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4. Die Schildigel

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Je näher er kam, umso höher ragte der Wald in den Himmel. Die knorrigen Baumriesen, die sich nahezu gradlinig in die Höhe streckten, saßen auf Wurzeln, die wie die Tentakel eines Kraken aus der Erde ragten, und sich an anderer Stelle wieder tief in den Boden bohrten.

An den kräftigen ausladenden Ästen hingen Blätter und Kürbisse.

Moritz überlegte – das, was er da vor sich sah, kam ihm irgendwie bekannt vor. Bloß woher?

Mühsam versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Kannte er das aus einem Traum, den er vergessen hatte, und der sich ihm wieder ins Gedächtnis rief? Da fiel es ihm ein, dass es nichts mit einem Traum zu tun hatte. Es war diese Frau Müller gewesen, als sie ihm zu Hause die Hand auf den Kopf legte.

Und da meldete sie sich bei ihm.

»Moritz?«

»Ja?«

»Sobald du den Wald betrittst, wird es mir nicht mehr möglich sein, mit dir zu sprechen. Von da an bist du auf dich allein gestellt. Den Weg zur Burg hast du in deinem Kopf, falls du das noch nicht gemerkt hast. Und wenn du mit Anika zurückkommst, dann geht ihr zu dem großen Stein auf der Wiese und wir können wieder in Kontakt treten. Und jetzt spute dich, erfülle den Auftrag!«

»Nur nicht hetzen, ich gehe gleich los«, sagte Moritz mit einem gewissen Unmut in der Stimme. »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, raunte er, betrat den Wald und … »Igitt, was ist das denn?« Angewidert zog er seinen Fuß aus einem Matschloch und wagte sich vorsichtig weiter in den Wald hinein.

Es roch nach Erde, Schlamm und feuchten Wurzeln.

Nur Dämmerlicht drang in die bizarre Baumlandschaft und ließ den Wald unheimlich erscheinen.

Dicht über dem Boden waberten Nebelschwaden, unter denen eine mattschwarze Brühe blubberte. Sumpf. Moritz runzelte die Stirn und sah sich um. Nirgends konnte er auf dem Waldboden Laub oder Reste von Früchten entdecken. Was war das bloß für ein eigenartiger Ort?

Nachdem sich Moritz von den ersten Eindrücken gelöst hatte, lief er zu dem Baum, der ihm am nächsten stand und versuchte einen Plan zu fassen, wie er den seltsamen Wald am schnellsten hinter sich lassen könnte.

Einfach losrennen, dachte er. Im nächsten Augenblick stieß er sich von dem Baum ab, peilte einen zweiten weiter vorn an und lief auf ihn zu. Eine Wurzel wuchs quer über seinen Weg und er musste sich drunter hindurchzwängen.

Als Moritz den Baum erreichte, hielt er inne, um kurz zu verschnaufen. Wie weit würde es noch sein, bis er … Da bemerkte er, wie sich etwas rührte, blickte zur Seite und … die Wurzel bewegte sich!

Moritz wollte gar nicht wissen, warum sich die Wurzel bewegte und rannte schnell weiter. Von Baum zu Baum hetzte er durch den Wald und der Matsch des Waldbodens haftete an seinen Schuhen, die immer schwerer wurden.

Er lief und lief und der Wald wurde immer unruhiger. Moritz aber achtete nicht darauf, rannte, kletterte was er konnte, als er mit einem Mal ausrutschte und mit beiden Beinen in ein Sumpfloch einsackte. Ein kurzer, greller Schrei hallte daraufhin durch den Wald. Panisch suchte Moritz nach etwas, um sich festzuhalten und fand eine verkrümmte Wurzel, die neben dem Loch aus dem Waldboden ragte. Er griff nach ihr, biss die Zähne zusammen und zog sich Stück für Stück aus dem Sumpfloch heraus. Nun entdeckte er, dass sogar einzelne Bäume anfingen zu schwanken.

Moritz ging an einem noch ruhig stehenden Baum in Deckung.

Ganz in seiner Nähe stemmte sich einer der Wurzelstränge aus dem Boden, gab dabei ein Knarren und Knacken von sich, dass es durch den Wald hallte und sich ein langer Riss im Erdreich auftat. Mit einem letzten Ruck hatte sich der Strang herausgerissen, schnellte wie eine Peitsche durch die Luft und schlug mit einer enormen Wucht auf, die alles ringsherum zum Beben brachte. Erde flog wie bei einer Explosion durch die Luft und spritzte mitten in Moritz’ Gesicht. Angewidert wischte er sich mit dem Arm über die Augen und blickte nach oben. Der Baum über ihm fing nun auch an zu schwanken und schüttelte ein paar Blätter aus der Krone. Grüne, ovale Blätter, die an ihrer Unterseite silbern glänzende Stacheln besaßen. Moritz schätzte sie auf eine Länge von gut zwanzig Zentimetern.

Nachdem die Stachelblätter gelandet waren, steckten sie pfeilgerade im Boden. Und jetzt sah Moritz auch, warum es überall so sauber war. Denn die Blätter verschwanden in der Erde und erzeugten dabei ein Knistern, wie wenn man ein trockenes Blatt in der Hand zusammendrückt.

Moritz juckte die Nase und er entschied weiterzugehen, als sich in das Knacken der Wurzeln ein Grollen mischte. Es drang durch das Unterholz, kam von der Seite, näherte sich, flog vorbei, und ließ Wortfetzen zurück. Moritz blickte in die Luft, als ob er sie dort lesen könnte: gehörst … nicht hin! Verlass … Wald!

»Das will ich ja!«, rief er beinahe verzweifelt in die Luft hinein. »Nur dazu musst du mich gehen lassen.«

Der Wald antwortete mit einem Pfeifen. Moritz schaute nach oben und drückte sich ängstlich noch enger an den Baum. Über ihm war ein Kürbis im Anflug. Mit einem patschenden Geräusch landete er und platzte auf. Kaum eine Sekunde später quoll ein eklig fauliger Gestank aus seinen Ritzen und hüllte ihn damit ein. Moritz wurde übel. Er wollte flüchten, irgendwohin, aber nirgends war er hier sicher.

Inzwischen hatte es massenweise Stachelblätter zu regnen begonnen. Auch die Kürbisse fielen jetzt in immer kürzeren Abständen. Der Wald spielte total verrückt, was für Moritz nur eines bedeuten konnte: Raus hier!

Ohne sich eine genaue Route auszudenken, lief er los. Das T-Shirt, die Hose und die Schuhe, an denen immer mehr der Schlamm klebte, ließen ihn zwar spürbar langsamer vorwärts kommen aber er lief und sehnte sich danach, bald das Ende des Waldes zu erreichen. Dabei achtete er auf Blätter und Kürbisse, die auf dem Boden ein heilloses Durcheinander anrichteten, der sie gar nicht so schnell verschwinden lassen konnte, wie sie auf ihn landeten. Zusehends verwandelte sich der Boden in eine rötlich-grüne Masse.

Während Moritz über eine weitere Wurzel kletterte, hielt er plötzlich inne. In einiger Entfernung erkannte er ein Licht, das dicht neben einem Baum auftauchte. Was war das für ein Licht? Zu wem gehörte es? War er hier nicht allein? Er blieb auf der Wurzel und wollte sich des Lichts vollkommen sicher sein, als dicht neben ihm ein Kürbis auf den Boden klatschte. Moritz verlor den Halt, stürzte von dem Strang und geriet in ein weiteres Sumpfloch, das noch viel größer war als das vorherige. Er suchte wieder nach einer Wurzel, an der er sich festklammern konnte, doch seine Hände fanden nichts als haltlosen Matsch. Diesmal schien er dem Sumpf nicht entkommen zu können.

In Moritz stieg Panik auf. Vor Anstrengung stöhnte er. Da kehrte in den Wald wieder Ruhe ein. Die Wurzeln vergruben sich in der Erde, die Bäume hörten zu Schwanken auf. Hier und da fielen noch Früchte und Blätter zu Boden, aber auch das ließ bald nach.

Moritz in dem Loch sank unaufhörlich tiefer ein. Kläglich begann er nach Hilfe zu rufen doch es kam niemand. Von nun an konnte er an nichts mehr denken, er konnte nur noch eines tun, die Luft anhalten, ehe er vollständig im Sumpf verschwinden würde. Im allerletzten Moment, sein Kopf war schon zur Hälfte eingetaucht, berührten seine Hände etwas, was sie nicht mehr loslassen wollten.

Gedanken schossen ihm wie Blitze durch den Kopf. War das seine Rettung? Hatte man ihn entdeckt und kam ihm zur Hilfe geeilt? Hatte es vielleicht mit dem Licht zu tun, das er gesehen hatte?

Mit einem energischen ›Zieht‹, gelangte Moritz ruckweise aus dem Sumpfloch und blieb schließlich gerettet völlig erschöpft und zitternd liegen.

Erst nachdem er wieder Kräfte verspürte, setzte er sich ganz langsam auf und wischte mit dem Handrücken die Augen frei. Mit verschwommenem Blick sah er sich suchend um. Ein Licht konnte er nicht mehr entdecken, dafür etwa ein dutzend Augenpaare, die ihn neugierig anstarrten. Kleine schwarze Kulleraugen, die zu ebenso kleinen Wesen gehörten, die kaum mehr als einen Schritt Körpergröße maßen. Irgendwie erinnerten sie Moritz an Igel. Und wie sich dann eines nach einem anderen umdrehte, fiel ihm auf, dass ihnen alle Stacheln fehlten. Über dem Rücken trugen sie einen Panzer, wie ihn sonst nur Schildkröten besitzen, wenn auch nicht so rund. Sie standen auf zwei Beinen, hatten eine kurze blattgrüne Hose an und auf dem Kopf trugen einige von ihnen einen kleinen Hut, der aus Kürbisschalen gefertigt war. In den Händen hielten sie einen langen Wurzelstrang. Sie hatten ihn befreit, wurde Moritz klar. Aber anstatt sich bei ihnen zu bedanken, hatte er nur Fragen für sie übrig.

»Wer seid ihr? Und wo ist das Licht, das ich gesehen habe?«

Ein aufgeregtes Raunen ging daraufhin durch die Reihen der Wesen, aber keines wollte Moritz direkt antworten.

Es dauerte eine Weile, bis eines von ihnen beschloss das Reden zu übernehmen. Um den Körper herum trug das männliche und zugleich größte Wesen unter ihnen ein Geflecht aus dünnen Wurzelsträngen und ging jetzt langsam auf Moritz zu.

»Du hast ein Licht gesehen?«, erwiderte das Wesen in einer Art Singsang, der zu Anfang leise dann laut und zum Ende wieder leise wurde.

Auch wenn sich Moritz darüber wunderte, warum es ganz offenbar seine Sprache verstand und selbst sprechen konnte, wunderte er sich noch mehr darüber, wie es sprach und wie sich sein Körper dabei veränderte. Denn während er redete oder eben sang, leuchtete er vom Bauch bis hinauf zum Hals schwach orangefarben. Nur hatte das mit dem Licht, was er glaubte gesehen zu haben, so ganz und gar nichts zu tun.

Moritz wusste, dass ihn seine Verwunderung nicht weiter brachte und so nickte er ungeduldig auf die Antwort wartend.

Wider Erwarten schüttelte das Wesen den Kopf. »Es gibt hier kein Licht. Was du gesehen hast, muss eine Einbildung gewesen sein, die dir in deiner Not erschienen ist.«

Moritz runzelte die Stirn. Das Licht – eine Einbildung? Er zuckte die Schultern und dachte über die Aussage des Großen nach. Vielleicht hatte er ja recht, immerhin schien das ihr Wald zu sein und somit kannten sie sich weit besser aus als er. Vorerst verwarf er die Gedanken an das Licht.

Aber was war mit seiner ersten Frage? Solche Mischwesen aus Igel und Schildkröte hatte er bisher noch nie gesehen. So wiederholte er seine erste Frage: »Wer seid ihr?«

»Bevor wir dir darauf antworten, wüssten wir gern, was ein Mensch wie du hier zu suchen hat?«, entgegnete der Große und sein Körper leuchtete erneut wie eine batterieschwache Taschenlampe.

»Ich muss so schnell wie möglich zur Burg Drachenzahn«, keuchte Moritz noch hörbar geschwächt. Dann erzählte er in knappen Sätzen, dass Kriemhild ihn hierher geschickt hatte.

»Kriemhild?«, ging der Große erstaunt dazwischen. »Etwa die Kriemhild von den Kupferhöhlen?«

Moritz nickte und erneut ging ein Raunen durch die Reihen der kleinen Wesen.

»Wenn dem so ist«, setzte der Große mit einer Spur voller Verachtung in der Stimme an, »hätten wir dich der Macht des Waldes überlassen sollen. Niemand der vernünftig genug ist, lässt sich mit dieser Hexe ein. Wer mit ihr Geschäfte macht, ist nicht besser wie sie selbst und damit unser Feind.«

»Ich habe keine andere Wahl. Ich muss dieses Mädchen, Anika, finden«, bemühte sich Moritz zu erklären. »Ohne sie kann ich nicht in meine Welt zurück.«

»In was für eine Welt denn?«

»Ich würde es Euch gerne erklären wollen, aber ich glaube ihr werdet mich für verrückt halten. Ehrlich gesagt, es ist auch ziemlich verrückt. Jedenfalls bin ich jetzt hier und habe drei Tage Zeit, um sie zu finden.«

»Weißt du denn überhaupt, wo diese Burg steht?«

»Ich glaube schon«, sagte Moritz.

Der Große begann über irgendetwas nachzudenken, lächelte dann, als wäre er gerade von einem Geistesblitz getroffen. Er sagte feierlich: »Heute ist dein und unser Glückstag.«

Fragend sah Moritz ihn an.

»Wir haben dich aus dem Sumpfloch gerettet und nun kannst du uns einen Gefallen tun.«

Verwundert legte Moritz den Kopf schief. »Was für einen Gefallen denn?«

»Sei unser Gast. Du hast uns eine gute Ernte beschert und wir möchten dir mit einem Fest danken. Du kannst dich bei uns stärken und anschließend weiterziehen.«

»Aber ich muss sofort zu dieser Burg«, drängte Moritz.

Eindringlich und mit ernstem Blick sah der Große ihn an. Er hatte nicht erwartet, dass der Junge sich stur zeigen würde.

»Du wirst meine Einladung doch nicht etwa ausschlagen wollen?«

Moritz schürzte die Lippen. Er versuchte abzuwägen. Konnte er es sich leisten, die Einladung anzunehmen? Wie weit die Burg entfernt war, wusste er nicht. Er hatte allerhöchstens drei Tage. Und wie er in der Zeit an Essen kommen würde, wusste er auch nicht. Da kam ihm das Angebot durchaus gelegen. Also nahm Moritz an.

Moritz und das geheimnisvolle Topasia

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