Читать книгу TOD IN DEN KLIPPEN - Francisco J. Jacob - Страница 11
Оглавление4
Ein tragischer Unfall
Welch ein schrecklicher Fund.
»Aber, das kann doch nicht die Tochter von Mateo sein!«, sagte ich fassungslos. »Sie wollte übermorgen heiraten!«
Lola sah mich traurig an und fasste mir auf die Schulter.
»Wegen ihrer Hochzeit bin ich nach Ribadés gekommen!«
»Ja, ich weiß!«
Sie streichelte mir über die Schulter, um mich zu beruhigen.
»Es muss ein ganz schlimmer Unfall gewesen sein! Kommen Sie!«, sagte sie schließlich. »Hier können wir nichts mehr tun! Lassen Sie uns wieder runterklettern!«
Lola stieg zuerst hinunter. Mir fiel allerdings ein Stück graue Kunststofffolie auf, die sich in einem Felsspalt eingeklemmt hatte. Ich nutzte die Gelegenheit und schoß einige Fotos.
Die stürmische Brandung am Kiesstrand war ohrenbetäubend und der Wind wehte die Gischt gegen die Klippen. Mit etwas Glück fand ich meinen Hut wieder, den ich sogleich aufsetzte. Der graue Himmel zog sich zu und brachte feinen Nieselregen, der vom Wind verweht wurde. An einer windgeschützten Stelle saßen wir auf einem trockenen Felsen. Lola rief den Comisario an und berichtete ihm. Dort warteten wir auf die Polizei. Ich konnte es noch immer nicht fassen.
Mit dröhnenden Schritten kam Comisario de Vega herbeigeeilt. Bei jedem Schritt schien er den Kies unter seinen Stiefeln zu zermalmen. Als er näher kam, hob er verständnislos die Arme und schüttelte dabei den Kopf. Lola stand auf.
»¿Qué cojones paso? (Was zum Teufel ist passiert?), rief er uns laut entgegen.
»Comisario«, fing Lola an, »wie ich Ihnen am Telefon gesagt habe, haben wir die Leiche auf der Klippe gefunden«, und zeigte nach oben.
»Diego, du schon wieder?«, fragte er mich vorwurfsvoll.
»Es war reiner Zufall, dass ich ...«
»Natürlich!«, fiel er mir ins Wort. »Genau wie letztes Jahr in der Cueva. Du hast wirklich Talent.«
Ich war erneut in eine unangenehme Lage geraten. Eine Situation, in der ich derartige Funde gemacht hatte und daraufhin in die Fälle verwickelt worden war. Das war mir schon während einiger der gemeinsamen Reisen mit Hellen und in meinem früheren Berufsleben passiert.
Der Comisario wandte sich Lola zu.
»Bist du sicher, dass das Mateos Tochter ist?«
»Der Ausweis lag hier«, sagte sie. »Unterhalb der Klippe.«
»Hast du sie wiedergekannt? Du kennst sie doch.«
»Nein, ihr Gesicht ist komplett entstellt.«
»¡Joder!«, wetterte der Comisario und setzte sich neben mir auf den Felsen. »Das ist eine Riesenscheiße!«
»Ja, schrecklich«, pflichtete ich ihm bei. »Warum ausgerechnet Mateos Tochter?«
»¡La hostia! Hätte es nicht jemand anderes sein können? ... Wie soll ich das Mateo beibringen?!«
Erneut ertönten dröhnende Schritte auf dem Kies. Es waren mehre Polizeibeamte und Leute in weißen Overalls, die sich uns näherten. Iker Bosco von der Spurensicherung aus Gijón kannte ich. Er war schlank, mittelgroß, trug stets karierten Tweed und eine Fliege. Seine scharfe Beobachtungsgabe zeichnete ihn aus.
»Kenne ich Sie nicht?«, fragte er mich nachdenklich. »Natürlich, Sie haben letztes Jahr die Leichen in der Höhle gefunden.«
»Ja, ich bin Diego Lesemann« sagte ich und nickte.
Dann sah er mich erneut an.
»Sagen Sie nicht, dass Sie heute wieder eine gefunden haben.«
»Jetzt ist aber gut«, unterbrach der Comisario. »Da oben ist die Leiche. Aber bei dem Wetter werden Sie garantiert nichts finden.«
»Wenn Sie schon oben waren, sicher nicht«, gab Bosco zurück.
»Keine Sorge, ich hab Ihnen den Vortritt gelassen.«
Er sah nach oben, wo der Arm der Leiche immer noch über den Rand hing.
»Kommen Sie Comisario, es ist ganz leicht da hochzuklettern. Selbst Sie dürften das mit etwas Elan schaffen.«
Der Comisario winkte ab.
»Das hat Lola hier unten gefunden«, bemerkte er kurz und gab ihm den Beutel mit dem Ausweis. Dann wendete er sich zu uns.
»Lola, du hast gesagt, dass das Gesicht zerschmettert ist?«
»Ja. Señor Lesemann hat es auch gesehen.«
»Dann ist die auf dem Weg zur Ermita oben abgerutscht und runtergeflogen«, kombinierte er. »Und beim Sturz mit dem Gesicht auf die Klippe gekracht.«
»Das klingt logisch, Comisario«, sagte sie. »Was aber macht eine schwangere Frau bei diesem Wetter in dieser Gegend?«
»Das frage ich mich auch«, kommentierte ich.
»Diego!«, fuhr sogleich der Comisario dazwischen. »Glaub ja nicht, dass du wieder Privatdetektiv spielen kannst. Du machst deine Zeugenaussage in der Comisaría und das war‘s für dich.«
»Ich werde meine Reise ohnehin abbrechen, da ich wegen der Hochzeit hergekommen bin.«
»Comisario«, rief Lola vorsichtig dazwischen, »Cata ist da.«
Cata Meral, eine kleine, mollige und etwas vorlaute Frau um die vierzig war die Gerichtsmedizinerin. Auch sie kam aus Gijón und kannte mich von den Vorkommnissen im letzten Jahr.
»Da bist du ja«, begrüßte er sie ungeduldig.
»¡Buenos días!«, entgegnete sie und sah mich an.
Der Comisario bemerkte ihren Blick.
»Ja, das ist Diego und du kennst ihn vom letzten Jahr«, fasste er zusammen. »Er hat mit Lola die Leiche gefunden.«
»Oh, Sie haben wohl eine Nase dafür«, sagte sie ironisch.
»Die Tote ist da oben«, erklärte er und zeigte hinauf.
»Das ist nicht dein Ernst«, gab sie erstaunt von sich, als sie auf die Klippe sah.
Nach kurzer Zeit kam sie wieder zurück und schüttelte den Kopf. Der Comisario wartete bereits ungeduldig.
»Und, was gibt‘s?«
»Sowas habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, sagte sie. »Der wuchtige Aufprall hat ihr den Kopf und das Gesicht zerschmettert. Genick, Rippen, Arme und Beine sind gebrochen. Und schwanger war sie auch. Ich schätze, im fünften Monat.«
»Das reicht«, sagte er gedrückt. (...) »Weißt du, wer sie ist?«
»Nein, wieso?«
»Sie ist die Tochter von meinem Freund Mateo. Am Samstag wollte die heiraten.«
»Fernando, das tut mir aber sehr leid«, sagte die Medizinerin und nahm ihn in die Arme.
»Schon gut, Cata.«
»Da ist noch was«, bemerkte sie. »Am rechten Zeigefinger hat sie ein Tattoo, einen Rosenkranz. Meinen Bericht bekommst du morgen.«
Der Comisario nickte, aber mir schien es, als hätte er es nicht zur Kenntnis genommen. Von der sonstigen Aufforderung, die Untersuchung der Leiche so schnell wie möglich durchzuführen, hörte ich nichts. Der Schock saß tief in ihm.
Mittlerweile kam Iker Bosco vom Felsen heruntergeklettert.
»Comisario, ausnahmsweise haben Sie Mal Recht« sagte er mit anteilloser Mimik. »Nichts, bist auf ein Stück graue Plastikfolie, das sich in einem kleinen Felsspalt neben der Leiche eingeklemmt hatte. Es könnte ein Stück von einem Müllsack sein. Ach ja. Und ein nasser Zigarrenstummel, der hier unten lag.«
Der Spurensicherer roch intensiv an dem Stummel.
»Honigsüß, würde ich sagen. Und wenn ich mich nicht täusche, ist es eine Havanna.«
»Die ist garantiert angeschwemmt worden. Wie alles hier.«
»Comisario, die Schlussfolgerungen überlasse ich Ihnen.«
»Kein Ausweis? Kein Schlüssel?«, fragte er unzufrieden.
»Nein, nichts dergleichen.«
»¡Cojones!«, fluchte er. »Wer geht denn schon bloß mit dem Scheißregenmantel auf die Straße und hat sonst nichts dabei?!«
Der Regen hatte aufgehört. Die Leiche wurde in einem Zinnsarg abtransportiert und der Comisario schüttelte mehrfach den Kopf. Lola fror, als sie unvermittelt mit Aufwärmübungen begann.
»Señor Lesemann, mir ist kalt. Ich werde jetzt nach Hause laufen«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen.
»¡Adíos!«, erwiderte ich und gab ihr die Hand.
Mit federleichten Schritten schien sie lautlos in ihrer pfirsichfarbenen Sportkleidung über den Kiesstrand hinweg zu schweben. Mein Blick folgte ihr, bis sie hinter einer Klippe verschwand.
Diese Situation machte mir deutlich, wie kontrovers die Dinge des Lebens sein können: einerseits das blühende Leben Lolas und andererseits der Tod in den Klippen.
Ich dachte über den Leichenfund nach und konnte mir nicht erklären, weswegen ich erneut in einer solchen Lage war.
»Warum passiert dir denn immer so‘n Scheiß?!«, fragte mich der Comisario, der unverhofft neben mir stand. »Letztes Jahr der tote Sohn von Alonso, und kaum bist du wieder hier, findest du die Leiche von Mateos Tochter. Jedes Mal wenn du herkommst, findest du irgendeine Leiche von unseren Freunden.«
Es beschlich mich das Gefühl, dass ich in seinen Augen eine gewisse Schuld an diesen Tragödien hatte.
»Ich weiß es nicht, Fernando«, gab ich ihm ehrlich zur Antwort. »Glaubst du an Vorsehung?«
»Was soll denn die blöde Frage?«, gab er verunsichert zurück.
»Wenn du daran glaubst, dann soll es wohl so sein, und wenn nicht, dann ist es Zufall.«
Er sah mich verwirrt an.
»Egal!«, sagte er sauer und ging los. »Ich muss jetzt zu Mateo und ihm die Scheißnachricht bringen, dass seine Tochter tot ist.«
»Ich verstehe, dass es sehr unangenehm ist. Ich gehe mit dir.«
»Brauchst du aber nicht!«, sagte er salopp.
»Fernando, das ist nicht dein Ernst. Mateo und Ana sind ebenso meine Freunde und ich habe dazu noch die Leiche gefunden.«
»¡Joder! Deswegen ja!«
»Was soll das heißen?!«, fragte ich mit lauter Stimme und blieb stehen. »Glaubst du ernsthaft, dass ich irgendeine Schuld an dem Unfall habe?«
»Das hab ich nicht gesagt«, wiegelte er ab.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?! Soll ich mich etwa aus dieser Situation heraushalten und heimlich Ribadés verlassen?!«
»Diego, so war‘s nicht gemeint. Du steckst in einer Scheißlage.«
»Es ist doch wohl so, dass die Situation generell vertrackt ist – für mich und für dich! Und wenn ich weiterdenke, sollte ich Hellen anrufen, damit sie ihren Flug storniert!«
Dem Comisario wurde es unangenehm. Er spitzte den Mund und dachte nach.
»Weißt du was?«, sagte er entschlossen. »Wir fahren erstmal in die Sidrería. Lass uns die Sache in Ruhe verdauen, bevor wir zu Mateo und Ana gehen.«
Wir stiegen in seinen Dienstwagen ein. Es war noch immer der alte Seat, den er fuhr. Beim Anfahren ließ er wie gewohnt die Reifen quietschen, dann rasten wir los. Glücklicherweise kannte ich seinen Fahrstil, sodass ich mir als erstes den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Er benützte lediglich den ersten und den zweiten Gang, wobei er die Kupplung jedes Mal über die Maßen hinaus schleifen ließ. In den Kurven oder beim Abbiegen stützte ich mich vorsorglich ab und hielt mich zusätzlich am Haltegriff fest, in der Hoffnung, dass dieser stabil genug war. In kürzester Zeit und mit einer Vollbremsung standen wir schließlich vor der Sidrería.
»¡Vámonos!«, sagte der Comisario und rieb sich die Hände. »Ein bisschen Hunger hab ich auch schon.«
Wie konnte er nach einem solch schrecklichen Vormittag jetzt ans Essen denken, dachte ich mir. Aber das lag sicher daran, dass er es in seinem Beruf so gewohnt war.
Wir stiegen aus dem Wagen, als eine Stimme hinter mir rief.
»Diego?«
Ich drehte mich um und sah Ángel Montés, meinen ehemaligen Schulfreund und Priester der Kleinstadt, in schwarzer Soutane auf mich zukommen. Er war schlank und hatte einen aufrechten Gang, so wie sein Charakter. Er hatte sich nicht verändert.
»Der hat mir jetzt grade noch gefehlt«, sagte der Comisario und verzog das Gesicht.
»¡Hola Diego!«, begrüßte er mich freundlich. »Ich habe dich schon erwartet.«
»¿Hola Ángel, wie geht es dir?«
»Ich bin zufrieden und glücklich, dich wiederzusehen«, dann umarmte er mich wie einen Bruder. »Wo ist deine Frau?«
»Hellen ist noch in München. Sie hat mit ihrer Fotoausstellung zu tun, kommt aber morgen nach.«
»Schön! Ich würde mich nämlich sehr freuen, euch am Samstag vollzählig bei der Trauung zu sehen.«
Mit großen Augen sah der Comisario zu mir.
»Ich hab´s doch gewusst!«, donnerte er sogleich los.
Ángel schaute ihn zweifelnd an.
»Hab ich etwas Falsches gesagt?«
»¡Joder, no!«, gab der Comisario zurück. »Du hast uns nur zur falschen Zeit erwischt.«
»Ich verstehe kein Wort. Kann mir das jemand erklären«, fragte er verwundert.
Der Comisario sah mich fragend an. Ich zuckte die Achseln.
»Also gut«, sagte er nachgiebig. »In Gottes Namen.«
»Fernando, ich bitte dich, halte Gott daraus.«
»Dann eben ohne Gott: Mateos Tochter ist tot!«, posaunte er geradewegs heraus.
»Was sagst du da?«
»Du hast schon richtig gehört. Diego hat die heute tot in den Acantilados (Klippen) gefunden. Wir sind gerade auf dem Weg zu Mateo und seiner Frau.«
»Um Himmels Willen«, sagte Ángel bestürzt. »Das darf doch nicht wahr sein.«
»Ich fürchte doch«, murmelte ich bedrückt. »Bei einem Spaziergang zur Ermita heute Morgen habe ich die Leiche in den Klippen entdeckt. Lola war zufällig auch da. Das Gesicht ist vom Aufprall bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Ein schrecklicher Anblick.«
»¡Dios mío!« (Mein Gott!), sagte er und bekreuzigte sich gleichzeitig. »Und sie war auch noch schwanger.«
Dann herrschte Stille.
»Ana sagte mir, dass sie heute wegen ihres Brautkleides nach Ribadés kommen wollte. Aber was hat sie dort oben gesucht?«, fragte er nachdenklich.
»Ganz einfach«, fing der Comisario mit seiner Begründung an. »Die wollte zur Ermita, vielleicht zum Beten, und ist auf dem Weg dahin abgerutscht und runter auf die Klippen geknallt.«
»Welch ein tragischer Unfall. Sie hatte doch am Samstag vor zu heiraten. Es ist alles vorbereitet.«
»Die Hochzeit ist jetzt auch egal«, kommentierte der Comisario.
»Und was für ein Schock für Ana und Mateo ... und die ganze Familie.«
Der Priester konnte es nicht fassen.
»Ich kann das nicht begreifen«, sagte er erneut. (...) »Und ihr seid sicher, dass es Ana-María ist?«
»Joder, was soll das denn jetzt?«, empörte sich der Comisario.
»Fernando, bitte fluche nicht wieder. Ich meine, ihr Gesicht war doch ... nicht wiederzuerkennen.«
»Na und? Willst du Privatdetektiv spielen?«, fragte er grimmig. »Wir haben den Firmenausweis gefunden, das reicht doch, oder?«
»Das ist natürlich etwas anderes.«
»Ich verstehe dich, Ángel«, pflichtete ich ihm bei. »Ich habe mich auch gefragt, warum sie bei diesem Wetter zur Ermita gehen musste. Und ein herumliegender Ausweis und ein Tattoo sind auch keine definitiven Beweise.«
»Diego, jetzt fang du nicht auch noch an!«, ermahnte mich der Comisario.
»Ein Tattoo?«, fragte Ángel skeptisch. »Was für ein Tattoo?«
»Na eben ein Stinknormales! Die hat´s auf dem Mittelfinger der rechten Hand. Und es ist sogar ein Rosenkranz«, sagte der Comisario gereizt. »Da must du dich doch freuen.«
»Sofia hatte kein Tattoo am Finger«, entgegnete der Priester strikt. »Das wüsste ich.«
»Wieso das denn?«
»Ich habe ihr erst letzten Sonntag die Beichte abgenommen. Und ich sehe die Finger, wenn meine Gemeinde auf der Bank vor mir kniet, die Hände zum Gebet gefaltet, um die Hostie zu empfangen.«
Der Comisario und ich sahen uns überrascht an.
»Na dann hat die das in den letzten Tagen tätowieren lassen«, sagte er. »Außerdem haben wir den Ausweis.«
»Aber Fernando, ist es nicht leichtfertig, wegen der wenigen Beweise Ana und Mateo die Nachricht vom Tod ihrer Tochter zu überbringen?«, redete Ángel dem Comisario ins Gewissen.
Mein Freund machte plötzlich einen verblüfften Eindruck. Er zog die Augenbrauen nach oben und spitzte die Lippen. Er schien nachzudenken. Dieselbe Mimik hatte er aufgelegt, als ich ihm vor einem Jahr eröffnete, dass er mein ehemaliger Schulkamerad sei.
»Ángel hat vollkommen Recht«, kommentierte ich. »Es müssen eindeutige Beweise vorliegen, bevor wir zu Ana und Mateo gehen. Der Ausweis kann zufällig dort gelegen haben.«
»Ja, oder absichtlich«, kombinierte der Comisario sofort und dachte weiter nach.
»Wie meinst du das?«, fragte ich ihn.
»Na, wie ich‘s gesagt hab!«, antwortete er entschieden.
»Du denkst doch nicht etwa, dass jemand ...«
»Ángel!«, unterbrach er meinen Satz und wandte sich zu ihm. »Kennst du die Schneiderin und weißt du, wo die wohnt?«
»Aber natürlich. Señora Esmeralda wohnt unten am Hafen in der Calle del Sol 10.«
»Esmeralda was?!«, fragte der Comisario ruppig. »Ich kann ja schlecht nach ‘nem Vornamen suchen.«
»Natürlich. Esmeralda Rovala.«
»Dann werd ich mal Señora Esmeralda besuchen«, sagte er und stieg rasch in seinen Wagen.
Mit quietschenden Reifen fuhr er los. Ángel schüttelte nur den Kopf. Nach nicht einmal zwanzig Metern bremste der Comisario abrupt. Der Motor heulte auf. Ich sah, wie das Rückfahrlicht aufleuchtete. Plötzlich fuhr er mit quietschenden Reifen und genauso schnell rückwärts. Mit einer Vollbremsung beendete er direkt neben uns seine Fahrt. Er fuhr die Seitenscheibe herunter.
»Diego, du kannst jetzt zur Comisaría gehen und deine Aussage machen!«, ordnete er an. »Sonst hältst du dich aus der Sache raus. Ist das klar?! Ihr sagt zu keinem was! Beide!«
»Wie du meinst. Aber, es war doch ein Unfall.«
»Das werden wir noch sehen«, gab er zurück.
Obwohl ich nach Ribadés gereist war, um an einer Hochzeitsfeier teilzunehmen, war ich erneut auf dem Weg zur Polizei, um meine Zeugenaussage zu Protokoll zu geben. In der Calle de la Paz (Straße des Friedens) kam mir bereits ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht und ohrenbetäubender Sirene entgegen. Diese Straße hatte schlicht den falschen Namen. Ich erkannte das Gebäude mit den Garagen an den Seiten wieder, welches mehr den Charakter einer alten Villa hatte, als den einer Comisaría. Die Fenster waren mit kunstgeschmiedeten Gittern versehen. Beide Tore, zur Rechten und zur Linken des Gebäudes und der hohe Zaun folgten dem Stil mit kunstvoll geschmiedeten Eisenstäben. Einige Polizisten der Policía Nacional kreuzten meinen Weg. Ich ging in das Gebäude und klopfte an die Tür von Zimmer 6. Es rührte sich nichts. Gerade als ich erneut anklopfen wollte, wurde die Tür von innen geöffnet. Lola stand vor mir. Ihr dezentes Rosenparfüm strömte mir in die Nase. Schleunigst nahm ich meinen Hut ab.
»Habe ich mich im Büro geirrt?«, fragte ich.
»¡No, no!«, erwiderte sie freundlich. »Pablo und ich haben die Räume getauscht. Zimmer 6 gefällt mir besser als mein früheres Zimmer 4.«
Sie lächelte und ich pflichtete ihr bei, ohne zu wissen, warum. Da beide Büros ähnlich geschnitten waren und eine Verbindungstür zu Comisario de Vegas Zimmer 5 hatten. Möglicherweise gab es irgendeine Assoziation zur Zahl sechs. Inspector Pablo, ein stattlicher Bursche, kannte ich vom Vorjahr.
»Kommen Sie herein, Señor Lesemann«, sagte sie freundlich. »Wollen Sie Ihre Zeugenaussage zu Protokoll geben?«
Sie hatte ihre sexy Sportkleidung gegen ein figurbetontes, braun gepunktetes Kleid mit hohen Absatzschuhen getauscht. Dadurch war sie fast zehn Zentimeter größer als am Morgen. Dazu trug sie Creole-Ohrringe, die durch ihr offenes dunkelbraunes Haar drangen. Und wieder roch ich ihr Parfüm.
»Ja«, antwortete ich etwas betört, »deswegen bin ich hier. Wollen Sie das Protokoll aufnehmen?«
»Mit großem Vergnügen, denn Pablo ist nicht da. Da wir die Leiche gemeinsam gefunden haben, sollte Ihre Aussage nicht viel anders sein als meine, und die habe ich schon protokolliert.«
»Sie haben Ihre Zeugenaussage bereits geschrieben?«, fragte ich überrascht.
Sie nickte charmant. Dann bot sie mir den überaus bequemen Besuchersessel an, in dem ich vor einem Jahr einen betörenden Traum über sie geträumt hatte. Sie saß aufrecht auf ihren Bürostuhl, zog die Tastatur des PCs an sich und schrieb exzellent mit zehn Fingern. Auf einem halbhohen Ordnerschrank stand das eingerahmte Foto, auf dem sie in einem knappen schwarzen Einteiler posierte, eine Schärpe trug und eine Trophäe in der Hand hielt. Es zeugte von einer gewonnenen Miss-Wahl vor nicht alzulanger Zeit. Gleich daneben lagen einige VOGUE Magazine ordentlich aufeinandergestapelt.
Sie nahm meine Aussage auf und druckte sie sogleich aus. Dann stand sie auf und straffte mit den Händen ihr eng anliegendes Kleid von der Taille abwärts, wobei sie sich zu mir beugte und mir einen Einblick in ihr Dekolleté bot. Sie tat es aber mit der mir bekannten glaubwürdigen Natürlichkeit, so dass ich keine hintergründigen Absichten vermutete. Sie lächelte, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Dann stand sie vor mir, holte Luft und gab mir das Dokument, welches ich zu unterschreiben hatte. Ich hatte vor, sie zu fragen, was es mit der Miss-Wahl auf dem Foto auf sich hatte, als der Comisario durch die Verbindungstür ins Zimmer hereinplatzte.
»Lola, du musst sofort im Computer nachgucken, was das Scheißtattoo bedeutet!«, wies er sie angesäuert an.
Dann erst bemerkte er meine Anwesenheit.
»¡Cojones! Du bist ja schon hier.«
»Du wolltest doch, dass ich die Aussage ...«
»Jaja, ist schon gut«, unterbrach er mich.
»Konntest du von der Schneiderin etwas erfahren?«
»Fehlanzeige! Mateos Tochter war in der Früh bei ihr und ihr habt die Leiche aber später gefunden. Das heißt, die könnte es sein. Punkt!«
»Die Warscheinlichkeit wird dadurch nicht höher, dass sie es ist«, bemerkte ich.
»Komm mir jetzt nicht wieder mit deinem wissenschaftlichen Denken«, kritisierte er.
Er wusste um meine methodischen Ansätze, mit denen ich ihm vor einem Jahr bei der Lösung des Kriminalfalls geholfen hatte.
»Ich frage mich noch immer, warum sich bei diesem stürmischen Wetter eine schwangere Frau auf den Weg zur Ermita macht«, sagte ich nachdenklich.
»¡Joder! Das hätte ich auch gern gewusst.«
»Ob Ana-María besonders gläubig war?«, fragte Lola. »Das könnte das Tattoo am Finger erklären.«
»Das könnten uns sicher ihre Eltern sagen«, ergänzte ich. »Aber die können wir nicht fragen, ohne einen Verdacht zu erregen.«
»¡La hostia!«, fluchte der Comisario. »Wir drehen uns im Kreis!«
»Obwohl Ángel der festen Meinung ist, dass sie kein Tattoo ...«
»Ach was«, unterbrach er mich, »der kann ja auch mal was übersehen und daneben liegen.«
Wir kamen nicht weiter. Wir hatten eine Leiche gefunden und konnten sie nicht identifizieren. Lola hatte zwar etwas über das Tattoo im Internet recherchiert, das auf eine Spiegelung des Charakters hindeutete, was sich jedoch als wenig hilfreich erwies. Wir konnten nichts weiter tun, als auf den Bericht der Gerichtsmedizinerin zu warten. Da klingelte das Telefon.
»Comisaría de Ribadés, hier spricht Lola ...«
Die Stimme am anderen Ende ließ sie nicht ausreden. Ich hätte zu gern Lolas Nachnamen erfahren.
»Einen Moment. Können Sie das bitte wiederholen«, sagte sie. »Der Comisario steht neben mir.«
Lola drückte die Lautsprechertaste, und wir hörten Ángels aufgeregte Stimme.
»Fernando, ich habe gerade eben Ana-María Rey getroffen! Sie ist nicht tot! ¡Bendito sea Dios!« (Der Herr sei gesegnet!).