Читать книгу TOD IN DEN KLIPPEN - Francisco J. Jacob - Страница 10
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In den Klippen
Am Frühstückstisch las ich die Zeitung, und mit besonderem Interesse die Wettervorhersage. Der Regen sollte eine Pause einlegen, hieß es darin. Der Blick aus dem Fenster bestätigte die Vorhersage. Es war trocken und die Wolken ließen inzwischen mehr Sonnenstrahlen durch. Trotzdem war es kalt. Ich trug warme wetterfeste Kleidung und machte mich auf den Weg zu einem Spaziergang.
Zunächst besuchte ich das Café Carmen. Es hätte auch Café Rojo (Rotes Café) heißen können, weil die Einrichtung durchgehend in Rot gehalten war. Die Tische und Stühle, der Tresen, die Kuchenvitrine, die Rahmen der großen Pop Art Bilder und selbst das Geschirr leuchtete im glänzenden Rot. Sofort stieg mir der aromatische Kaffeeduft in die Nase. Die leise Lounge Musik bot, gemeinsam mit der angenehmen Wärme, eine behagliche und entspannte Atmosphäre. Mein Blick schwenkte sofort wieder zur gut gefüllten Kuchenvitrine. Diese hatte mich schon immer magisch angezogen.
»¡Señor Lessemaan!«, rief eine sympathische weibliche Stimme begeistert hinter mir.
Ich drehte mich um und sah Carmen, wie sie schick gekleidet und mit hochtoupiertem Haar mir entgegenkam. Die kleine untersetzte Dame über sechzig sah mich freudestrahlend an.
»¡Buenos días!«, sagte ich und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie hingegen begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung. »¡Buenos dias! Schön, dass Sie wieder da sind!«
»Danke. Ich bin ...«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie aufgeregt. »Es ist wegen der Hochzeit von Ana-María und Víctor, nicht wahr?«
Ich dachte mir schon, dass sich die Dinge in Ribadés schnell herumsprachen.
»Und Sie sind extra aus Alemania hergekommen«, fuhr sie fort.
»Ja, ich komme gern nach Ribadés, um meine ehemaligen Freunde wiederzusehen. Sie erinnern sich, wie ich sie im letzten Jahr wiedergefunden habe?«
Carmen nickte. Sie hatte es direkt miterlebt, da das Wiedersehen in ihrem Café stattgefunden hatte.
»Tja, ist nur dumm, dass sie im November heiraten muss – bei so einem Regenwetter«, sagte sie und rieb die Hände aneinander. »¡Es un tiempo asqueroso!«, (Es ist ein scheußliches Wetter!).
»Ja«, stimmte ich lächelnd zu. »Obwohl mir dieses Herbstwetter auch gefällt. Es erinnert mich an meine Kindheit.«
»Jaja, wie die Zeit vergeht«, kommentierte sie mit einem melancholischen Blick. (...) Dann wurde sie wieder aufmerksam. »Möchten Sie einen Café con leche?«
Ein frischer Wind wehte über die Plaza, die ich kreuzte. Mein Weg führte später zum Kai, an dem die bunten Fischerboote anlegten. Wegen des unruhigen Seegangs tanzten sie wellenförmig auf und ab und stießen mit den Gummireifen, die als Puffer an der Bordwand befestigt waren, gegen die Kaimauer. Die Wolken lockerten immer mehr auf. Ich kam an der sogenannten Rula vorbei, der Fischauktionshalle, in der der fangfrische Fisch lautstark versteigert wurde. Anschließend ging ich die Kaipromenade entlang, die am Fuße eines niedrigen Bergrückens, welcher Ribadés vor dem Atlantik schützt, endet. Der Weg hinauf führte über einen engen und serpentinenhaften Pfad.
Oben angekommen, wehte mir ein kalter Wind entgegen, so dass ich den Hut tiefer ins Gesicht zog und den Reißverschluss meiner warmen Regenjacke bis hoch zum Kragen schloss. Ich befand mich auf dem höchsten Punkt von Ribadés. Von dort bot sich mir eine weite Rundumsicht. Der schiefergraue, wolkenverhangene Himmel schien in den ebenso grauen und stürmischen Wassermassen des Atlantik überzugehen, sodass der Horizont schwer auszumachen war. Ich zog ein kleines ausziehbares Fernrohr aus der Tasche und betrachtete die weit draußen fahrenden Schiffe. Mein Weg führte anschließend an zwei gusseisernen Kanonen auf Rädern vorbei, die zum Flussdelta hin ausgerichtet waren und vor Jahrhunderten, die Verteidigung der Stadt übernommen hatten. Ein paar Schritte weiter kam ich zur Ermita, einer kleinen und sehr schönen Kapelle. Von dieser Stelle aus hatte ich zur Rechten einen weitläufigen und ruhigen Blick über die Stadt, zur Linken aber, fiel es gefährlich steil zum aufbrausenden Meer hinab. Die basaltgrauen Klippen mit ihren scharfen Kanten wurden von hohen und stürmischen Wellen des Atlantik unaufhörlich ausgepeitscht. Der Wind trieb die Gischt ein beträchtliches Stück bergauf. Ein aufbrausendes Naturschauspiel spielte sich vor meinen Augen ab. Vor nicht zu langer Zeit hatte ich einen Online-Bericht über ›Storm Watching‹ gelesen, das Beobachten der Naturgewalten von einem sicheren Standort aus. Nun konnte ich es nachvollziehen.
Weiterhin verlief der Weg leicht abschüssig den Berg hinunter. Wegen des Windes hielt ich meinen Kopf nach unten geneigt und musste den Hut von Zeit zu Zeit festhalten. Ein Jogger kam mir von Weitem entgegen, bis ich erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Sie trug eng anliegende pfirsichfarbene Sportkleidung, die ihre attraktive Figur in besonderem Maße betonte. Die Wollmütze, mit der sie ihren Kopf wärmte, und ihre Laufschuhe waren ebenso pfirsichfarbig. Ihr Busen wippte bei jedem Laufschritt ausgelassen auf und ab. Als sie an mir vorbeilief, grüßte sie mit einem Kopfnicken, ja sogar mit einem Lächeln. Ich lüftete den Hut. Diese entzückende Dame Mitte dreißig war durchgängig sexy gekleidet. Mein Blick blieb schließlich an ihrem kurvigen Po haften, der sich mit dem Laufrhythmus elegant hin- und herbewegte. Als sie unerwartet ihren Kopf nach mir umdrehte, reckte ich meinen reflexartig nach oben, um mir keine Blöße zu geben. Der Wind fand in diesem Moment genügend Angriffsfläche an der Krempe und blies mir den Hut vom Kopf. Sofort lief ich ihm hinterher und versuchte ihn zu ergreifen. Leider war der Hut schneller als ich. Mit einem Mal überholte mich die Joggerin und jagte dem Hut nach. Wegen der unberechenbaren Böen aber, konnte sie ihn nicht fassen, bis er schließlich über den Wegesrand zu den Klippen hinunter wirbelte.
»¡Señor Lesemann!«, rief sie überrascht und freute sich, mich wiederzusehen.
Als wir uns gegenüber standen, erkannte ich sie. Es war Lola, die charmante Assistentin vom Comisario. Sie war ungemein sexy und die Einzige in ganz Ribadés, die meinen Namen korrekt aussprechen konnte. Außerdem war sie ausgebildet im Personenschutz, was mit Sicherheit das Lauftraining bei diesem Wetter erklärte.
»Ich wusste gar nicht, dass sie wieder in Ribadés sind«, gab sie überrascht von sich, wobei sie wegen des Windes, laut sprechen musste.
»¡Buenos días, Señorita Lola!«, begrüßte ich sie mit gehobener Stimme. »Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen.«
»¡Buenos días!«, sagte sie, holte Luft und reichte mir charmant ihre Hand.
»Mein ehemaliger Schulfreund Mateo Rey hat mich zur Hochzeit seiner Tochter Ana-María eingeladen.«
»Ich verstehe. Señor Lesemann, Sie sehen wieder sehr elegant aus. Sie wissen ja, dass ich große Männer mit Hut mag.«
Vor fünfzehn Monaten hatte sie mir dasselbe Kompliment im Kommissariat gemacht.
»Ach ja, mein Hut!«, rief ich laut aus und ging zum Wegesrand, um nach ihm zu sehen.
»Der liegt jetzt unten in den Klippen!«
Ich sah den steilen Abhang hinunter in die graue zerklüftete Gesteinslandschaft. Die etwa achtzig Meter tiefe Felswand, die ich unter mir erblickte, verlief annähernd senkrecht bis zum Kiesstrand. Meinen Hut konnte ich nicht entdecken.
»Seien Sie vorsichtig!«, ermahnte mich Lola und beugte sich über einen kleinen Felsvorsprung vor, während der Wind stark um uns herum wehte.
Ich sah angestrengt in die Tiefe, es war nichts zu sehen. Ich holte das Fernrohr aus der Tasche, und suchte die Gegend ab.
»Sehen Sie was?«, fragte Lola.
»Nein!«
»Dort unten, rechts!«, sagte sie. »Da ist etwas!«
Ich schwenkte mit dem Fernrohr hinüber.
»Ja, es ist aber gelb! Es kann nicht mein Hut sein! Außerdem ist es größer als ein Hut!«, kommentierte ich laut. »Vielleicht ist es ein Müllsack!«
»In Ribadés gibt es keine gelben Müllsäcke!«, schrie sie zurück. »Sehen Sie genauer hin!«
Ich hielt mit dem Fernrohr genau hin und justierte mehrmals die Schärfe ein. Da sah ich etwas Erschreckendes auf einer der vielen Klippen.
»Lola, sehen Sie selbst!«, sagte ich fassungslos und übergab ihr das Fernrohr.
»¡Dios mío!« (Mein Gott!), rief sie entsetzt. »Es sieht aus wie ein Körper! Haben Sie die Arme gesehen?«
»Es ist ein Mensch mit gebrochenen Gliedmaßen in einem gelben Regenmantel.«
»Ja, es ist ein Mensch!«, bestätigte sie darauffolgend aufgelöst. »Wir müssen sofort runter zum Kiesstrand und nachsehen, ob er noch lebt!«
»Wir können von hier unglücklicherweise nicht hinunterklettern!«, sagte ich.
»Der kürzeste Weg ist über die Ermita und dann den Pfad hinunter zur Rückseite des Berges! Ich laufe schon los!«
»Sollten wir nicht zuerst Comisario de Vega oder Ihre Kollegen rufen?«
»Das mache ich unterwegs«, gab sie mir zur Antwort, während sie auf der Stelle loslief.
Ich sah erneut durch das Fernrohr und gewann den Eindruck, dass wohl alle Gliedmaßen dieses Körpers gebrochen waren. Es sah ganz nach einem Sturz von oben herab auf die Klippen aus. Bevor ich Lola folgte, zog ich ein Teleobjektiv aus der Tasche, das ich mir neu angeschafft hatte, setzte es auf mein iPhone und schoss einige Fotos. Dann machte ich mich auf den Weg. Als ich unten am Kiesstrand ankam, wurde es unsagbar laut. Die gewaltigen Wellen brachen an den vorgelegten Felsen. Ich spürte den feinen Nebel im Gesicht, der sich aus der Gischt bildete. Lola sah ich auf einer Klippe, die über zehn Meter hoch war. Sie näherte sich einer Nachbarklippe, von der ein regungsloser Arm über den Rand hing. Dort lag der Körper mit dem gelben Regenmantel. Nachdem ich mir das Gestein genauer angesehen hatte, folgte ich ihr. Sie sah zu mir hinunter und konnte es nicht fassen, als sie sah, wie ich zu ihr hinauf kletterte.
»Señor Lesemann, bleiben Sie unten! Es ist zu gefährlich!«, schrie sie mir entgegen.
»Ich weiß!«, antwortete ich laut zurück und stieg weiter den Felsen hinauf.
»Seien Sie bloß vorsichtig! Geben Sie Acht, dass Sie nicht abrutschen!«
»Lola, ich verstehe Ihre Führsorge, aber hier habe ich meine Kindheit verbracht, das war unser Spielplatz!«, verriet ich ihr, während ich weiterkletterte.
»Ist er tot?«, fragte ich sie, als ich etwas außer Atem oben angekommen war.
»Ja, aber er ist eine sie!«
Die Leiche im gelben Regenmantel lag auf dem Bauch. All ihre Gliedmaßen sahen vom Sturz gebrochen aus. Neben dem blutverschmierten Kopf hatte sich auf dem Gestein eine Blutlache gebildet. Ihr Gesicht war gänzlich zerschmettert.
»Sie hat sehr viele Knochenfrakturen!«, stellte Lola fest. »Beide Beine und Arme sind gebrochen!«
Es bot sich ein derart grauenvoller Anblick, dass ich wegsehen musste. Sie betrachtete die Tote etwas genauer, dann kniete sie sich neben ihr und hob mit einem Stöckchen den Regenmantel seitwärts etwas hoch.
»¡Dios mío!«, sagte sie erschüttert, und lies den Mantel langsam wieder herunter.
»Was ist?«, fragte ich besorgt.
Sie sah mich ergriffen an.
»Diese Frau war schwanger!«
»Sind Sie sicher?«
Sie nickte zweimal.
»Sehen Sie, Señor Lesemann!«, sagte sie betrübt, während sie einen durchsichtigen Plastikbeutel aus ihrer Tasche zog. »Das lag unten an der Klippe!«
Im Beutel befand sich ein Firmenausweis. Ich konnte nicht glauben, auf wen der Ausweis ausgestellt war. Der Name lautete Ana-María Rey, die Tochter meines Freundes Mateo.