06: 40 Uhr. Ich war sofort alarmiert. Torill, meine neue Partnerin blickte mich verschlafen an. Sekunden später stand ich im Wohnzimmer. Auf dem Display erschien die Nummer meines Onkels, dem jüngsten Bruder meines Vaters. Die Begrüssung fiel knapp aus, dann sprach er den Satz: «Dein Vater ist letzte Nacht gestorben.» Mir wurde schwarz vor Augen. Als ich mich wieder gefangen hatte, erfuhr ich, dass Vater in Saigon verstorben war, offenbar aufgrund eines Herzinfarkts. Mehr wusste Stefan nicht, er werde sich melden, sobald nähere Informationen bekannt seien. Für mich war diese Nachricht ein Schock und fast sofort breitete sich eine riesige Leere in mir aus. Ohne meinen Vater war das Leben nur schwer vorstellbar. Ich brauchte ihn. Er kannte mich besser als ich mich selbst, war der Einzige, der mich jederzeit knallhart auf Kurs brachte, besonders wenn ich nicht danach fragte. Gestorben. Er ruft nie mehr an und wenn ich seine Nummer wähle, dann hört er nichts, nimmt nicht ab, ist nie mehr erreichbar.

Die folgenden Stunden verschwanden in einem Nebel. Ich erinnere mich, wie ich von Zürich nach Bern fuhr. Die Familie oder was von ihr übrig geblieben war, wollte sich am Nachmittag treffen. Mein Onkel hatte mich gebeten, meiner 16-jährigen Halbschwester, mit der ich mich damals sehr gut verstand, die traurige Nachricht zu überbringen. Ich rief Sabrina* an. Sie war mit einer Freundin unterwegs. Ich bestand darauf, sie zu treffen. Jetzt. Sofort. Sie willigte ein, bereits besorgt, doch ich wollte ihr diese Nachricht nicht am Telefon übermitteln. Zur gleichen Zeit erschienen wir am vereinbarten Treffpunkt. Ich umarmte sie. 34-jährig hatte ich meinen besten Freund verloren. Sie mit sechzehn Jahren ihren ganzen Halt. Mit ihr hatte er vieles besser gemacht, war ihr ein guter Vater gewesen. Sie war noch so jung. Wir heulten gemeinsam: Am Sonntagmorgen an irgendeiner beschissenen Tramhaltestelle in Bern liessen wir unserer Verzweiflung freien Lauf.

Später erfuhren wir mehr über die letzten Stunden im Leben meines Vaters. In derselben Nacht hatte er seinen neuen Firmensitz in Vietnam eingeweiht. Ein Areal mit sechs riesigen Lagerhallen und einer über 22 000 Quadratmeter grossen Fläche für den logistischen Umschlag. Mit einem vierstöckigen Bürogebäude für die hundertzwanzig Angestellten der Administration und dreihundert Mitarbeitende, die in der Verpackung beschäftigt waren. Mit einem Vorplatz, so gross wie der Exerzierplatz einer Kaserne. Mit riesigen Gates für die Sattelschlepper mit den Schiffscontainern und mehreren Gebäuden für das Sicherheitspersonal. Dabei handelte es sich nur um das Hauptquartier. In den Fabriken ausserhalb Saigons arbeiteten Tausende von Mitarbeitern in den Produktionen. In der Hochsaison wurde in Saigon im Schichtbetrieb rund um die Uhr produziert, verpackt und in Schiffscontainer verladen, was in den ländlichen Hochöfen hergestellt worden war: Millionen von Blumentöpfen und andere Terrakotta-Ware, die nach USA, Frankreich, Deutschland und die Schweiz verschifft wurden.

Nur wenige Stunden vor seinem Tod wurde sein Lebenswerk eingeweiht. Mit einer gigantischen Zeremonie und ausufernden Festivitäten. Der Schweizer Botschafter und ranghohe Vertreter der vietnamesischen Lokalregierung waren mit von der Partie, Leute aus Politik und Wirtschaft und alle seine Freunde. 2004 galt diese Anlage als Meilenstein im Land, das den Aufbau so dringend benötigte. Dementsprechend ausgiebig wurden die Verdienste meines Vaters an diesem Abend gewürdigt. Seine damalige Freundin klagte über Kopfschmerzen. Eine andere Partnerin hätte am grossen Tag ihres Mannes vielleicht ein Aspirin geschluckt. Nicht so Huyen*. Sie verliess den Ort des Geschehens gegen 21.00 Uhr wütend. Mein Vater musste und wollte bleiben, alles andere wäre einem Affront gegenüber den Gästen gleichgekommen. Es wurde getrunken und gelacht, so wurde später erzählt. Er muss glücklich gewesen sein, ahnte nicht, dass böse Kräfte bereits wirkten, sein Tod beschlossene Sache war.

Die offizielle Version besagt, dass er den Anlass gegen 01.00 Uhr verliess. Gemäss den Aussagen seiner Freundin brach er eine halbe Stunde nach seiner Rückkehr in der Küche zusammen. Sie behauptete, ihn sofort reanimiert zu haben. Sie verständigte die Ambulanz, rief im Spital an, so behauptete Huyen und schlussendlich half ihr der Sicherheitsdienst des Wohnhauses dabei, meinen Vater in das beste Spital der Stadt zu transportieren. Dort konnte nur noch sein Tod festgestellt werden.

Mit dem Bestatter, der die Beerdigung in der Schweiz begleitete, führte ich ein Gespräch betreffend der Todesursache meines Vaters. Er eröffnete mir, dass eine rund sieben Zentimeter lange Schädelfraktur am Hinterkopf zu sehen gewesen sei. Diese Verletzung war halbwegs versorgt, als der Leichnam in die Schweiz gebracht worden war. Ich wurde hellhörig, befragte Huyen. Sie liess mich wissen, er habe sich diese Fraktur beim Sturz in der Küche zugezogen, da er mit dem Kopf auf den scharfen Kanten der Küchenabdeckung aufgeschlagen sei.

Eine Schädelfraktur am Hinterkopf sei bei einem Sturz aufgrund eines Herzinfarkts praktisch unmöglich, erläuterte hingegen ein Arzt, den ich daraufhin kontaktierte. Wenn jemand einen Herzinfarkt erleidet, klappt er normalerweise nach vorne, in sich zusammen, fällt dabei mit grösser Wahrscheinlichkeit auf die Knie und dann zu Boden. Wenn überhaupt, dann müsste die Verletzung im Stirnbereich sichtbar sein, wurde mir anhand einer komplexen Sturzberechnung mitgeteilt.

Nicht erst nach diesen Informationen überdachte ich einiges: Huyens Reaktionen und vieles, was sich zwischen dem Tod meines Vaters und der Kremation zugetragen hatte, erschien mir bereits vor der Einäscherung seltsam. Ihre komplett überzogene Trauer, die in einer hysterischen Aufführung endete, weil sie nicht von seinem Sarg weichen wollte, hatten wir mit kulturellen Unterschieden zu erklären versucht, doch nun erschien die Show-Einlage und weitere Verhaltensweisen in einem anderen Licht. Sie hatte ihn nach seinem Tod nicht aus den Augen gelassen, sass sogar im gleichen Flugzeug, das ihn in die Schweiz überführte, überwachte die Ankunft in Kloten akribisch und wich bis zur Einäscherung nicht von der Seite des Sargs. Mittlerweile machte alles Sinn. Sollte sie für seinen Tod verantwortlich oder mitverantwortlich sein, konnte sie nach der Kremation nie mehr zur Rechenschaft gezogen werden.

Meine Zweifel an ihrer Geschichte äusserte ich bereits früh. Ich war zu diesem Zeitpunkt verunsichert, durcheinander und der Gedanke mit der – in meinen Augen – Schuldigen am Tod meines Vaters an seinem Grab zu stehen, gab mir den Rest. Als ich einigen Verwandten gegenüber meine Zweifel äusserte, reagierten diese empört, glaubten mir nicht, hielten mich für einen Hobby-Kommissar, der sich wichtigmachen will. Die Diskussion endete mit bösen Worten, also schwieg ich. Kaum war Vater unter der Erde, bestieg Huyen den nächsten Flieger Richtung Vietnam. Sie war jetzt im Besitz von zwei Apartments im Wert von mehreren Millionen Dollar und viel Bargeld, die ihr mein Vater «hinterlassen» hatte.

Als ich ein halbes Jahr später in Vietnam ansässig wurde, um die Firma zu übernehmen, vergrösserte sich mein dortiger Bekanntenkreis schnell. Und: Immer mehr Hinweise und Informationen deuteten darauf hin, dass keine kranken Fantasien für mein Misstrauen verantwortlich gewesen sind. Von Menschen, denen ich vertraute und von denen ich wusste, dass sie meinen Vater sehr geschätzt und gut gekannt hatten, erfuhr ich: Bereits auf der Party bei der Einweihung des neuen Firmensitzes war es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Huyen und meinem Vater gekommen.

Ich erfuhr, dass sie zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Trennung standen, die Beziehung mehr als zerrüttet gewesen sei. An diesem Abend muss sie gespürt haben, dass sie bald ohne seine finanzielle Unterstützung über die Runden kommen musste. Sie verabschiedete sich frühzeitig.

Beat Wäfler, der ehemalige Schweizer Konsul in Vietnam, war ein guter Freund meines Vaters und wurde in Vietnam zu einem guten Freund von mir. Dank seiner Unterstützung und seiner unglaublichen Kontakte gelang es uns, die Geschehnisse jener Nacht zu rekonstruieren: Gemäss den Auswertungen der Handydaten meines Vaters kehrte er um 01.30 nach Hause zurück. Seine Freundin erwartete ihn und führte das heftige Eifersuchtsdrama, das in den frühen Abendstunden in Anwesenheit von Zeugen seinen Anfang genommen hatte, mit ziemlicher Sicherheit weiter.

Huyen liess uns und die Behörden wissen, sie habe nach seinem Zusammenbruch über eine Stunde lang versucht, einen Krankenwagen herbeizurufen. Allerdings: Weder von den verschiedenen Handys noch vom Festnetzanschluss im Penthouse wurde in einem Zeitraum von dreieinhalb Stunden ein Anruf getätigt. Erst um 04.30 Uhr morgens wurde gemäss den ausgewerteten Telefonaten versucht, einen Krankenwagen zu verständigen. Was war in dieser Zeit geschehen?

Wir kontaktierten das Krankenhaus. Tatsächlich war ein Obduktionsbericht erstellt worden. Doch dieser war nicht mehr auffindbar, als ich im Spital vorstellig wurde, um ihn einzusehen. Also stellten wir jenen Arzt, der die Obduktion durchgeführt hatte zur Rede. Zuerst verweigerte er die Auskunft, danach wollte er sich nicht mehr an meinen Vater erinnern. Wenn eine Vietnamesin zusammen mit einem Sicherheitsbeamten im Morgengrauen einen blutüberströmten, weissen Mann in die Notaufnahme einliefert, dürfte es sich um eine sehr seltene Situation handeln, die den anwesenden Ärzten im Gedächtnis bleibt.

Je dringlicher die Fragen wurden, desto stärker schien der verantwortliche Arzt unter einer Amnesie zu leiden. Heute weiss ich: In Vietnam hat alles ein Preisschild. Man kann alles, wirklich alles kaufen. Irgendwann gab uns die Klinikleitung zu verstehen, dass unangenehme Fragen unerwünscht seien und fortan wurde uns der Zutritt zum Krankenhaus verwehrt. Doch im Leben begegnet man sich immer zweimal: Als ich neu in der Stadt war, lud mich Huyen zum Essen ein. In jenes Penthouse, das sie nach dem Tod meines Vaters erhalten hatte. Er besass zwei Appartements in Saigon. Da es Ausländern verboten ist, in Vietnam Wohneigentum zu erwerben, geschieht dies normalerweise über einen Strohmann, respektive im Falle meines Vaters über eine Strohfrau, nämlich Huyen.

Sie hielt die beiden Wohnungen auf ihren Namen, auch wenn beide durch meinen Vater finanziert wurden. Beim Tod meines Vaters präsentierte sie Notizen, die belegen sollten, dass er ihr beide Wohnungen im Fall seines Ablebens schenken wollte. Heute sind diese beiden Immobilien rund drei Millionen Dollar wert. Der Tod meines Vaters hatte aus Huyen eine reiche Frau gemacht.

Ihrer Einladung folgte ich misstrauisch. In jene Wohnung zu treten, in der mein Vater starb, er seine letzten Minuten verbracht hatte, bereitete mir Herzschmerz. Aus irgendeiner für mich nicht nachvollziehbaren Motivation wollte mir Huyen an diesem Abend jenen Wachmann vorstellen, der ihr in der besagten Nacht half, den Schwerverletzten oder bereits Toten in das Krankenhaus zu transportieren. Mir gegenüber stand ein junger Kerl, der offensichtlich aus ärmsten bäuerlichen Verhältnissen stammte und am ganzen Körper zitterte. Seine hingestreckte Hand war nassgeschwitzt. Ich wurde das schreckliche Gefühl nicht los, soeben dem Mörder oder dem Komplizen des Mörders meines Vaters die Hand geschüttelt zu haben.

Sie hatte gekocht und bald sass ich mit jener Person am Tisch, für die trotz allem die Unschuldsvermutung gilt, und mehr wusste als sie uns erzählte. Die hohen Fenster des Penthouses zierten opulente Vorhänge. Ich konnte mich nicht gegen die Vorstellung erwehren, dass ihr Komplize in der besagten Nacht hinter diesem Lichtschutz versteckt auf die Ankunft meines Vaters wartete – um ihn von hinten brutal niederzuschlagen. So hart, dass er an den Verletzungen gestorben ist. Ich fühlte mich unwohl, schlang Nudeln, Gemüse und Hühnchen in mich hinein, konnte den Blick von diesen Vorhängen nicht abwenden und plötzlich fiel mein Blick auf die Küchenabdeckung: Die Kanten und Ecken waren abgerundet. Mein Verdacht, dass die offizielle Todesursache «Herzinfarkt» eine Lüge war, wurde beinahe zu einer Gewissheit.

Nach diesem Besuch schaltete ich die Polizei ein. Ich konnte und wollte den Mord an meinem Vater nicht ungesühnt lassen, alles andere empfand ich als mutlos und gleichgültig. Wir strebten ein Verfahren gegen Unbekannt an. Als die Polizei den Wachmann verhören wollte, war dieser vom Erdboden verschwunden. So ist es in Vietnam: Für Verbrecher und andere Menschen, die gravierende Fehler begehen, jedoch über das nötige Kleingeld verfügen, gibt es immer Schlupflöcher und sie entkommen ungestraft. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass Huyen ihrem Komplizen das Abtauchen ermöglicht hat. Sie wusste: Im ländlichen Vietnam einen Bauernsohn zu suchen, ist ein Anliegen, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.

Wir recherchierten weiter und sammelten solange Indizien, bis sogar der Offizier des Sonderermittlungs-dezernats von Saigon auf unserer Seite stand. Ohne Obduktionsbericht und ohne Leichnam, der nach der Kremation logischerweise nicht mehr existierte, waren die Chancen allerdings gering zu beweisen, wer für den Tod meines Vaters verantwortlich ist. Ein Jahr nach meinem Besuch bei Huyen erschien sie unangemeldet bei mir zuhause. Unter dem Arm klemmte ein Geburtstagsgeschenk. Sie wolle nur kurz gratulieren, das Taxi warte mit laufendem Motor auf der Strasse. Ich sprach nur einen Satz: «Wenn Du mir ein Geschenk machen will, dann erzähl endlich die Wahrheit über diese Nacht.» Sie schwieg und verschwand samt Paket auf Nimmerwiedersehen. Meine Trauer darüber, dass der Mord an meinem Vater wohl für immer unaufgeklärt bleiben wird, ist grenzenlos.

Doch jene Person, die vermutlich verantwortlich ist, wird durch andere Mächte als die Staatsgewalt zur Räson gezogen werden. In Vietnam gehen die Menschen davon aus, dass der Geist eines Verstorbenen immer unter uns ist. Jene, denen er nicht gut und freundlich gesinnt ist, kann er pro Tag hundert Mal daran erinnern, was sie verbrochen haben. Ich weiss nicht, ob ein Zusammenhang besteht, aber viel später vernahm ich, dass Huyen unter Verfolgungsängsten und einer schweren Depression litt. Trotz des vielen Geldes, das ihr der Tod meines Vaters brachte, fand sie keine Ruhe und erst recht kein Glück – Menschen die ihr in späteren Jahren begegneten, schilderten sie als alte und gebrochene Frau.

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