Читать книгу Ich rede zu viel - Francis Rossi - Страница 6
ОглавлениеDer Hubschrauber startete direkt neben dem Backstage-Bereich der Milton Keynes Bowl. Innerhalb von wenigen Sekunden sah die Menschenmenge von 60.000 Zuschauern nur noch wie ein Meer aus Ameisen aus.
Eigentlich ähnelten sie bereits Ameisen, als ich noch auf der Bühne stand. Während wir die Zugaben spielten, war ich vom Koks so benebelt, dass ich kaum die Gitarre in meinen Händen sehen konnte und schon mehrmals gestolpert war. Am Ende musste mich ein Roadie von der Bühne befördern, der meinen Arm über seine Schulter legte und mich wegbugsierte.
Ich wusste nur, dass ich das hier nie mehr machen musste – mit Status Quo auf der Bühne stehen und vortäuschen, es würde mir auch noch Spaß bereiten. Es war vorbei. Ich hatte das Ende des Weges erreicht.
Verdammt noch mal, was hatte ich da nur getan?
1984 stellte mir jeder diese Frage. Jeder, ausgenommen ich selbst. Als von Koks benebelter, mit Tequila abgefüllter, Mandrax einwerfender und kiffender Klugscheißer, der ich nun mal war, war ich mir absolut sicher, das Richtige zu tun. Eine Gruppe aufzulösen, die ich über 20 Jahre hinweg zur größten Band der Welt aufgebaut hatte – warum nicht? Die Schuld lag doch bei den anderen! Ich war die Band leid, die immer nur Ansprüche stellte. Und wie käme ich allein zurecht? Dumme Frage! Das würde einfach nur gut laufen. Nach Verlassen der Band würde sich mir eine erfolgreiche Solokarriere eröffnen, genau wie bei Rod Stewart nach dem Ausstieg bei den Faces, oder etwa nicht? Vielleicht auch wie bei Ozzy Osbourne, nachdem er Black Sabbath verlassen hatte – oder besser gesagt rausgeschmissen worden war. Oder etwa nicht?
Hm, tja …
Egal, damit konnte ich mich später herumschlagen. Viel später. Nachdem ich die Status-Quo-Abschiedstournee beendet hatte. Wir nannten sie die „End of the Road“-Tour, und die ganze Publicity war darauf ausgerichtet, dass es für unsere Fans die letzte Chance darstellte, die Band live zu sehen. Meist traten wir an großen Veranstaltungsorten auf, und wenn es kleinere waren, spielten wir dort zwei oder drei Shows, an mehreren Abenden hintereinander. Den Shows in Europa folgten 42 Auftritte in Großbritannien, darunter eine ganze Woche im Hammersmith Odeon, für das man bereits vier Stunden nach Beginn des Vorverkaufs 28.000 Tickets abgesetzt hatte. Als Finale planten wir ein riesiges Festival vor 25.000 Zuschauern im Juli im Fußballstadion von Crystal Palace, Selhurst Park. Die Kartennachfrage war jedoch so groß, dass wir noch ein großes „Rausschmiss“-Konzert vor 60.000 Fans in der National Bowl in Milton Keynes anhängten.
Die Plattenfirma hatte mir erklärt, das Ende von Quo sei möglicherweise mein Karriereende. Ich lachte nur und zog mir die nächste Line Koks. Ich würde es ihnen zeigen! Ich würde es ihnen allen zeigen! Ha, ha, ha!
Ich war 35 Jahre alt, doch die gehässige Musikpresse hatte mich schon seit meinen Zwanzigern als „Ehemaligen“ runtergeputzt. Mir doch egal! Drauf geschissen! Zumindest redete ich mir das jeden Morgen ein, wenn ich auf dem Fußboden aufwachte.
Rick war der Einzige, der mir leidtat. Armer Ricky Parfitt. Pete Kircher, der Schlagzeuger, und Andy Bown, der Keyboarder, sahen das Ende der Band recht pragmatisch. Sie ließen sich eher als Session-Musiker beschreiben, die nicht von Anfang an dabei gewesen waren und sicherlich einen anderen Job finden würden. Alan Lancaster mag die Band als sein Baby gesehen haben und ich mich selbst als wichtigen und zugkräftigen Frontmann. Doch niemand liebte Quo so sehr wie Rick Parfitt. Niemand war so sehr darauf angewiesen, bei Quo zu spielen, wie er. Sein gesamtes Weltbild bezog sich auf die Rolle des brillanten Rhythmusgitarristen, erfolgreichen Hit-Komponisten und gutaussehenden blonden Sängers bei Status Quo. Und natürlich war seine heikle Finanzsituation eng mit dem Fortbestand der Band verknüpft.
Ich glaube, er dachte, es sei eine weitere witzige PR-Aktion, diese ganze groß angekündigte Abschiedstournee. Erst als der Helikopter nach der letzten Show aufstieg und Rick aus dem Fenster sah, begann er zu verstehen. Er sah zu mir herüber und merkte, dass es kein Scherz war – dass ich damit abgeschlossen hatte und wegwollte.
In Wahrheit hatten wir beide große Angst – ich davor, weiterzumachen, Rick davor, aufzuhören. Ich hatte alles mit Status Quo ausgereizt, den Ruhm und das Geld, all meine Erwartungen und auch die Kritik – drei-Akkorde-gesenkte-Köpfe-bla-bla-bla. Ja, witzig, ha! Rick spürte, dass noch ein langer Weg vor ihm lag, was sich sowohl auf den Erfolg als auch das Geld bezog und … war da noch was? Klar, her mit den tanzenden Mädels.
Darin lag immer der Unterschied zwischen Rick und mir. Wir waren wie Tag und Nacht. Ich sah immer nur die Dunkelheit. Er sah ständig das Licht. Er glich einem Mr. Show, ich einem Mr. Business. Keiner von uns kapierte es, zumindest nicht zu dem Zeitpunkt. Eigentlich niemals, wie ich jetzt zurückblickend erkenne.
Egal, damals war es für einen Rückzieher zu spät. Die Band hatte in der einen oder anderen Besetzung länger als die Beatles durchgehalten. Beinahe so lange wie die Rolling Stones. Ich hatte genug. Und nun war es vorbei. Verdammt noch mal danke!
Tja, bis Bob Geldof nicht lange danach eines Tages anrief und fragte, ob Rick und ich bei seinem Band Aid auftreten wollten. Was tun? Niemals! Status Quo waren fertig. Man würde uns nie wieder sehen.
Typisch Bob, brüllte er mich an: „Da geb ich doch einen Scheiß drauf! Rauft euch für diesen einen Tag zusammen.“
In Ordnung, Bob, stimmten wir zu. Aber nur für einen Tag …
Ich wurde in Forest Hill im Süden Londons geboren, in ein großes Haus voller Italiener hinein. Dort lebten mein Dad und seine Brüder und all ihre Frauen, damals sogar noch die Großeltern und alle Kinder. Es war eine riesige Familie. Dad parkte seinen Eiswagen direkt vor diesem schönen Haus, was die ganzen Nachbarn nervte. Als meine Eltern dort einzogen, verfiel die Gegend, als wir auszogen, ging es wieder bergauf.
Meine Mutter Anne wurde in der kleinen Küstenstadt Crosby, Merseyside, nahe Liverpool, geboren. Ihr Vater kam aus Irland und hieß Paddy. Nach Ansicht ihrer Eltern war Liverpool die Hauptstadt Irlands. Als Katholikin hatte Mum denselben Glauben wie alle Hausbewohner bei uns, doch sie war hinsichtlich der italienischen Blutlinie immer eine Art Außenseiterin, obwohl sie verzweifelt alles unternahm, um als Italienerin angesehen zu werden. Mein Vater Dominic Rossi wurde in London geboren, doch er war ein Italiener, wie er im Buche steht. Seine Mutter – die jeder Nonna nannte, egal, ob man sie gut kannte oder nicht (sogar die Fahrer) – stammte aus dem winzigen italienischen Städtchen Atina, berühmt für Olivenöl, Rotwein und Bohnen. Keine schlechte Kombi! Unser Großvater hieß bei uns Pop, und sein Bruder wurde Onkel genannt – um jedem Missverständnis vorzubeugen. Bitte stellen Sie mir hierzu keine näheren Fragen …
Das mit den Namen war immer eine witzige Angelegenheit in unserer Familie. Mir verpasste man als zweiten Namen den meines Vaters Dominic, wohingegen mein jüngerer Bruder ihn als ersten erhielt. Ich weiß wirklich nicht, warum. Schätze mal, sie müssen ihn wohl gemocht haben. Meine Eltern hatten direkt vor mir eine Tochter namens Arselia bekommen, die aber an einer angeborenen Herzerkrankung verstorben war. Als Katholikin schwor sich Mum, das nächste Kind Francis zu nennen – nach dem heiligen Franz von Assisi – und auch einige weitere Heilige zu Hilfe zu rufen, warum man mir den längsten Namen der Familie gab: Francis Dominic Nicholas Michael Rossi. Nichts von dem bedeutete mir damals etwas. Erst als ich eingeschult wurde, stellte „Francis“ ein Problem dar, denn die anderen Kinder hänselten mich, weil ich einen Mädchennamen trug. Ich versuchte, das irgendwie hinzubiegen, indem ich jedem erklärte, mein richtiger Name laute Mike – oder einfach nur Ross. Aber mal ehrlich, so lange die anderen Kinder mich in Ruhe ließen, konnten sie mich rufen, wie sie wollten – was sie dann auch taten.
In meiner Familie gleichen Namen und Beziehungen einem Dickicht. Ich fand niemals heraus, in was für einer Beziehung die einzelnen zueinander standen. Nonna, meine Großmutter, war eine Coppola, was – so erklärte man es mir – eine gute Abstammung bedeute. Als ich eine dieser Stammbaum-Webseiten aufrief, las ich folgende Informationen, die ich merkwürdig fand: 1881 arbeiteten Coppolas in Großbritannien überwiegend als Eisverkäufer. Tatsächlich waren sogar 100 % der Coppolas Eisverkäufer.
Und nun raten Sie mal, wie sich mein Vater den Lebensunterhalt verdiente – richtig, indem er Eis verkaufte. Abgesehen von dem Eiswagen besaß die Familie die Eisdiele Rossi’s Ice Cream am Catford Broadway. Dad versuchte immer, neue Möglichkeiten zum Geldverdienen zu finden. An den Abenden fuhr er mit dem Wagen los und verkaufte statt Eis „Fish and Chips“. Als ich mich das letzte Mal erkundigte, erfuhr ich, dass der Familie das Geschäft immer noch gehöre und sie es als Wettbüro vermiete.
Ich wurde an einem Sonntag geboren, dem 29. Mai 1949. Laut der neueren Fassung eines alten Kinderliedes sind Sonntagskinder „glücklich und schlau“. Laut Originaltext aus dem Oxford Dictionary of Nursery Rhymes werden Sonntagskinder anders beschrieben: „And the child that is born on the Sabbath day / Is bonny and blithe, and good and gay.“ Das klingt für mich aber auch nicht so zutreffend!
Als ich auf die Welt kam, lebten wir alle in Großmutters geräumigem Haus in der Mayow Road, Forest Hill, da sich meine Eltern keine eigene Wohnung leisten konnten. Mein Großvater Pop – wenn Sie hinsichtlich der verwandtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr mitkommen, versuchen Sie es trotzdem – überließ die geschäftliche Seite des Eis-Business allein Nonna. Er war eigentlich Parkettleger von Beruf. Als Teenager hatte Dad seine Ausbildung bei ihm gemacht, doch dann verlor er bei einem Unfall beinahe seine Hand: Er bat seinen jüngeren Bruder Chas, ihn mit dem Auto zu einem Job im Norden zu fahren. Alles in Ordnung, bis auf die Tatsache, dass Chas seine Führerscheinprüfung noch nicht bestanden hatte. Das erklärt dann auch, warum es ihm gelang, quer über die Straße und direkt auf einen Bus zuzufahren.
Mein Vater flog im hohen Bogen aus dem Fenster, gerade noch rechtzeitig genug, dass der Bus über seine Hand rollen konnte. Als der Rettungswagen ankam, suchten sie immer noch nach Fingerteilen. Der arme Kerl musste 40 Operationen über sich ergehen lassen, um die Hand behalten zu können. Als Mum mich zu einem Besuch ins Krankenhaus mitnahm, fiel ich beinahe in Ohnmacht – die Ärzte hatte seine Hand zur schnelleren Heilung in der Bauchhöhle vernäht! Das erklärten sie zumindest meiner Mutter. Letztendlich musste er fortan mit einer Art deformierten Klaue leben. Mir war das egal. Kids werden mit so etwas spielend fertig. Meist winkte er uns Kindern zu und nahm dabei die Rolle eines Monsters ein. Wir rannten dann lachend weg. Erst Jahre später dämmerte es mir, dass er sich sehr dafür geschämt haben muss. Er mochte es ganz und gar nicht, wenn andere die Behinderung bemerkten, und versteckte die Hand vor seinen Enkeln.
Als wir einige Jahre später zu seinem wenige Meilen entfernt gelegenen Süßwarenladen in Balham zogen, hielt Dad das Geschäft mit dem Eiswagen immer noch am Laufen. Als einer meiner Onkel starb, hörte ich ihn und die ganzen anderen Männer, die sich darüber unterhielten, wie sie die Fahrtroute unter sich aufteilten sollten. Geschäft und Familie stellten für sie keinen Unterschied dar. Ich war noch viel zu jung, um andere Familien – englische Familien – zu kennen, die anders lebten und mit solchen Themen anders umgingen. Als es mir dann bewusst wurde, war es schon viel zu spät, und ich handelte so wie meine „Sippe“. Arbeit und Familie war alles, was ich jemals gekannt habe. Die Abende als Kind drehten sich meist um meinen Dad und seine Brüder, denen man zuhörte, wie sie von ihren Erlebnissen des Tages erzählten. Wie viele Hörnchen sie verkauft hatten. Wer einen guten Tag im Eiswagen erlebte und wer nicht.
Neuerdings sprechen die Leute von einem „vorbildlichen Arbeitsethos“, und man kann behaupten, dass das auf mich zutrifft. Allerdings habe ich es nicht anders gelernt. Abgesehen vom sonntäglichen Kirchenbesuch – und sogar da hieß es für Dad noch, so schnell wie möglich zurück zur Arbeit im Eiswagen zu kommen – erlebten wir niemals so etwas wie arbeitsfreie Tage. An Abenden und am Wochenende zu schuften, war für mich die Normalität. Ich glaube, dass diese Erfahrung meine spätere Einstellung beeinflusste, als ich erste Erfahrungen mit einer Band sammelte. Ungewöhnliche Tageszeiten, genau an den Tagen und in den Nächten zu arbeiten, wenn die sogenannten „normalen“ Leute sich entspannten, sich nie auf einen Urlaub zu freuen – all das stellte für mich kein Opfer dar. Genauso wenig, wie jeden verdienten Penny ins Geschäft zu investieren, oder in meinem Fall: die Show am Laufen zu halten. So wurde ich nun mal erzogen. Die Öffentlichkeit vergleicht Rockmusiker immer mit Kindern in einem Süßwarenladen – tja, ich wuchs tatsächlich in so einem Geschäft auf, was mir aber nie etwas bedeutete, denn die Süßigkeiten standen immer nur zum Verkauf bereit. Natürlich habe ich die Früchte meiner Arbeit genossen, bin aber am nächsten Tag immer aufgestanden, bereit zu arbeiten. Jetzt erkenne ich, dass das alles in meiner Kindheit wurzelt.
Als Resultat der Mixtur aus diversen Einflüssen (Italienisch, Irisch, Northern und Cockney) wuchs ich mit einem stark „durchgenudelten“ Akzent auf. Das traf auch auf meinen Bruder und zwei Cousins zu. Nicht, dass ich jemals den Akzent bemerkt hätte. Das geschah erst, als Leute wie Quos Alan Lancaster mich darauf hinwiesen. Von meiner Mutter stammte der im Norden wurzelnde Akzent. Man kann das bei „Paper Plane“ und einigen der frühen Quo-Tracks hören. Graben Sie bitte „I (Who Have Nothing)“ auf YouTube aus. Das Stück stammt noch aus der Zeit, in der wir uns The Spectres nannten, und ich klinge da wie ein waschechter Einwohner von Lancaster. Hinzu kommt noch, dass wir alle die Beatles hörten, deren Akzent beim Gesang genauso klang.
Von Dad erbte ich dieses „Italienisch-Cockney-Ding“. Zuhause sprachen wir häufig Italienisch, doch außerhalb der Familie wollte jeder wie ein Engländer reden, weshalb wir so-äh-sprachen-äh-wie-äh. Und auch-äh-so-äh. Mindestens am Ende jedes Satzes artikulierte man einen Vokal-ähnlichen Ton. Ich wuchs tatsächlich als kleines Kind mit Italienisch als Muttersprache auf, was ungefähr bis zum Alter von sieben Jahren andauerte und sich dann mit zunehmendem Alter änderte. Als ich mit fünf oder sechs mit der Familie in Italien Urlaub machte, spielte ich dort mit meinen Cousins und Cousinen und unterhielt mich problemlos mit ihnen. In meiner Erinnerung redeten wir allerdings Englisch, weil wir uns perfekt verstanden. Wie mir jetzt klar wird, muss es jedoch Italienisch gewesen sein.
Der beginnende Schulbesuch „tötete“ schließlich die Sprache. Kurzfristig redete-äh-ich-äh-in der Schule noch dieses Kauderwelsch und unterhielt mich zuhause auf Italienisch. Doch das änderte sich schnell in Richtung meines jetzigen Sprachgebrauchs. Um in den Fünfzigern in Südlondon zu überleben, musste ich mich dringend verändern. Rückblickend bedauere ich es zutiefst, kein Italienisch mehr zu beherrschen. Die Welt so zu bereisen, wie ich es das ganze Leben lang gemacht habe, und dabei zu entdecken, dass nahezu jeder Englisch spricht, bringt mich ein wenig in Verlegenheit, da ich nur eine einzige Sprache kann.
Als Kind wollte ich mich immer anderen zugehörig fühlen. Ich musste mich nicht nur wegen meines Akzents sorgen, denn man konnte mich auch – so nannte man das damals – als „kränkliches“ Kind beschreiben. Ständig hatte ich etwas. Ich war ein spindeldürrer Junge, dessen Nase immer lief und der sich oft Abschürfungen zuzog. Ich stolperte sogar über meinen eigenen Schatten! Meine Mutter sagte immer: „Du hattest als Kind so einen großen Kopf.“ Da er so groß war, stürzte ich regelmäßig die Treppe hinunter. Ich war einfach noch nicht ausgewachsen, was einigen Leuten nach übrigens immer noch zutrifft.
Ich fiel also oft hin und verletzte mich dabei. Mein Bruder und ich – wir trugen nur Shorts, keine Hemden – rannten an einem Sommertag um eine Ecke herum. Ich knallte hin, direkt auf das Gesicht. Als ich hochschaute, sah ich Mutter Agatha, eine der Nonnen von der katholischen Schule Our Lady & St. Philip Neri in Forest Hill, die wir besuchten. Ich mochte sie eigentlich, aber nun stand sie da und starrte mich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck an. Am nächsten Tag erzählte sie von diesen bösen jungen Männern, die halbnackt herumgerannt seien. Da ich mich immer noch daran erinnere, hat es offensichtlich einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Noch intensiver erinnere ich mich daran, auf der Straße verprügelt worden zu sein. Wir lebten damals noch in der Perry Rise in Forest Hill, und als ich mit fünf Jahren die Schule besuchte, ging ich immer zu Fuß dorthin. Ich schlenderte so vor mich hin, war einfach ein fröhliches kleines Kind. Eines Tages sah ich einen mir auf der Straße entgegenkommenden Altersgenossen. Als wir auf gleicher Höhe waren, prügelte er mit seinen Turnschuhen auf mein Gesicht ein. Er schlug so heftig zu, dass er mir beinahe den Kopf abriss. Nach dem Vorfall hatte ich fürchterliche Angst, alleine zu gehen. Meist schickten sie dann meinen Cousin, der mich auf dem Schulweg begleitete. Erst jetzt realisiere ich, dass mich dieses Erlebnis jahrelang prägte. Ich mochte es nicht, rauszugehen, hatte immer Angst vor Menschen, davor, verletzt zu werden. Wenn ich mich prügelte, spürte ich rein gar nichts. Das lag möglicherweise am puren Adrenalin – ausgelöst durch die Furcht. Wie dem auch sei, ich halte nichts von Schlägereien, von dem Feuer, das sie in Menschen entfachen.
Ich benötigte Jahre, um mir darüber klarzuwerden, was mit mir geschehen war. Ich war möglicherweise schon in den Vierzigern, als es mir dämmerte – dass meine Angst vor Menschen exakt an dem Tag begann, als man mich als Schulkind auf der Straße angegriffen hatte. Ich muss den anderen Jungen wohl an einem vorhergehenden Tag „komisch“ angeschaut haben. Nicht absichtlich, einfach in der Art, wie man mit fünf oder sechs Jahren mit großen Augen die Welt erkundet. Das muss ihn wohl geängstigt haben. Möglicherweise ging er an dem Tag nach Hause und berichtete seinem Vater, dass er auf der Straße dieses Kind getroffen habe, das ihm Angst einjage. Sein Dad muss wohl so einen schrecklichen Kommentar abgelassen haben, wie es Väter oft machen: „Geh einfach auf ihn zu, mein Sohn, schlag ihn so fest, wie du nur kannst – und lauf dann weg!“ Erst später wurde ich gewahr, dass exakt das geschah, nachdem er mich geschlagen hatte – er rannte weg. Wahrscheinlich hatte er vor Angst die Hosen voll! Daraus resultierte, dass zwei Kids aus diesem Zwischenfall traumatisiert hervorgingen – was bei mir das gesamte Leben lang anhielt. Ich fürchte mich immer noch vor vielen Ereignissen, einzig und allein aufgrund dieser Episode in meiner Kindheit.
Das ist schon merkwürdig, da ich weiß, dass mich die meisten, die mich auf der Bühne oder im Fernsehen sehen, als super selbstbewusst empfinden, vielleicht sogar als Schlaumeier und Macker. Doch das ist alles eine Art Maske. Ich habe tatsächlich ständig Angst vor dem Unkontrollierbaren. Ich habe Angst vor anderen Menschen. Das liegt alles versteckt in einigen meiner bekanntesten Texte, und möglicherweise liegt darin der Grund, dass ich mich so viele Jahre in Drogen verlor. Darum bestehe ich auch auf einer täglichen Routine. Einige nennen das einen Zwang zum ständigen Überdenken und Verharren, andere beschreiben solche Menschen als Kontrollfreaks. Nein, es ist die simple Angst vor dem Unbekannten – oder eher dem Plötzlichen und Unerwarteten. Ich erwarte ständig das Unerwartete – und fürchte mich davor. Darin liegt wohl auch der Grund, dass ich bei einem neuen Vorschlag, einer neuen Idee zuerst mit einem Nein reagiere. Später dann, meist zum Ärger aller, mich eingeschlossen, lasse ich mich vielleicht zu einem Meinungswechsel überreden. Sie werden im Laufe des Buches erfahren, dass dies häufig geschieht.
Meine Frau Eileen ist sich nicht so sicher, dass sich diese Charaktereigenschaft auf den Vorfall in meiner Kindheit zurückführen lässt. Die Musiker von Status Quo und meine Freundin Lyane Ngan streiten sich mit mir darüber. Doch ich weiß, dass ich recht habe. Ich mag es allerdings nicht, wenn Leute sagen, dass sie recht haben. Doch hier habe ich recht! (Klugscheißer!) Das bedeutet natürlich nicht, dass ich nie danebenliege. Erst wenn man erkennt, wie falsch man bislang über bestimmte Themen gedacht hat, lernt man eine wertvolle Lektion über sich selbst und die Welt. Was an dem einen Tag falsch gewesen sein mag, kann am nächsten schon wieder richtig sein. Wir alle leben im Reich der Relativität, womit man sich niemals wirklich sicher sein kann, oder? Doch was dieses Kind anbelangt, bin ich mir absolut sicher.
Rick, Quo-Keyboarder Andrew Bown, Dave Salt, unser alter Tourmanager, sowie meine Wenigkeit saßen einmal im Tourbus, und wir erinnerten uns an die Schulzeit. Andy erzählte, dass er damals nur habe zeichnen wollen. Ich berichtete davon, in der Zeit zurückreisen und mehr lernen zu wollen, da ich wegen meiner Kränklichkeit so viel verpasst hätte. Und Rick meinte: „Scheiß doch drauf, ich weiß alles, was ich wissen muss.“ Was für eine anmaßende Aussage! Ich weiß alles, was ich wissen muss. Wie kann man so etwas nur wissen? Wie öde wäre dann ein Leben, wenn das tatsächlich zutreffen würde. Man weiß alles, was man wissen muss und muss nie mehr etwas Neues lernen? Doch Rick war so – volle Kraft voraus, niemals zurückschauen. Eigentlich kann man bei so einer Einstellung schon das Handtuch werfen und aufgeben. Ich versuche auf jeden Fall, ständig zu lernen. Viele Themen, hat man etwas über sie gelernt und sie verstanden, können zu den Akten gelegt werden. Doch es gibt immer etwas Neues oder einen Menschen, der plötzlich im Leben auftaucht und einem etwas mehr, etwas ganz anderes beibringt.
In meiner Schulzeit mag wohl auch der Grund gelegen haben, warum mein Lernen nicht den gewohnten Mustern folgte. Ich lernte eher aus meinen Erfahrungen heraus. Da ich wegen meiner Krankheiten so viel Unterricht verpasste, wurde aus mir niemals ein gebildetes Kind. Heutzutage würde man mich in der Schule sitzenbleiben lassen. „Dieser dumme Junge hat nichts gelernt. Er war ja nie da!“ Doch damals machte man kein großes Aufsehen darum, da ich im Einzelhandel aufwuchs und meine Berufsaussichten gesichert erschienen, was zumindest alle annahmen. Erst kürzlich habe ich mich mit meinem Bruder Dominic darüber unterhalten. Wir wuchsen auf und wussten, dass wir in die Welt raus mussten, um durch den Verkauf genügend Geld zu verdienen, entweder in einem Geschäft oder von einem Wagen aus wie Mum und Dad oder auf eine andere Art.
Die Kids, die damals eine Universität besuchten, gehörten zu einem bestimmten Personenkreis. Sie dürsteten nach Wissen. Anschließend wurde daraus eine Art unsichtbare Auszeichnung. Meine Kinder haben sie auch erhalten. Doch kürzlich meinte mein jüngster Sohn, der Psychologie studiert, zu uns: „Ich bin mir da nicht so sicher.“ Ich dachte nur: Meine Güte! Meiner Einstellung nach sollte man mit dem Lernen nie aufhören, egal, wie gut oder schlecht man ausgebildet ist. Allerdings stellt der Besuch einer Universität keine Garantie dar. Ich habe eine Menge dummer Leute kennengelernt, die auf einer Uni waren, und viele schlaue Menschen, die keine besuchten. Und umgekehrt! Die Regel besagt in dem Fall, dass es keine Regel gibt. Heute lassen sich die Freunde meiner Frau mit dem Völkerbund vergleichen. Es sind Australier, Amerikaner, Neuseeländer, Thailänder, Japaner und einige Inder, Iren und Iraner. Ich habe sie schon in der Vergangenheit gefragt: „Warum seid ihr so bedacht darauf, dass eure Kinder die Universität besuchen?“ Sie antworteten: „Damit sie einen guten Beruf bekommen.“ Daraufhin antwortete ich: „Sollten sie nicht einfach zufrieden sein?“ Mit einem „guten Job“ meinen sie natürlich Geld. Das bedeutet ein nettes Auto, ein schickes Haus und all das andere Zeug. Als ich noch ein Teenager war, runzelte man darüber die Stirn, genauer gesagt, über die Flagge des Kapitalismus.
Ich wünschte, all das schon als Kind gewusst zu haben. Stattdessen fühlte ich mich meist als Außenseiter, als komischer Kauz. Ich bin mir sicher, dass das auf viele während der Schulzeit zutraf. Bei mir hatte das partiell etwas mit meinem „fremden“ Akzent zu tun, teils Northern, teils Italienisch, teils Cockney. Ich weiß nicht mehr, wie oft man mich als Kind auf meine angeblich affektierte und „affige“ Aussprache angesprochen hat. Wie sie darauf kamen, ist mir immer noch ein Rätsel. Viele der anderen Kinder glaubten, wir seien reich oder zumindest wohlhabend. Das traf auch auf die Bandmitglieder zu, als wir im Teenageralter die ersten Sessions spielten. Irgendwie nahmen die Leute immer an, dass ich eine Menge Geld besäße. Doch wir lebten in keiner Villa, sondern nur in einem hübschen Haus. Mum und Dad strebten nach eigenem Immobilienbesitz, denn so denken Einzelhändler nun mal, doch wir waren niemals reich. Kinder aus meiner Schule kamen in unseren Süßwarenladen in Balham und frohlockten: „Wow! Die ganzen Süßigkeiten umsonst!“ Ich antwortete mit einem ungläubigen: „Wo?“, da ich wirklich nicht wusste, was sie damit meinten. Für uns gab es keine kostenlosen Süßigkeiten. Es handelte sich um Verkaufsware, die Mum und Dad unseren Kunden anboten, um ihrerseits damit Brot und Butter zu kaufen.
Sogar die katholische Kirche dachte, Dad sei der ideale Typ für die Kollekte. Schließlich belieferte er sie mit Gratis-Eis für die sommerliche Kirchenfeier. Das eingenommene Geld behielten sie dann für ihre „guten Taten“. Man hatte uns als Katholiken erzogen, und wir verhielten uns entsprechend. Die Heilige Kommunion, die Firmung, die Beichte – wird man schon im zarten Alter von zwei oder drei Jahren indoktriniert, ist es beinahe unmöglich, den Rest des Lebens nicht in die Kirche zu gehen. Trotzdem konnte ich mich in meinen späteren Jahren davon befreien. Doch einen Großteil meines Lebens war es eine Art Wechselbad der Gefühle. Und man erlebte zahlreiche Menschen, die das Gleiche durchmachten. Sie lösten sich von der Kirche, mussten sich aber wieder geschlagen geben, als sie eigene Kinder hatten. Jungen und Mädchen feiern ihre Erstkommunion immer getrennt, doch ich musste mich wieder mal mit einer Mandelentzündung herumplagen, weshalb ich den Termin verpasste. So feierte ich meine Kommunion mit Mädchen aus einem Kloster. Freud würde möglicherweise postulieren, dass sich in dem Moment der Katholizismus und Spaß mit Mädchen in meinem Bewusstsein genussvoll verknüpft hätten. Und er hätte recht gehabt!
Den Gläubigen unter den Lesern möchte ich Folgendes sagen: Ich habe überhaupt kein Problem, an ein allwissendes, allliebendes und allmächtiges höchstes Wesen zu glauben. Ich schreibe „höchstes Wesen“, um keine bestimmte Gottheit zu nennen, da dies für einige befremdlich erscheinen mag. Mich stellt auch eine „höhere Realität“ zufrieden oder „das Universum“, „Energie“, „das Leben an sich“ – alles okay. Man kann die Wahrheit überall finden. Sogar der Katholizismus hat seine positiven Seiten – die Bedeutung der Familie, das Arbeitsethos, die Übernahme der Verantwortung für seine Taten, all das grundlegende „Gut und böse“-Zeug. Doch für was steht der Rest von dem Mist, egal, ob katholisch oder eine andere Konfession? „Berühre das nicht! Du bist ein verdorbener Junge!“ Weißt du, was – das ist falsch! Sich zu berühren, ist wunderschön. Wir belügen die Kinder von Anfang an, maßregeln sie, dass diese Taten schlecht, falsch oder gegen Gott gerichtet seien. Doch tief im Innern spüren sie, dass die Erwachsenen danebenliegen. Verlässt man den Raum, spielen sie wie eh und je weiter. Mit dem Unterschied, dass sie sich von da an schuldig fühlen.
Meine Mutter war sehr religiös, ein gutes katholisches Mädchen, und demzufolge darauf versessen, uns eine Art von Schuld einzutrichtern, wenn wir nicht in die Kirche gingen. Sie glaubte tatsächlich, ich sei eine unbefleckte Empfängnis, eine Perspektive, die sie mir oftmals mit Nachdruck aufzwang. Demzufolge benannte man mich nach Franz von Assisi. Während ich älter wurde, fand ich den Mut, sie herauszufordern. „Wenn ich also eine unbefleckte Empfängnis bin, was ist denn dann mein Bruder – der ‚Dreckige‘? Und wie fühlte sich Dad überhaupt dabei?“ Sie hasste das. Blasphemie! Doch die meiste Zeit war sie dennoch eine liebende, ziemlich normale Mum. Das änderte sich, als ich 19 war und sie einen schweren Zusammenbruch erlitt, einhergehend mit einem religiösen Wandel. Damals informierte sie mich und meinen Bruder: „Ich bin nicht eure Mutter. Ich bin Annie.“ Ich musste mich sehr beherrschen, doch regte mich im Laufe der Zeit zunehmend darüber auf, denn ich erkannte, meine Mutter verloren zu haben. Aber dieses Thema hebe ich mir für später auf.
Dad war ein unglaublich netter Mann – in London geboren, doch immer noch ein Italiener. Ein Italo-Cockney. Wenn etwas nichts funktionierte, stampfte er immer herum und fluchte „Arschlöcher“, aber mit dieser ulkigen anglo-italienischen Stimme: „Aaarschlöcher! Blöööde Aaarschlöcher!“ Ich liebte es, die Zeit mit ihm zu verbringen. Doch ärgerlicherweise musste er ständig zur Arbeit, womit ich weniger mit ihm zusammen sein konnte, als mir lieb war. Es war toll, wenn es schneite oder regnete, denn dann musste er zuhause bleiben. Mit meinen ersten drei Kindern lief das ähnlich ab, denn ich war zu der Zeit noch in den Zwanzigern und musste wie mein Vater zur Arbeit immer auf die Straße raus – mit dem Unterschied, dass ich Wochen oder Monate nicht nach Hause kommen konnte. Das trifft natürlich auf alle im Showbusiness Tätigen zu, doch in meinem Fall bestand eine Verbindung zur Kindheit. Mir war das damals egal, doch heute erkenne ich ein Muster. Es stellte auch eine Art Entschuldigung dar, rauszukommen und der täglichen Routine zu entfliehen. Später, als älterer Vater mit mehr Freizeit, war das anders. Ich liebte es, mit den Kids zusammen zu sein. In meinem mittleren Alter ließen sich Mum und Dad scheiden, und ab dem Zeitpunkt lernte ich meinen Vater ein bisschen besser kennen. Er war ein gütiger und freundlicher Mensch, liebte Musik und war sehr stolz auf mich. Ich erinnere mich, ihm einmal den Shania-Twain-Song „You’re Still The One“ vorgespielt zu haben. Er hätte beinahe sein „Ding“ rausgeholt, so ekstatisch fühlte er sich. Ich reagiere ähnlich, wenn mir eine bestimmte Musik gefällt. Blöööde Aaarschlöcher! Ha, ha!
Wegen Mutter besuchte ich als Kind jeden Sonntag die Messe. Das hörte erst in meinen frühen Zwanzigern auf, als Status Quo durchstarteten. Wenige Jahre später ging es wieder los. Dann hörte es auf und fing wieder an. Man könnte das Komponieren und Musikmachen als einen Akt der Schöpfung beschreiben und mit Gott in Zusammenhang bringen. Ich würde das allerdings nicht zwangsläufig so beschreiben. Ich kreiere keine religiösen Songs, doch empfinde manchmal eine Art von Ekstase, wenn ich großartige Musik höre. Ich kann dabei weinen.
In meinen Vierzigern fand ich mich in der Sonntagsmesse meiner lokalen Kirche John the Baptist in Purley wieder. Ich habe sogar meine Kinder dort firmen lassen, so verwirrt und unsicher war ich immer noch bezüglich der ganzen Religion. Ich befand mich also eines Sonntags mit Eileen in der Kirche, als es mich schlagartig überkam – ich glaubte nicht mehr daran. Ich schaute mich um und dachte: Falls hier tatsächlich etwas Wahrhaftiges vor sich ginge, würde es die Kinder packen und fesseln. Kids haben besondere Antennen dafür. Sie können gar nicht anders. Wenn etwas vor sich geht, wissen sie es, auch wenn sie es nicht in Worte fassen können. Sie spüren, dass etwas Interessantes geschieht. Doch die Kids zeigten keinerlei Interesse. Eher das Gegenteil. Man konnte es an ihren Gesichtern ablesen. Sie dachten: Können wir endlich gehen?
Durch meine Kindheit habe ich den Winter zu lieben gelernt, was mich heute noch berührt. Ich liebe es, wenn es grau und kalt ist, denn bei schlechtem Wetter fuhr Dad nicht mit dem Eiswagen raus. Mein Dad war der König des Augenblicks. Man nennt uns nicht „menschliche Macher“, sondern „menschliche Wesen“, die im Hier und Jetzt verwurzelt sind. Und das gelang Dad besonders gut. Ihn langweilte es nicht, einmal nichts zu tun zu haben, denn es stellte einen Luxus für ihn dar. Er konnte „sein“, einfach den Moment genießen – und das mit Brillanz. Natürlich liebte ich es als Kind, wenn er zuhause war. Wenn ich aus dem Fenster blinzelte und es schneite, fühlte ich mich glücklich, da ich wusste, dass er zufrieden und fröhlich den ganzen Tag über in der Wohnung weilte. Manchmal ging er auch im Haus herum und erledigte diese oder jene Aufgabe, doch er war wenigstens da. Meist fürchtete ich mich vor dem Sommer, da ich ihn dann kaum sah. Er war den ganzen Tag und sogar den Abend über weg und schuftete im Eiswagen. Sogar jetzt noch nervt mich der beginnende Sommer. Dazu kommt noch, dass es viel zu heiß wird, was ich auch nicht mag. Ich ziehe es vor, drinnen zu sein, mag den Regen, der gegen die Fenster prasselt – und die hochgezogene Zugbrücke.
Noch vor seinem Tod erzählte ich das Dad. Seine Antwort verblüffte mich. „Auch ich habe es gehasst, zur Arbeit zu fahren, mein Sohn. Ich liebte es, zuhause bei deiner Mutter zu sein.“ Sein Arbeitstag begann mit einer Fahrt zu Großmutters Haus in Catford, jeden Morgen um 6.30 Uhr. Weiter ging es mit dem Beladen des Eiswagens. Um 9.30 Uhr kehrte er zurück, wusch sich und putzte sich heraus. Dann kam er herunter und frühstückte mit Mum, wonach er sich darauf vorbereitete, seine Runden zu drehen! Die Schulen, die Spielplätze, all die Straßen, wo sich die Kinder vielleicht draußen aufhielten. Er erzählte mir, dass Mum ihn oft bei seinem Job „behinderte“, da sie plötzlich in ihrem Babydoll-Nachthemdchen vor ihm gestanden habe. „Sie war ein gutes Mädchen und wusste, wie sie sich durchsetzen konnte.“ Ich hörte mir das an, unsicher, wie ich reagieren sollte, und fragte nach: „Wirklich?“ Dann strahlte sein Gesicht: „Yeah!“
So war mein Vater, ein Ausbund an Leben. Die Leute dachten oft, er sei betrunken, weil er immer so gute Laune hatte. In Wahrheit rührte er aber nie einen Tropfen an. Es mag vereinfachend klingen, wenn ich mein Talent, auf der Bühne aus mir herauszugehen, meinem Vater zuschreibe. Die Freude daran, andere Menschen glücklich zu machen.
Meine Mutter war anders. Sie hatte viele Freunde, Menschen, die sie innig mochten. Doch ihr Charakter war mit einem Hauch irischer Melancholie eingefärbt – einer merkwürdige Ängstlichkeit, die mit zunehmendem Alter und einer stärker werdenden Religiosität immer deutlicher zum Vorschein kam. Sie erlitt einen Zusammenbruch. Heutzutage hätte man ihr unterschiedlichste Arzneimittel und Therapien angeboten. Doch dieses Problem schien nur eine Facette ihres Charakters zu sein. Vielleicht habe ich von ihr meine Neigung zur Schwermut „geerbt“? Ich bin in der einen Minute der positivste Mensch auf der ganzen Welt – und in der nächsten schon der besorgteste. Entweder leitet sich das von der Kindheit ab oder von den Drogen. Vielleicht auch von beidem …
Wenn ich heute auf meine Zeit als Jugendlicher zurückschaue, denke ich: Oh, nein, was für ein Hohlkopf! Ich versuchte, mich ständig anzupassen, an Situationen und an andere Menschen. Und dann traf ich auf Alan Lancaster. Wir waren gleichaltrig und besuchten die Sedgehill Gesamtschule in Beckenham. Sedgehill war verdammt brutal! Die ganzen Kinder aus den umliegenden Sozialwohnungen gingen auf die Schule, und es drehte sich alles darum, wie hart man war. Jeder, der seine Freude am Unterricht hatte, wurde mit einem abwertenden Blick gestraft und dementsprechend behandelt. Täglich wurden irgendwelchen Kindern die Köpfe eingeschlagen. Ich mochte das Lernen, wollte aber nicht verprügelt werden. Und so entwickelte ich eine Macker-Ausstrahlung, wobei die Freundschaft zu Alan half, denn er war der wirklich harte Bursche.
Doch hauptsächlich war ich wie besessen von Popmusik, besonders den Everly Brothers. Ich liebte den Sound, die Songs und das Aussehen der Gitarren. Alan stand eher auf Del Shannon, die Shadows und Nat King Cole. Die meisten anderen Jungs interessierten sich eher für Sport, besonders Fußball. Ich hingegen mochte Fußball nicht, eine Sportart, in der Italiener traditionell ja ziemlich gut sind. Der Sportlehrer der Schule war ein Vollidiot, der uns anbrüllte: „Grätsch dazwischen!“ oder „Mäh ihn nieder, Junge!“ Da verliert man doch die Lust. Bis zum heutigen Tag schalte ich augenblicklich ab, wenn sich der Rest der Band über Fußball unterhält. (So geht es auch Andrew Bown.) Ich versuchte mich beim Rugby, was nach hinten losging. Das komplette Spielfeld war gefroren – so wie ich auch: schockgefroren –, was damit endete, dass man mich ständig umrannte. Schrecklich.
Später fiel mir auf, dass es vielen Musikern ähnlich ging. Sie waren einfach nicht sportlich, zogen sich in ihre Zimmer zurück, saßen dort herum und übten Gitarre. Musiker wie Pete Townshend und Jimmy Page, Eric Clapton und David Bowie. Bei mir beschränkt sich das nicht nur auf eine Aversion gegen Sport. Abgesehen von der Musik, einigen wenigen Filmen und Comics, hatte ich einfach nichts anderes, was mir Spaß machte, etwas, zu dem ich eine Beziehung herstellen konnte. Wir besaßen eins dieser alten beigen Bush-Radios mit herausziehbarer Antenne. Es war immer auf Radio Luxemburg eingestellt. Das Radio hatte etwas Modernes an sich, wirkte beinahe schon futuristisch. Ich setzte mich hin und bewegte mich zum Rhythmus des Popsongs, den sie gerade spielten.
Allerdings brachten sie damals kaum Stücke über das Transistorradio, die ich mochte, doch „Red River Rock“ von Johnny and the Hurricanes und „The Young Ones“ von Cliff Richard stachen heraus. Cliffs Scheibe übte den gleichen magisch-vereinnahmenden Einfluss auf mich aus wie „Stairway To Heaven“ Jahre später bei einer ganzen Generation von Led-Zeppelin-Fans. Der Titel wirkte so profund und jugendlich-prophetisch, besonders das Fazit: „Cos we may not / Be the young ones / Very long …“ Er brachte sogar den zwölfjährigen Schuljungen, der ich nun mal war, angesichts erahnter Nostalgie zum Weinen.
Acker Bilks „Stranger On the Shore“ war hingegen ein Instrumental, das mich fast in Ohnmacht fallen ließ. Gütiger Jesus, wie Dad zu sagen pflegte … diese sinnlich tremolierende Klarinette und dann noch die an ein Strandkonzert erinnernden Streicher! Wurde das Stück an einem Sonntagmorgen gespielt, während wir vor unseren Würstchen und Schinken saßen, verfielen wir in eine Art kollektives „Erröten“ und ließen unsere Gefühlen langsam freien Lauf, die vom Tisch aus in den Raum auszustrahlen schienen. Niemand sprach, denn alle pendelten sich auf das schöne Gefühl ein.
Dann kamen die Beatles und alles – alles! – änderte sich schlagartig. Nicht nur die Musik, sondern buchstäblich alles. Hat man die Zeit nicht miterlebt, lässt es sich nur schwerlich vorstellen, welch großen Wandel die Ankunft der Beatles weltweit auslöste. Es war Anfang der Sechzigerjahre, der Beginn einer neuen Nachkriegswelt. Die Beatles standen auf der Seite der Engel, hatten aber bessere Songs als der Teufel. Jeder Musiker kurz vor oder nach den Beatles wurde von der Band grundlegend beeinflusst.
Was das Lernen eines Instruments anbelangte: Mit vier Jahren spielte ich auf einer Mundharmonika herum. Dann besaß ich ein Hohner-Mignon-Akkordeon, die italienische Marke, die so aussah, als verfüge sie über eine Klaviertastatur an der einen Seite. Allerdings musste man für das Instrument Unterricht nehmen, und ich hatte in dem Alter noch keine Geduld dafür. Ich wollte einfach raus in den Garten, um mit meinen Brüdern und Cousins zu spielen. Das Fernsehen war damals totaler Mist, denn es gab nur zwei Kanäle, die bei uns sowieso niemand schaute, da wir arbeiteten.
All das wirkte sich auf meine Einstellung zur Musik aus. Ich musste unbedingt das Gitarrenspiel erlernen, und schon von Beginn an maß ich den Erfolg an der Popularität. Ich wollte natürlich ein guter Gitarrist sein, doch es würde mir nichts bedeuten, wenn es keinem gefiele. Sind Musiker ehrlich zu sich selbst, liegt allem diese Motivation zugrunde. In der Minute, in der man versucht, einem Publikum ein Ticket zu verkaufen, das den Musiker erleben möchte, wird der Erfolg an den Zahlen gemessen, daran, wie viele Besucher einen Künstler tatsächlich sehen wollen. Ich wollte immer wissen, wie viele Fans zu den Shows kamen. Wie viele Singles man von einem bestimmten Song absetzte, und in welchem Verhältnis das zu anderen Verkaufszahlen stand. Mum und Dad redeten ständig vom „Umsatz“, und genau so habe ich den Erfolg immer gemessen. Daran, wie viele Tickets und Karten wir verkauften. Wie viel „Stück“, um auf den Sprachgebrauch meiner Eltern anzuspielen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass einige Leser nun den Eindruck gewinnen, ich sei nur wegen des Geldes ins Musikbusiness eingestiegen. Das war allerdings nicht der einzige Grund, doch ich sah es als eine Möglichkeit, um über die Runden zu kommen. Ich würde es entweder als Musiker schaffen oder den Eiswagen durch die Straßen kutschieren. Es wäre einfach gewesen, mich dem Familiengeschäft anzuschließen, doch ich wählte den schwierigeren Weg, lernte ein Instrument und schaute mich nach einer Band um. Dann spielt man in jedem nur möglichen Drecksloch, bis etwas ganz Großes passiert – oder auch nicht. Letzteres trifft leider auf die meisten zu, die so verrückt sind und versuchen, im Musikgeschäft Fuß zu fassen.
Das bezieht sich auf den geschäftlichen Teil. Im Gegensatz dazu fällt es mir weitaus schwerer, meine musikalischen Einflüsse zu benennen. Die Everly Brothers erweckten in mir den Traum, Gitarre zu spielen und gemeinsam mit meinem Bruder Musik zu machen. Dominic war einige Jahre jünger als ich und stand in diesen zarten Zeiten unter meinem strengsten Kommando. Zumindest dachte ich das. Tatsächlich war mein geliebter Bruder aber schon ein „richtiger“ Mann. Er war netter und nachgiebiger als ich und freute sich, dass ich für uns beide bereits große Pläne schmiedete. Wohlwissend, dass er sich – wäre die Zeit für den Startschuss erst mal gekommen – überhaupt nicht mehr darum kümmern würde.
Zum Beispiel: Ich überzeugte mich im Alter von neun Jahren selbst davon, dass Dominic und ich die englische Antwort auf die Everly Brothers sein könnten, woraufhin wir uns beide zu Weihnachten eine Gitarre wünschten. In meinen Gedanken malte ich mir schon aus, wie wir zwei herumsaßen und das Gitarrenspiel sowie das Singen übten. Doch Dominic bekam im letzten Moment kalte Füße und wünschte sich stattdessen eine Spielzeugeisenbahn. Das stellte sich letztendlich als kluge Entscheidung heraus, denn er wurde Buchhalter. Mein Buchhalter! Cheers, Dom!
Das funktionierte allerdings nur bis zu seiner Entscheidung, dass er die Art und Weise, wie das Musikbusiness funktionierte, ganz und gar nicht mochte. Im Grunde genommen war Dominic in einigen Belangen das exakte Gegenteil von mir. Ich war aufgedreht, nervös und suchte ständig nach einer neuen Perspektive. Er hingegen war leiser, ruhiger, zuverlässiger und in vielerlei Hinsicht nachgiebiger. Wie ich schon sagte, einfach ein netterer und umgänglicher Mensch.
Das wirkte sich aber nicht immer vorteilhaft für ihn aus, besonders im Erwachsenenalter, als unsere Mutter unter ihrem religiösen Wahn litt. Ich war verheiratet, und die Band arbeitete unentwegt, weshalb ich nicht so oft bei ihr sein konnte, wie ich gewollt hätte. Dominic blieb in ihrer Nähe, folgte ihren wahnsinnigen Eskapaden, hielt ihre Hand und erzählte Mum aufbauende Geschichten. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich ging durch die Tür hinaus, war einfach mal wieder weg, viel zu beschäftigt damit, meinen eigenen dämlichen Träumen hinterherzuhängen, als mich von Mum aufhalten zu lassen. Dom hielt zu ihr, Gott sei Dank!
Wo immer wir waren, oder dachten zu sein oder eines Tages sein würden – unsere Eltern ließen uns machen. Sie gaben sich keine große Mühe, ihre Kinder in eine bestimmte Richtung zu drängen, sondern waren auf eine ruhige Art ungemein unterstützend. Das half mir viel mehr, als ich damals erkennen konnte. Es gab mir den Antrieb, weiterzumachen. Wäre es anders gelaufen, hätte ich möglicherweise das Gitarrenspiel aufgegeben. Obwohl Dominic zu dem Entschluss kam, dass seine Spielzeugeisenbahn viel mehr Spaß machte, finde ich es interessant, Jahre später bei Status Quo eine Art brüderlicher Beziehung mit dem Gitarristen und Sänger Rick Parfitt aufgebaut zu haben. Das war keine bewusste Entscheidung meinerseits, aber wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich die Parallelen nur allzu deutlich. Ich kann auch die Einflüsse der Everly-Hits wie „Wake Up Little Susie“ und „Bye Bye Love“ erkennen. Diese voluminösen Rhythmusgitarren-Akkorde finden sich in Quo-Hits wie „Caroline“ und „Down Down“. Der Stil, wie Rick und ich den Gesang überblenden, bis er beinahe wie eine einzelne Stimme klingt – das ist der pure Everly-Brothers-Sound.
Weniger auffällig sind die anderen, tiefer verwurzelten musikalischen Einflüsse, die ins Spiel kamen. Ich erkenne sie erst jetzt. Da gibt es zum Beispiel ein altes italienisches Unterhaltungsstück mit humoristischem Unterton und dem Titel „Poppa Piccolino“. Es wurde schon von ganz unterschiedlichen Sängerinnen wie Petula Clark und Diana Decker und sogar dem Billy Cotton Orchestra gecovert. Erstmals hörte ich die Nummer, als Mum sie zu meiner Aufmunterung spielte, nachdem ich mal wieder die Treppe hinuntergefallen war. Ich habe immer gesagt, den Song nicht so sehr wegen seines fröhlichen und eingängigen Ausdrucks zu mögen, sondern viel mehr wegen des damaligen Trosts und der Zuneigung meiner Mutter. Ich machte mir einen Spaß daraus und „stürzte“ am nächsten Tag wieder die Treppe runter, da ich die Aufmerksamkeit so sehr genoss. Allerdings durchschaute sie meine Finte und drohte, mich eigenständig die Treppe hinunterzuwerfen, wenn ich nicht aufhörte, ihr auf die Nerven zu gehen.
Die Platte blieb aber in meinem Gedächtnis haften – und wesentlich länger als gedacht. Eines Tages fiel es mir wie Schuppen von den Augen und mir wurde klar, wie sehr der gesamte Quo-Sound dem italienischen Shuffle-Rhythmus von „Poppa Piccolino“ glich. Diese bestimmte Art eines trillernden Stücks, ein Ta-Da-Di-Dah-Beat. Wenn man genau hinhört, wird man den Rhythmus bei beinahe allen Quo-Hits erkennen. Meist wurde angenommen, dass er von der Faszination für die durch den Blues beeinflussten britischen Sixties-Bands stamme, die diesen speziellen „Schrubber“-Shuffle propagierten. Er lässt sich auch im Herzen des amerikanischen Country-Sounds finden, der, wenn man sich intensiv mit dem Thema beschäftigt, von der traditionellen irischen Musik abgeleitet ist. Hello Oma!
Wo auch immer die Ursprünge liegen – und wie bei allen Musikstilen lässt sich jeder letztlich weltweit nachweisen –, Tatsache war, dass ich mich in den Rhythmus verliebte. Man konnte behaupten, dass er mir im Blut lag.
Im Alter von elf Jahren trat ich dem Schulorchester bei. Nicht als Gitarrist, sondern als Trompeter. Dort begegnete ich zum ersten Mal Alan Lancaster, mit dem ich dann Status Quo gründen sollte, und einem anderen Kind namens Alan Key, einem eher zurückhaltenden Jungen, der ebenfalls Trompete spielte. Lancaster spielte hingegen Posaune.
Alan Lancaster war zwar ein Zwerg, aber der Obermacker. Das zeigte er gleich am Anfang. Er wusste ständig etwas Positives über sich zu erzählen. Eine geborene Führungsperson, könnte man meinen. Ich entwickelte mich schnell zum Anhängsel, war zwar von außen betrachtet der starke Typ, doch bei Alan handelte es sich um den tatsächlich „harten Hund“. Er sah die Gruppe wahrscheinlich als seine Formation an, und niemand wollte mit ihm darüber streiten. Um es mal so zu formulieren: Er war dafür bekannt, seine Fäuste „kunstvoll“ einzusetzen. Schließlich, als mein Selbstvertrauen zunahm, forderte ich ihn heraus und erinnerte ihn daran, dass niemand der Boss in einer Band sei, dass wir alle dazugehörten. Doch Alan war nicht der Typ, der bei einer Streitigkeit nachgab, woraufhin wir uns ständig über das Thema fetzten. Allerdings veränderte das nicht viel. Alan gab einfach niemals nach. Oftmals wird ja behauptet, dass Demokratie in einer Band nicht funktioniere. Man müsse Führungspersonen haben, denn sonst entwickle sich das Projekt nicht.
Zuerst passte mir das in den Kram, denn ich war sicherlich nicht das typische Alphamännchen. Alan als Schulfreund an meiner Seite zu wissen, bedeutete Sicherheit vor den anderen Hooligans, denjenigen, die mich damit aufzogen, dass ich einen Mädchennamen trage und gekünstelt rede. Als ich Alan das erste Mal traf, meinte sogar er: „Du sprichst aber verdammt affig, oder was?“ Doch ich hing immer öfter bei ihm ab, mochte seinen Vater und seine Mutter sehr. Es gibt da die Redewendung „salt of the earth“ (rechtschaffene Leute) – und auf die beiden traf sie exakt zu.
May, Alans Mutter, lässt sich als liebenswürdige und anständige Frau beschreiben. Ich nahm immer an, dass spanisches Blut in ihren Adern fließe, da sie einen dunklen Teint hatte und gleichzeitig leidenschaftlich sein konnte. Sie verhätschelte und verwöhnte mich. Harry, sein Vater, verhielt sich mir gegenüber immer nett. Er war ein Ex-Boxer, einer dieser Kerle, die jeden Abend von der Maloche kommen, sich das Hemd ausziehen und sich mit einem Netzunterhemd über der Küchenspüle für den Abend rasieren. Er hätte sich niemals für die Arbeit rasiert.
Eines Tages wartete ich auf Alan, der sich noch zurechtmachte. Sein Dad meinte: „Auf den Jungen kannst du lange warten, echt.“ Wir schauten also fern, sahen einen Typen, der sich recht gut ausdrücken konnte, und Harry rief: „Hier, May. Schau mal, der im Fernsehen ist wie Ross!“ Sie nannten mich immer Ross. Sie kam in den Raum, schaute auf den Bildschirm und meinte: „Nee. Er ist jetzt einer von uns.“ Ich fühlte mich so stolz, ihnen immer mehr zu ähneln, wie einer dieser Kumpel aus der Südlondoner Arbeiterklasse zu werden. Ein Typ, der den anderen gehörig Angst einjagen kann. „Versuch nicht, mich anzumachen, Junge! Ich werd’s dir so richtig zeigen!“ Allerdings wusste ich auch, niemals wirklich so werden zu können, denn ich war viel zu weich, um jemandem Angst einzujagen. Es fühlte sich aber gut an, von ihnen akzeptiert zu werden.
Auch wenn mich die anderen Kids in der Schule nicht mehr wegen meines Namens hänselten – ich hieß nun Mike oder Ross – oder wegen meines Akzents – nun voll mackermäßig –, fanden sie doch immer noch einen Weg, um mich aufzuziehen. Sie behaupteten, Italiener würden immer nach Knoblauch stinken und Würmer (Spaghetti) essen. Darum umgab ich mich auch mit der Fassade des harten Typen. Ich lernte, wie man ständig flucht, und täuschte eine Art Macho-Kumpel mit witziger Seite vor. Wie Alan Lancaster, mit der Ausnahme, dass er nicht witzig sein musste. Er war tatsächlich ein durch und durch brettharter Kerl. Ich hingegen musste immer witzig sein, denn das stellte meine beste Verteidigung dar. Doch ich fühlte mich niemals wie ich selbst, wusste, dass das alles nur eine Rolle war.
Mein ältester Sohn Simon verhielt sich ähnlich, als er aufwuchs. Unter bestimmten Umständen konnte er die Rolle des „harten Hundes“ spielen, war jedoch ein hypersensibles Kind. Simon arbeitet nun beim Musical und in der Oper – er ist ein fantastischer Sänger. Seinen Erzählungen nach fühlte er sich erst glücklich, als er in diese Welt eintrat, da er das Genre entdeckt hatte, in dem er sich wirklich ausleben und aufblühen konnte. Ich hingegen musste mir jeden einzelnen Meter meines Weges erkämpfen, um das zu erreichen, was ich mir wünschte. Was also hieß: eine Maske aufsetzen, durch die ich insgeheim blinzelte, während ich darauf wartete, dass alles sicher ist, dass ich rauskommen und ich selbst sein kann.
Unser Wohnort in Balham war in sozialer Hinsicht Welten entfernt von Forest Hill, wo wir noch bei Nonna lebten. Es war hart. Die Prostituierten warteten nicht auf die Dämmerung, sondern standen schon mitten am Nachmittag an den Straßenecken und lockten die vorbeikommenden Autofahrer, fragten, ob sie mit ihnen ein „Geschäft“ machen wollten. Mehr als einmal musste Mum nach draußen gehen, um einen Streit zwischen den „arbeitenden Damen“ zu schlichten, den sie direkt vor unserer Ladentür austrugen. Ich wusste, dass es „anrüchige Mädchen“ waren, doch auch wenn man mir genau erklärt hätte, was sie machten, hätte ich dem keine große Aufmerksamkeit geschenkt.
Ich war elf Jahre alt, als wir nach Balham zogen, und obwohl ich schon eine Weile unter der Decke „herumspielte“, hatte ich der Welt des Sex noch keine großen Gedanken gewidmet. Für mich gab es noch keine schlüssige Formel, die eine Verbindung herstellte zwischen meinem „Herumspielen“ und tatsächlichem Sex mit dem anderen Geschlecht. Als einige ältere Kids aus der Nachbarschaft mir und meinen Freunden von einem Friseur an der Hauptstraße erzählten, der den Jungs einen Fünfer zustecke, wenn er ihnen unter dem Friseurumhang einen wichsen dürfe, sprachen wir tagelang darüber. Sich einen runterzuholen, war nicht mehr, als sich einfach einen runterzuholen. Doch dafür einen Fünfer zu bekommen – das stellte damals für uns ein Vermögen dar. Wir kamen jedoch schnell zur Besinnung, denn unsere Gehirne hielten die Körper in Schach, weswegen der Friseurbesuch keine so gute Idee mehr zu sein schien.
Als Teenager wurde ich mehr oder weniger ein Familienmitglied der Lancasters – auf Gedeih und Verderb. Die Lancasters waren die archetypische Hart-wie-Granit-Familie aus Peckham im Süden Londons. Sie hielten eine schwarze Katze mit dem Namen Nigger, doch ließen sich als einander eng verbundene, liebevolle Gemeinschaft beschreiben. Damals fühlte ich mich glücklich, ein Teil von ihnen zu sein. Zum ersten Mal erlebte ich außerhalb meiner eigenen Familie das Gefühl von Zugehörigkeit. Es vermittelte mir den Eindruck von Sicherheit. Doch wenn ich heute zurückblicke, werte ich es als ein Versagen. Dass man mich als Kind so leicht in eine bestimmte Richtung lenken konnte und dass ich so verzweifelt versuchte, mich in eine bestimmte Schicht einzuordnen, war eine eindeutige Charakterschwäche. Es waren gute Leute, doch nicht meine Leute. Ich war schon zufrieden, dass sie mich annahmen, und das stellte sicherlich keine gute Basis für eine gesunde Beziehung dar.
Wenn ich zurückschaue, erkenne ich vieles in meinem früheren Leben, das mir furchtbar peinlich ist. Ich bin mir sicher, dass es vielen Menschen so geht. Für mich ist das ein positiver Aspekt, denn es beweist, dass man im Laufe der Jahre durch seine Fehler dazugelernt hat. Oft muss man sich vor den Menschen hüten, die auf ihre Kindheit zurückblicken und überhaupt keine Fehler sehen. Rick Parfitt gehörte dazu, doch Rick war ein Einzelkind und meinen Erfahrungen nach entwickeln sich diese Kinder häufig so.
Während der Kindheit war Alan zwar der Anführer und konnte verdammt einschüchternd auftreten, doch er schätzte unsere Freundschaft und die Unterschiede zwischen uns. Ich war groß, und er war klein. Jahre später, als wir immer noch versuchten, mit Quo durchzustarten, zeigte mir Alan ein Bild von Simon and Garfunkel. Er meinte: „Schau mal, das sind du und ich.“ Ein großer Blonder, ein kleiner Dunkelhaariger. Ich neigte dazu, ihm zuzustimmen, doch dachte insgeheim, dass ich uns überhaupt nicht so sehen wollte. Aber Alan zeigte sich zufrieden, und als Jugendlicher war das alles, was mir wichtig erschien – andere Leute glücklich zu machen, sodass sie sich nicht gegen mich richteten. Und ich gehörte dann dazu. Egal wozu. Hauptsache, man ließ mich nicht draußen in der Kälte stehen.