Читать книгу Moritz und das geheimnisvolle Topasia - Frank Anders - Страница 7
2. Verfolgung mit Folgen
ОглавлениеUnschlüssig blickte Moritz zu beiden Seiten der Straße. Wenn Frau Müller ihm nicht entwischen sollte, musste er sich entscheiden. Und das sofort!
Da kam eines von den Zeitungsblättern auf ihn zu und blieb an seinem Schuh hängen. Moritz wollte es erst abschütteln, aber als er nach unten sah, wurde er stutzig. Auf der ihm zugewandten Seite stand in großen Buchstaben das Wort LINKS. Einen Augenblick überlegte er. Gab die Zeitung ihm einen Hinweis, in welche Richtung er laufen sollte? Er fasste einen Entschluss und lief los. Nach links. Und wie er um die nächste Ecke bog, sah er Frau Müller in Richtung des großen Stadions laufen, auf der Seite, wo Bäume und Sträucher den Weg säumten. Eine gute Gelegenheit, dachte er, sie zu beschatten. Vielleicht könnte er etwas über sie herausfinden. Und da außer ihm und Frau Müller kein anderer auf diesem Weg zu sehen war, lief Moritz zu ihr hinüber. Er entdeckte einen Ahornbaum, hinter dem er sich verstecken wollte, trat aber auf dem letzten Meter auf einen knorrigen Ast und machte damit Frau Müller auf sich aufmerksam. Ehe sie sich ganz umdrehen konnte, hatte sich Moritz bereits mit einem Sprung in den Schatten des Baumes gerettet. Er machte sich ganz klein und versuchte so leise wie möglich zu sein.
Als weiter vorn nichts zu hören war, glaubte er, dass sie ihn nicht gesehen hatte und es vermutlich für das Knacken eines heruntergefallenen Astes hielt. Er war sich seiner Vermutung so sicher, dass er hinter dem Baum hervorlugte. Plötzlich blies ihm ein eiskalter Windhauch ins Gesicht. Was war das denn für ein Spuk? Moritz blinzelte heftig, seine Haare wehten, ein Zittern jagte ihm über die Haut. Wieder zog er sich in den Schutz des Baumes zurück. Sie würde ihm entwischen, dachte er und haderte mit sich. Aber er entschied noch etwas zu warten. Sie war es, da gab es keinen Zweifel. Sie hatte den Wind gemacht! Wie konnte es auch anders sein? Nur eine wie sie konnte so etwas machen! Mit einem Mal verstummte der Wind und Moritz traute sich nach einigem Zögern hinter dem Baum hervor. In etwa zwanzig Schritt Entfernung lief sie vornweg, als sei gar nichts geschehen. Still und heimlich heftete er sich an ihre Fersen, achtete aber diesmal darauf, dass nichts im Weg lag, was ihn verraten konnte. Flüchtig sah er sich um und erkannte, dass außer ihnen noch immer keiner zu sehen war. Weder ein Auto, eine Straßenbahn oder Menschen. Sein Herz schlug schneller, doch die Neugier trieb ihn weiter hinter Frau Müller her.
Die schlurfte, sich auf ihren Stock stützend, vor ihm den Weg entlang und schien nicht zu bemerken, wie Moritz Stück für Stück auf sie aufholte. Plötzlich hielt sie inne, richtete ihre gebeugte Haltung auf und wandte sich um. Moritz, der sich jetzt ertappt sah, blieb wie versteinert stehen. Zu spät, um sich noch irgendwo zu verstecken. Erschrocken sah er sie an. Seine blasse Gesichtsfarbe färbte sich in ein knalliges Rot. Der Abstand zwischen ihm und der Frau betrug nur wenige Schritte.
»Was willst du?«, zischte sie und ging auf ihn zu. »Wieso verfolgst du mich?« Ihre Augen waren zu kleinen, schmalen Schlitzen geworden. Sie erhob ihren Stock gegen Moritz. Der begann zu stammeln, nach Ausreden suchend. »Ich … ich … wollte fragen –«
»Was wolltest du mich fragen? Haben wir nicht längst alles geklärt?«
Moritz versuchte sich zusammenzureißen, sich zu beruhigen. Sie konnte ihm nichts antun, redete er sich ein. Sie brauchte ihn ja, für ihren Garten. Und wenn sie ihm etwas antat, dann würden sie sie kriegen, seine Mutter und die Polizei. Ganz bestimmt. Er sah jetzt wieder den Ring mit dem grüngelben Kristall, der, wenn er nicht gefälscht war, sicher sehr wertvoll sein musste. Moritz zeigte auf den Fingerschmuck. »Darf ich den mal sehen?«
»Nichts darfst du! Hast du verstanden?«, tönte Frau Müller lauthals.
»Seit wann interessieren sich denn kleine Jungen für Ringe?«
Moritz nahm seinen Mut zusammen und ging ihr einen Schritt entgegen. Er wollte sich ihn nur zu gern anschauen. Damit aber war die Frau alles andere als einverstanden. Mit ihrem Stock stieß sie Moritz von sich.
»Au«, quiekte der kurz auf und hielt sich die gepiekste Stelle mit der Hand.
»Du bleibst schön da, wo du stehst«, sagte die Frau und hielt sich den Jungen mit Hilfe ihres Stockes weiterhin vom Leib.
Doch Moritz wollte sich nicht einschüchtern lassen. Wenn er sich den Ring nur mal aus der Nähe anschauen könnte, vielleicht würde er ja etwas erkennen. Wieder machte er einen Schritt auf sie zu. Damit schien er endgültig eine Grenze überschritten zu haben.
»DU BLEIBST STEHEN; SAGE ICH DIR!« Ihre Stimme klang jetzt so gewaltig, als stünde sie in einer großen Kapelle. Im selben Moment wie sie das sagte, stieß sie ihren Stock auf die Gehwegplatten und eine flimmernde Wand aus Luft erhob sich aus dem Boden.
Erstaunt wich Moritz einen Schritt zurück.
Frau Müller hinter der Wand aus Luft, schien ebenfalls zu flimmern und zu tanzen. Laut lachte sie auf. Sie lachte so grell, dass sich Moritz die Ohren zuhalten musste. Dabei sah er, wie sie allmählich zu verschwinden begann, als löse sie sich auf. Und wie gar nichts mehr von ihr zu sehen war, verschwand auch die flimmernde Wand wieder im Boden.
Moritz nahm die Hände von den Ohren. »Echt heftig«, sagte er wie zu sich selbst. Er stand da und starrte zu der Stelle, wo noch vor wenigen Sekunden Frau Müller gestanden und sich in Luft aufgelöst hatte.
»Na du«, hörte er plötzlich jemanden neben sich sagen.
Moritz blickte langsam auf und sah einen Mann neben sich.
»Wie, was?« Moritz erkannte nun wieder Menschen auf der Straße.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ihn der Mann besorgt.
»Ja, ich bin in Ordnung«, versicherte Moritz. Er sah sich um. Eben war die Straße noch menschenleer und im nächsten Moment schien das alltägliche Treiben zu ihr zurückgekehrt zu sein. Auch Autos und die Straßenbahn bogen jetzt in die Straße ein, um ihre Fahrt fortzusetzen.
Es war so seltsam, dachte Moritz. Niemand würde ihm jemals glauben wollen, was er an diesem Tag erlebt hatte. Aber es war wirklich passiert. Einfach unglaublich. Mit einem Kopf voller wirrer Gedanken verließ er schließlich die Straße und ging zurück, um den Einkauf zu erledigen. Was war es noch, was er außer den Eiern mitbringen sollte? Moritz versuchte sich zu erinnern, konnte es aber in seinen Gedanken nicht finden. Die klammerten sich an die Frau. Wohin war sie verschwunden? Die Vorstellung, die sie ihm gab, war wirklich beeindruckend. Er war sich sicher, dass sie wieder auftauchen würde. Und dann dieser Ring. Wo hatte sie nur einen solch kostbaren Schmuck her? Eine Erbschaft vielleicht? Sie hatte ja keinen Mann. Möglich, dass sie mal einen besaß und von dem könnte sie ihn geerbt haben, vermutete Moritz. Er dachte an den Kristall, den er bisher noch nie bei einem Ring gesehen hatte. Dabei schaute er ab und zu den Fernsehsender, wo sie solcherlei Sachen und anderen Schmuck verkauften. Einmal wollte Moritz auch anrufen und für seine Mutter – das konnte er vergessen – viel zu teuer.
Inzwischen war er am Supermarkt angekommen und überlegte noch immer.
»Denk an die Spaghetti und den Ketchup, Herbert«, hörte Moritz eine Frau zu einem Mann rufen, während sie in die andere Richtung lief, um leere Flaschen wegzuschaffen.
Sofort arbeitete es in Moritz. Nudeln, Ketchup? Das war es, schien er sich zu erinnern. Bei seinem Sprung die letzten Stufen hinunter, hatte ihn seine Mutter noch darum gebeten.
»Also Eier, Nudeln und Ketchup«, zählte Moritz ein letztes Mal auf.
Auf dem Weg nach Hause überkamen ihm wieder die Gedanken an den Ring.
Sich allerlei Varianten ausdenkend, wie sie dazu gekommen sein könnte, betrat er schließlich das Haus. Verträumt lief er die ersten Stufen nach oben und blieb in der zweiten Etage verdutzt stehen. Die Flügeltür der Wohnung, in der Frau Müller wohnte, stand einen Spalt weit offen. Moritz riskierte einen Blick hinein. Seine Augen weiteten sich, wie er sah, dass die Wohnung völlig leer war. Alles ausgeräumt und sauber gefegt, stellte er fest. Wie war das denn möglich, so schnell, dachte Moritz. Keine Stunde war er weg und sie, diese merkwürdige Frau Müller, war in dieser Zeit auch nicht zu Hause. Vorsichtig betrat er die Wohnung, stellte den Beutel mit dem Einkauf gegen die Innenseite der Tür und wollte sich das hier aus der Nähe anschauen. Sein Eindruck, dass alles ausgeräumt und sauber war, bestätigte sich. Nicht ein winziges Staubkorn schien zurückgelassen worden zu sein. Immer tiefer drang Moritz in die Wohnung ein. Im Hauptzimmer, das zur Straße zeigte, blieb er stehen. An der weißen tapetenlosen Wand zu seiner linken hallten plötzlich Laute wider, die er als Stimmen deutete. Er wandte sich nach ihnen um, konnte aber keinen erkennen. Beinahe zeitgleich erklang eine Melodie in seinen Ohren. Moritz biss sich auf die Unterlippe. Eine einzige Frage hämmerte in seinem Kopf. Was geschieht hier? Auch wenn er sich nicht wohlfühlte, in diesem leblosen, kargen Raum, mit den Geräuschen, die ihn beinahe an Gespenster glauben ließen, blieb er stehen. Mit einem Mal fing der Raum an, sich zu drehen. Schneller immer schneller. Moritz fühlte sich wie in der Mitte eines Karussells, sein Herz raste, seine Augen flimmerten. Nach einigen wilden Runden hieb die Wohnungstür mit einem dumpfen Knall zu und der Raum hörte schlagartig auf sich zu drehen. Moritz zuckte kurz erschrocken zusammen, denn es passierten nicht nur innerhalb der vier Wände merkwürdige Dinge, auch draußen geschah etwas, was höchst eigenartig war. Der Tag hatte sich in tief schwarze Nacht verwandelt. Moritz öffnete eines der Fenster und sah verwundert hinaus. Damit waren die Merkwürdigkeiten noch immer nicht vorbei. Durch den Boden sickerten Dunstschwaden, die ihm schon bald bis zu den Knien reichten. Allerdings bekam er davon nichts mit. Staunend stand er am Fenster, als sich hinter seinem Rücken nun auch noch eine Säule aus dickem, grauem Rauch durch die Decke drückte. Mehr und mehr nahm der Rauch Gestalt an. Ein Frauenkörper formte sich daraus, sich auf einen Stock stützend und nun zu Boden gleitend. Langsam kam die Gestalt auf ihn zu, die in dem Dunst, der wie ein Teppich aus Watte das gesamte Zimmer einschloss, zu schweben schien. Aber noch immer hatte Moritz sie nicht bemerkt. Gebannt sah er weiter aus dem Fenster. Als die aus Rauch erschaffene Gestalt Moritz ganz nah war, verstummten die Stimmen und die Musik in seinen Ohren. Lauernd verharrte sie auf ihrer Position, als warte sie auf einen bestimmten Moment. Ihr Gesicht war alt, vom Leben tief gezeichnet, eines der runden Gläser ihrer Brille war zerschlagen. Mit feurigen Augen betrachtete sie Moritz. Da öffnete sie ihren Mund und begann etwas zu wispern, wobei ihr kalter Atem entwich. Sie breitete ihre Arme aus, sah nach oben und wurde größer und größer, bis sie mit ihrer gewaltigen Erscheinung das ganze Zimmer einnahm. Sie blickte auf Moritz herab, wiegte wie in Trance den Kopf hin und her. Dann auf einmal hielt sie inne, umklammerte ihren Stock und schlug ihn wie auf einen unsichtbaren Untergrund. Ein mächtiges Grollen ertönte daraufhin, was jetzt auch Moritz vernahm. Er wandte sich um und …
»Dann soll es nun soweit sein«, rief die riesenhafte, weibliche Gestalt mit widerhallendem Echo. »Lass mich mit Hilfe dieses Jungen zurückkehren und meine Aufgabe zu Ende bringen.«
Kaum hatte sie diese Worte fertig gesprochen, stieß sie den völlig überraschten Moritz so heftig mit ihrem Stock, dass er nach hinten aus dem Fenster fiel. Und obwohl er aus der zweiten Etage fiel, war es, als würde Moritz in einen schier endlosen, lichtlosen Abgrund stürzen, der ihm jede Besinnung raubte.